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John Wesley und die Methodisten – Teil 10: Aussergewöhnliche Manifestationen

3. November 2013

Wesley berichtet mehrmals in seinem Tagebuch über aussergewöhnliche Manifestationen, die während seines Dienstes geschahen, oder im Leben von Menschen, die sich durch seinen Dienst bekehrt hatten. Dies ist ein Beispiel:

„Ich sprach lange Zeit mit Anna Thorn und zwei weiteren, die mehrmals in Trance gewesen waren. Alle stimmten darin überein, dass: 1) wenn sie ‚weg waren‘, wie sie es nannten, war es immer in Momenten, wo sie am erfülltesten waren mit der Liebe zu Gott; 2) das kam in einem Moment über sie, ohne Vorwarnung, und nahm alle ihre Sinne und Kräfte in Anspruch; 3) im allgemeinen – mit ein paar Ausnahmen – waren sie von diesem Moment an in einer anderen Welt und wussten nichts mehr davon, was die Menschen um sie herum taten oder sagten.
(…) Herr B. kam auf mich zu und sagte, die fünfzehnjährige Alice Miller sei in Trance gefallen. Ich ging sofort hinunter und fand sie auf einem Schemel sitzend, an die Wand angelehnt, mit offenen Augen nach oben schauend. Ich machte eine Bewegung, als ob ich sie schlagen wollte, aber sie bewegte sich überhaupt nicht. Ihr Gesicht drückte eine unbeschreibliche Mischung aus Ehrfurcht und Liebe aus, während ein paar Tränen über ihre Wangen rollten. (…) Nach einer halben Stunde sah ich, dass sich ihr Gesichtsausdruck in Furcht, Mitleid und Verzweiflung wandelte; dann brach sie in ein Meer von Tränen aus und rief aus: ‚Lieber Herr, sie werden verdammt werden! Sie alle werden verdammt werden!‘ Aber fünf Minuten später kam ihr Lächeln zurück, und da war reine Liebe und Freude in ihrem Gesicht. (…) Später sagte sie: ‚Rufe laut! Halte nichts zurück!‘ Dann sagte sie: ‚Gebt Gott die Ehre.‘ – Um sieben Uhr kehrten ihre Sinne zurück. Ich fragte sie: ‚Wo warst du?‘ – ‚Ich war bei meinem Erlöser.‘ – ‚Im Himmel oder auf der Erde?‘ – ‚Ich weiss es nicht; aber ich war in der Herrlichkeit.‘ – ‚Und warum hast du geweint?‘ – ‚Nicht um mich, aber um die Welt; denn ich sah, dass sie sich am Rand der Hölle befinden.‘ – ‚Und zu wem sagtest du, sie sollten Gott die Ehre geben?‘ – ‚Zu den Predigern, dass sie laut zur Welt rufen sollen; denn wenn sie es nicht tun, werden sie stolz werden, und dann wird Gott sie verlassen, und sie werden ihre eigenen Seelen verlieren.'“

Wesley gibt auch das folgende Zeugnis von einem gewissen John Pearce wieder:

„Während er in Helstone wohnte, rief während einer Versammlung seiner (methodistischen) Klasse eine Frau in einem ungewöhnlichen Tonfall: ‚Lasst uns nicht hier bleiben; gehen wir nach …‘ (ein Haus in einem anderen Stadtteil). Alle standen sofort auf und gingen, obwohl niemand von ihnen – nicht einmal die Frau selber – wusste warum. Kurz nachdem sie gegangen waren, fiel ein Funke in ein Pulverfass, das sich in einem angrenzenden Raum befand, und das Haus explodierte. So beschützte Gott die auf ihn vertrauten …“

Wesley berichtet auch von verschiedenen Dämonenaustreibungen.

Anscheinend gab es auch viel Kritik an solchen Manifestationen. Als Antwort verwies Wesley auf die geistliche Frucht:

„Während jener Zeit wurde ich fast ständig gefragt (…): ‚Wie können diese Dinge sein?‘ Und ich erhielt unzählige Warnungen (normalerweise aufgrund schwerer Missverständnisse), den Visionen und Träumen keine Beachtung zu schenken, und mir auch nicht einzubilden, die Menschen erhielten Sündenvergebung aufgrung ihres Schreiens oder ihrer Tränen oder ihrer äusserlichen Zeugnisse. Meine Antwort an jemanden, der mir wiederholt deswegen schrieb, war zusammengefasst wie folgt:
Das Problem zwischen uns reduziert sich hauptsächlich auf eine Frage der Tatsachen. Sie leugnen, dass Gott heute solche Wirkungen schafft; oder zumindest, dass er sie auf diese Weise schafft. Ich sage, doch, denn ich habe diese Dinge mit meinen eigenen Ohren gehört und mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich habe viele Menschen gesehen (so weit man das sehen kann), die in einem Moment von einem ängstlichen, erschreckten und verzweifelten Geist umgewandelt wurden zum Geist der Liebe, der Freude und des Friedens; und von einem sündigen Verlangen, das sie beherrschte, zu einem reinen Verlangen, den Willen Gottes zu tun. Das sind Tatsachen, wovon ich beinahe täglich Zeuge bin.
Was die Visionen und Träume betrifft, habe ich dies zu sagen: Ich kenne mehrere Personen, bei denen diese grosse Veränderung in einem Traum geschah, oder während eines starken Eindrucks vor ihrem geistigen Auge über Christus am Kreuz oder in der Herrlichkeit. Das ist die Tatsache; möge es jeder beurteilen wie er will. Und ich urteile nicht nur nach den Tränen, oder aufgrund einer Trance oder Schreiens (wie Sie anscheinend annehmen); sondern nach der Veränderung ihres ganzen Lebens: vorher böse auf vielerlei Weise; nachher heilig, gerecht und gut.
Ich will Ihnen den zeigen, der zuvor ein Löwe war und jetzt ein Lamm ist; den, der ein Trinker war und jetzt vorbildlich nüchtern ist; den, der ein Unzüchtiger war und jetzt sogar das vom Fleisch befleckte Kleid verabscheut. Das sind meine lebendigen Argumente für meine Versicherung: dass Gott heute genauso wie in den alten Zeiten uns und unseren Kindern die Vergebung der Sünden und die Gabe des Heiligen Geistes gibt; und das in einem Augenblick, soweit ich weiss; und oft in Träumen oder Visionen von Gott. Wenn es nicht so ist, werde ich vor Gott als falscher Zeuge erfunden werden.“

Wir haben in einer früheren Folge gesehen, wie Wesley einige tiefsitzende Vorurteile überwinden musste, als Whitefield ihm zeigte, wie er unter freiem Himmel predigte. Jetzt, in dieser Sache der aussergewöhnlichen Manifestationen, scheint Whitefield derjenige gewesen zu sein, der mit Vorurteilen zu kämpfen hatte. Wesley berichtet:

„Ich hatte eine Gelegenheit, mit ihm (Whitefield) über diese äusseren Zeichen zu sprechen, die oft das innere Werk Gottes begleiteten. Ich fand, dass seine Einwände hauptsächlich auf schlimmen Verdrehungen der Tatsachen beruhten. Aber am nächsten Tag konnte er sich eines Besseren vergewissern; denn kaum begann ich (in der Predigt) alle Sünder einzuladen, auf Christus zu vertrauen, als vier Personen in seiner Nähe fast gleichzeitig ohnmächtig wurden. Einer von ihnen blieb bewusst- und bewegungslos liegen. Ein anderer zitterte überaus heftig. Der dritte hatte Krämpfe an seinem ganzen Körper, aber er gab keinen Laut von sich ausser einigen Seufzern. Der vierte, ebenfalls unter Krämpfen, schrie zu Gott mit lauter Stimme und unter Tränen. Von diesem Moment an vertraue ich, dass wir alle Gott erlauben werden, sein eigenes Werk in der Art zu tun, die ihm gefällt.“

Dennoch nahm Wesley diese Manifestationen nicht besonders wichtig. Er war sich bewusst, dass nicht alles Aussergewöhnliche von Gott ist, und dass Unterscheidungsvermögen nötig war. Bei einer anderen Gelegenheit schreibt er:

„Am Nachmittag war Gott auf besondere Weise unter uns gegenwärtig (…) Aber ich beobachtete einen bemerkenswerten Unterschied seit dem letzten Mal, als ich hier (in Everton) war. Jetzt war niemand in Trance, niemand schrie, niemand fiel zu Boden oder hatte Krämpfe; nur einige zitterten stark, man hörte ein leises Murmeln, und viele wurden mit einer Fülle des Friedens erfrischt.
Die Gefahr bestand darin, die aussergewöhnlichen Umstände zu wichtig zu nehmen, wie z.B. Schreien, Krämpfe, Visionen und Trancen; als ob diese wesentlich wären für das innere Werk (…) Eine andere Gefahr besteht darin, all dieses zu verurteilen und zu denken, nichts davon sei von Gott. Aber die Wahrheit ist:
1) Gott überführte viele augenblicklich und heftig davon, dass sie verlorene Sünder waren; und eine natürliche Folge davon waren die plötzlichen Schreie und die Krämpfe.
2) Um die Gläubigen zu stärken und zu ermutigen, und um sein Werk offensichtlicher zu machen, begnadete er mehrere von ihnen mit göttlichen Träumen, und andere mit Trancen und Visionen.
3) Bei einigen dieser Gelegenheiten mischte sich nach einiger Zeit die Natur unter die Gnade.
4) Ebenso ahmte satan dieses Werk Gottes nach, um das ganze Werk in Verruf zu bringen; dennoch ist es nicht weise, diesen Aspekt zu verwerfen, ebensowenig wie es weise wäre, das ganze Werk zu verwerfen. Anfangs war zweifellos alles von Gott. Jetzt ist es noch teilweise so, und er wird uns befähigen zu unterscheiden, inwieweit in jedem Fall das Werk rein ist, und wo es vermischt oder degeneriert ist.“

In der Gegenwart herrscht eine grosse Auseinandersetzung über solche und ähnliche Manifestationen. Einerseits gibt es eine „Sucht“ nach immer aussergewöhnlicheren und seltsameren Manifestationen. Und andererseits gibt es Verdächtigungen und Ablehnung gegen alles, was ein wenig über das Gewöhnliche hinausgeht. Wesleys Anmerkungen können uns helfen, in dieser Sache ein wenig klarer zu sehen:

Erstens hat Gott oft durch Träume, Visionen, und andere „aussergewöhnliche“ Mittel gewirkt. Die Schrift bezeugt es, die Erfahrungen Wesleys bestätigen es, und nichts spricht dagegen, dass Gott in unserer Zeit ähnliche Dinge täte. Gewisse aussergewöhnliche Manifestationen – aber nicht alle – werden vollauf von der Bibel bestätigt. Ausser Träumen und Visionen erwähnt die Bibel auch verschiedene übernatürliche Gaben des Heiligen Geistes.

Zweitens, was das Umfallen, Zittern, Krämpfe, usw. betrifft, so bezeugt Wesley, dass diese Dinge geschahen; aber er sagte nie, diese Dinge seien „geistlich“. Im Gegenteil, er sagt, es handle sich um „natürliche Folgen“ einer heftigen Überführung von der Sünde. In anderen Worten, es handelte sich um Reaktionen der menschlichen Natur angesichts der Überführung durch den Heiligen Geist. Und wenn diese Sünder zum Frieden mit Gott gelangten, dann verschwand diese Art von Manifestationen, und an ihrer Stelle erlebten sie den Frieden und die Freude, erlöst zu sein.
Das ist ein bemerkenswerter Unterschied zu gegenwärtigen Bewegungen, wo Menschen ebenfalls massenweise umfallen. In diesen gegenwärtigen Bewegungen wird das Umfallen, Zittern, usw. als ein „geistlicher Segen“ angesehen. Dafür gibt es keine biblische Grundlage, und die Erfahrungen Wesleys widersprechen dieser Anschauung. Wenn Zuhörer Wesleys umfielen, sagten sie nicht, sie hätten „einen besonderen Segen Gottes“ empfangen. Im Gegenteil, sie waren erschreckt über ihre eigene Sündhaftigkeit, der sie sich plötzlich bewusst wurden; und über die Heiligkeit und Reinheit Gottes. Und sie wussten, dass sie von neuem geboren werden mussten, um vor Gott bestehen zu können. Die Erfahrungen Wesleys können also nicht als Präzedenzfall für das heutige „Umfallen im Geist“ herangezogen werden; im Gegenteil.
Ein weiteres Zitat von Wesley möge dies unterstreichen:

„Ich predigte über die Gerechtigkeit des Gesetzes und die Gerechtigkeit des Glaubens. Während ich sprach, fielen einige wie tot um, und unter den übrigen hörte man ein solches Schreien der Sünder, die um die Gerechtigkeit des Glaubens flehten, dass es meine Stimme beinahe übertönte. Aber viele von diesen erhoben bald ihre Häupter voll Freude und brachen in Lobpreis aus, weil sie die Sicherheit empfangen hatten, dass jetzt der Wunsch ihrer Seele, die Vergebung ihrer Sünden, erfüllt worden war.“

Wenn noch seltsamere und unbiblische Dinge geschahen – wie z.B. unkontrollierbares Lachen, tierisches Verhalten, usw. -, dann zögerte Wesley nicht, sie als Fälschungen des Teufels anzuprangern.

Drittens ist das Vorkommen von „seltsamen“ Manifestationen kein Grund, eine ganze Bewegung oder Erweckung zu verurteilen. Wesley sagt, dass in seiner eigenen Bewegung auch solche teuflischen „Fälschungen“ aufgetreten seien; und er rief seine Mitarbeiter dazu auf, Unterscheidung zu üben. – Wenn nun eine Bewegung sich auf solche „seltsamen“, unbiblischen Manifestationen gründet und diese aktiv fördert, dann muss sie als fehlgeleitet eingestuft werden. Aber wo eine echte, geistlich gesunde Erweckung stattfindet, da sollte nicht die gesamte Bewegung verworfen werden, nur weil auch einige seltsame oder „falsche“ Manifestationen auftreten. Vielmehr sollten die Leiter einer solchen Bewegung Vorsichtsmassnahmen ergreifen, damit die Bewegung nicht von solchen Manifestationen dominiert wird.

(Fortsetzung folgt)

Interessante Parallelen zwischen der Geschichte Israels und der Kirchengeschichte – Teil 1

14. Januar 2012

Der folgende Artikel ist, wie ich zugebe, weitgehend spekulativ. Ich gehe von dem Grundgedanken aus, dass es gewisse „Muster“ des Handelns Gottes in der Geschichte gibt, die sich in ähnlicher Weise wiederholen. So spricht z.B. Jesus davon, dass die drei Tage und drei Nächte, die Jonas im Bauch des Fisches verbringen musste, eine Art Vorzeichen oder „Vor-Bild“ davon waren, dass er selber, Jesus, drei Tage und drei Nächte begraben sein müsse. (Matthäus 12,40-41.) Oder er verglich sich mit den Propheten Elias und Elisa, die beide mehrheitlich Nicht-Israeliten dienten und von ihrem eigenen Volk abgelehnt wurden, so wie auch Jesus selbst von seinem Volk abgelehnt wurde (Lukas 4,24-27). An anderer Stelle sagte er, Johannes der Täufer sei (in einem gewissen Sinn) der wiedergekommene Prophet Elias gewesen (Matthäus 17,11-13). Theologen würden sagen, Elias sei ein „Typus“ von Johannes bzw. von Jesus gewesen.
Diese „Typologie“ ist dabei nie eine völlig exakte Parallele und ist deshalb mit Vorsicht anzuwenden. Z.B. befand sich Jonas aufgrund seines Ungehorsams gegen Gott im Bauch des Fisches; Jesus dagegen musste gerade infolge seines äussersten Gehorsams sterben und begraben werden.

Da nun Jesus selber solche Parallelen zieht zwischen alttestamentlichen Ereignissen und gewissen Aspekten seines eigenen Lebens und Wirkens, ist die Frage naheliegend, ob es weitergehende Parallelen gibt zwischen der Geschichte des alttestamentlichen und des neutestamentlichen Gottesvolkes. Dass dies auf einer ganz grundsätzlichen, elementaren Ebene der Fall ist, bezeugt Paulus:

„Diese Dinge (er bezieht sich auf Vorkommnisse während der Wanderung Israels durch die Wüste) aber sind als Vorbilder für uns geschehen, damit wir uns nicht nach Bösem gelüsten lassen, wie es jene gelüstet hat. Werdet auch nicht Götzendiener gleich etlichen von ihnen (…) Lasst uns auch nicht Unzucht treiben, wie etliche von ihnen Unzucht trieben und an einem Tage 23’000 fielen. Lasst uns auch nicht Christus versuchen, wie etliche von ihnen ihn versuchten und von den Schlangen umgebracht wurden. Murrt auch nicht, wie etliche von ihnen murrten und vom Verderber umgebracht wurden. Dies aber widerfuhr jenen zum Exempel; geschrieben aber wurde es zur Warnung für uns, auf die das Ende der Welt gekommen ist.“ (1.Kor.10,6-11)

Ob nun aber solche Parallelen auf konkrete Ereignisse der Kirchengeschichte übertragen werden können, ist eine offene Frage, die in der Bibel nicht beantwortet wird. Einige Ausleger haben versucht, in den sieben Gemeinden von Offenbarung 2 und 3 sieben Etappen der Kirchengeschichte zu sehen – nicht mit vollem Erfolg, wie ich meine; dennoch ist es ein interessanter Ansatz.
Ich möchte hier einen anderen, aber in gewisser Weise ähnlichen Ansatz versuchen, indem ich der Frage nachgehe, ob vielleicht die Geschichte Israels in gewisser Weise die Geschichte des neutestamentlichen Gottesvolkes „typologisch“ vorzeichnet. Auch dieser Ansatz wird sicher – wie die erwähnte Auslegung von Offenbarung 2 und 3 – unvollständig und unbefriedigend bleiben. Es gibt aber einige wirklich auffallende Parallelen, die ich im folgenden beschreiben möchte.

Anfänge des Gottesvolkes

Man kann sich darüber streiten, ob der Anfang der Geschichte Israels als Volk bei Abraham oder bei Moses anzusetzen sei. Für die hier vorliegende Betrachtung erscheint es mir sinnvoller, bei Moses anzufangen, weil der Durchzug durch das Rote Meer in 1.Korinther 10,1-2 als „Typus“ der christlichen Taufe beschrieben wird, und mit einer Massentaufe fing auch das neutestamentliche Gottesvolk an (Apg.2,41). Den Zeitraum von Abraham bis Moses könnte man aus diesem Blickwinkel als (keineswegs unwichtige!) „Vorgeschichte“ auffassen, so wie auch das Erdenleben Jesu eine (keineswegs unwichtige) Vorgeschichte zur Kirchengeschichte war.
Vor dem Auszug aus Ägypten stand das Passahmahl. Dabei wurde ein Lamm geopfert, dessen Blut die Israeliten vor dem Todesengel beschützte. In ähnlicher Weise musste Jesus, das „Lamm Gottes“ (Joh.1,29) geopfert werden, damit wir durch sein Blut Vergebung unserer Sünden erhalten können.
Auch diese Parallele ist im Grunde nicht exakt: Das Alte Testament bringt das Passah nicht mit Sündenvergebung in Verbindung; dazu dient das Opfer am Versöhnungstag (3.Mose 16). Dennoch macht der Apostel (und Rabbiner) Paulus diesen Vergleich ausdrücklich: „…denn als unser Passahlamm ist Christus geopfert worden“ (1.Kor.5,7). Tatsächlich wurde Jesus zur Zeit des Passahfestes geopfert.

Exodus

Nach diesem Opfer also konnte der Auszug aus Ägypten stattfinden. Wir können das „Sklavenhaus Ägypten“ als typologisches „Vor-Bild“ der Versklavung unter die Sünde ansehen, aus der die Glaubenden durch das Opfer Jesu befreit werden. Unter dieser Perspektive ist folgende Stelle in der Offenbarung interessant:
„Und ihre Leichname (der zwei Propheten) werden auf der Gasse der grossen Stadt liegen, die bei geistlicher Deutung Sodom und Ägypten heisst, in der auch ihr Herr gekreuzigt worden ist.“ (Offb.11,8)
Wegen des Hinweises auf die Kreuzigung Jesu kann es sich bei der „grossen Stadt“ nur um Jerusalem handeln. Jerusalem, die heilige Stadt, ein „geistliches Ägypten“?? Tatsächlich begann die christliche Kirche in Jerusalem, und aus der Jerusalemer Gesellschaft mussten die ersten Christen ausziehen und herausgerettet werden, ganz ähnlich wie die Israeliten seinerzeit aus Ägypten ausziehen und herausgerettet werden mussten. So heisst es auch in Hebräer 13,12-14:
„Daher hat auch Jesus, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, ausserhalb des Tores gelitten. So lasst uns nun zu ihm vor das Lager hinausgehen und seine Schmach tragen! Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige.“
Es stellt sich hier die Frage, ob dann auch das neue, geistliche Jerusalem, d.h. die christliche Kirche, in der letzten Zeit wieder zu einem „geistlichen Ägypten“ werden wird, aus welchem die wahren Gläubigen anlässlich der Wiederkunft Jesu ausziehen und herausgerettet werden müssen? – Aber ich greife vor…

Gesetz und Geist

Die nächste wichtige Station in der Wanderung der Israeliten war der Berg Sinai, wo Moses die Zehn Gebote erhielt (und verschiedene andere Gebote Gottes). Offenbar war es wichtig, dass das Volk Israel möglichst bald nach seiner Befreiung eine klare Richtlinie dessen erhielt, was Gott von ihm erwartete. Dieses Gesetz Gottes war die Grundlage für alles spätere Handeln Gottes mit und an seinem Volk.
Da nun dieses Gesetz Gottes ein für allemal gegeben wurde, war es für das neutestamentliche Gottesvolk nicht nötig, nochmals ein Gesetz Gottes zu erhalten. (Ausser wir betrachten die Bergpredigt als solches; aber dabei handelt es sich im Grunde um eine Auslegung und Erläuterung des bereits gegebenen Gesetzes.) Nach einiger Betrachtung erscheint es mir angebracht zu sagen, dass im Neuen Testament die Ausgiessung des Heiligen Geistes den Platz einnimmt, der im Alten Testament der Gesetzgebung am Sinai zukommt. Zur Begründung stütze ich mich auf folgende Stellen, die diesen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Bund hervorheben:
– „Nein, das ist der Bund, den ich nach jenen Tagen mit dem Hause Israel schliessen will, spricht der Herr: Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und es ihnen ins Herz schreiben; ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Da wird keiner mehr den andern, keiner seinen Bruder belehren und sprechen: Erkennet den Herrn!, sondern sie werden mich alle erkennen, klein und gross, spricht der Herr…“ (Jeremias 31,33-34)
(Tatsächlich ist es die Aufgabe des Heiligen Geistes, das Gesetz Gottes „in unser Herz zu schreiben“ und uns die Dinge Gottes zu lehren.)
– „Wenn aber der Dienst des Todes, mit Buchstaben in Steine eingegraben, zu Herrlichkeit gelangt ist, sodass die Söhne Israels nicht in das Angesicht Moses schauen konnten wegen des herrlichen Glanzes seines Angesichts, der verging; wie sollte nicht der Dienst des Geistes noch mehr in Herrlichkeit sein?“ (2.Kor.3,7-8)
(Hier wird genau der erwähnte Unterschied hervorgehoben, dass der Alte Bund „Dienst des Buchstabens war“, der Neue Bund hingegen „Dienst des Geistes“.)

Das Haus Gottes

Eine weitere wichtige Station bestand im Bau der Stiftshütte als „Wohnung Gottes“. Die ganze Anordnung und Ausstattung der Stiftshütte ist sehr symbolträchtig. Für mein Thema hier ist mir als Grundgedanke wichtig: Gott möchte hier auf Erden eine „Wohnung“ haben, wo sich seine Gegenwart in besonderer Weise manifestieren kann. War das im Alten Testament ein materielles Gebäude, so ist es im Neuen Testament ein „geistliches Haus“ aus „lebendigen Steinen“: die Gemeinschaft der Gläubigen selber! (1.Petrus 2,4-10) – „Wisst ihr nicht, dass ihr der Tempel Gottes seid, und dass der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1.Kor.3,16)
Im Gegensatz zum Alten Testament haben wir im Neuen Testament keine ausdrückliche oder ausführliche „Bauanleitung“ zum Bau dieses geistlichen „Hauses Gottes“. Die Apostel müssen aber eine ziemlich klare Vorstellung davon gehabt haben, wie dieses „Gebäude“ – zumindest in den Grundzügen – aussehen sollte. Paulus schreibt nämlich kurz vor der soeben zitierten Stelle, und im selben Zusammenhang: „Nach der mir verliehenen Gnade Gottes habe ich als ein weiser Baumeister den Grund gelegt; ein anderer aber baut darauf weiter. Doch jeder sehe zu, wie er darauf weiterbaut.“ (1.Kor.3,10) – Wenn wir also das Werk und die Anweisungen der Apostel ansehen, wie sie im Neuen Testament überliefert sind, dann denke ich, sollten wir doch den grundsätzlichen „Bauplan“ des neutestamentlichen Hauses Gottes, der Gemeinde, einigermassen erkennen können.

(Fortsetzung folgt)