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Eine blosse Formsache

17. November 2013

„In dem Masse, wie sich das Christentum (im Römischen Reich) verselbständigte, stiess es auf zwei grosse Schwierigkeiten: es war nicht als gesetzmässige Religion anerkannt, … und seine Gläubigen weigerten sich, an der Verehrung des Kaisers teilzunehmen, eine blosse Formsache von eher bürgerlichem als religiösem Charakter; aber (die Christen) betrachteten dies als Götzendienst. Ihre Weigerung, die verfasste Ordnung anzuerkennen … löste mehrere Verfolgungen aus, eher gegen die christlichen Leiter als gegen die gewöhnlichen Gläubigen, angesichts der grossen religiösen Toleranz, die in Rom herrschte …“
(Aus einem neueren Geschichtsbuch.)

Die Personen, Orte und Begebenheiten der nachfolgenden Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Ereignissen der jüngeren Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft können jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Stolz kündigte Claudio seiner Gemeinde am Sonntag die Neuigkeit an:
„Die Regierung hat das Gesetz über religiöse Gleichberechtigung in Kraft gesetzt. Danke, dass ihr euch für dieses wichtige Anliegen eingesetzt und mitgebetet habt. Ab jetzt können wir als Religionsgemeinschaft staatlich anerkannt werden, mit denselben Vorrechten wie die Landeskirchen. Jetzt wird uns niemand mehr ‚Sekte‘ nennen dürfen, und wir erhalten dieselben steuerlichen Vorteile und Subventionen wie die Landeskirchen.“
– Was er ihnen nicht sagte: Dieses neue Gesetz verschaffte auch ihm selber verschiedene Vorrechte. Er würde auch persönlich steuerliche Vorteile erhalten, und würde in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu einem ermässigten Tarif fahren dürfen – ein wichtiger Punkt für jemanden, der so oft unterwegs war wie er.

Claudio bemühte sich daher, die Papiere für die Registrierung seiner Gemeinde so bald wie möglich in Ordnung zu bringen. Pünktlich fand er sich im Büro des Regionalintendenten für Religionssachen ein und legte die verlangten Dokumente vor, unter denen sich ein genauer Plan seiner Kirche befand, sowie eine Liste der Namen und Adressen aller Mitglieder, und verschiedene andere. Nach Bezahlung der Registrationsgebühr reichte ihm der Regionalintendent ein Formular:
„Dies ist Ihre Loyalitätserklärung dem Staat gegenüber. Eine blosse Formsache. Unterschreiben Sie hier auf der gestrichelten Linie.“
Claudio unterschrieb, nachdem er einige der kleingedruckten Artikel überflogen hatte. Später erinnerte er sich nur noch an zwei davon, die lauteten:
– „Der Religionsdiener verpflichtet sich zu voller Loyalität dem Staat gegenüber, und zur harmonischen Zusammenarbeit mit den Beamten des Religionsministeriums bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortungen.“
– „Der Religionsdiener verzichtet darauf, in die Funktionen staatlicher Stellen einzugreifen, und Stellungnahmen zu umstrittenen Themen der Staatspolitik abzugeben.“
Er dachte nicht weiter darüber nach. Es war ja eine blosse Formsache.
Der Sekretär sagte zu ihm: „Herzlichen Glückwunsch. Sie sind jetzt eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft. Nächste Woche können Sie Ihre Registrierungsurkunde abholen.“ Und er erinnerte ihn: „Vergessen Sie nicht, uns jährlich Ihre aktuelle Mitgliederliste zu bringen.“

So erfreuten sich Claudio und seine Gemeinde ihrer neuen Vorrechte. Am Jahresende erschien Claudio wieder auf dem Regionalamt für Religionssachen mit der aktualisierten Mitgliederliste. Der Sekretär überflog die Liste und fragte dann:
„Sagen Sie, welche dieser Leute sind die aktivsten? Die eifrigsten Beter? Welche haben das Zeug zum Evangelisieren?“
Claudio konnte nicht sogleich antworten. Einmal, weil er überrascht war darüber, dass dieser Staatsfunktionär ein solches Interesse am geistlichen Wohlergehen seiner Gemeinde zeigte. Und zweitens, weil das nicht gerade die Punkte waren, auf die er selber das Jahr über besonders geachtet hätte. Nach einigem Nachdenken wies er auf drei Namen auf der Liste: Gottfried E, Theophilus D. und Peter J.

Einige Monate später kam Theo D. besorgt und ratsuchend auf Claudio zu:
„Vor einigen Tagen erhielt ich Besuch von der Polizei. Irgendwoher hatten sie gehört, dass ich ab und zu einige Arbeitskollegen nach Hause einlade, um die Bibel zu lesen und zu beten. Der Beamte sagte mir, ich dürfe keine solchen ‚wilden‘ religiösen Versammlungen abhalten, da ich kein zugelassener Religionsdiener bin. Sag mir, was hat die Polizei damit zu tun? Und was könnte ich denn sonst tun, um meine Kollegen mit dem Evangelium zu erreichen?“
Claudio dachte eine Weile nach. Dann antwortete er mit dem besten Rat, der ihm einfiel: „Du weisst, dass wir der Obrigkeit untertan sein müssen, wie Paulus in Römer 13 sagt. Du hättest sowieso diese Versammlungen eingehender mit mir absprechen sollen. Ich empfehle dir, damit aufzuhören, und deine Kollegen stattdessen zu unserem Sonntagsgottesdienst zu bringen.“
„Aber sie fühlen sich nicht wohl in einer Kirche. Könntest du nicht zu mir nach Hause kommen, einmal in der Woche, und die Versammlungen leiten?“
„Es tut mir leid, aber meine Agenda ist schon übervoll. Überhaupt, wenn sie sich in einer Kirche nicht wohl fühlen, dann muss ich annehmen, dass es mit ihrem Interesse am Evangelium nicht weit her ist.“
„Aber Claudio, wenn du sie nur kennenlernen könntest … sie haben einen solchen Hunger nach dem Wort Gottes!“
Aber Claudio kannte seine bürgerlichen Pflichten. Und er kannte auch seine Agenda. Er konnte keine Unregelmässigkeiten zulassen.

Einige Zeit später begegnete Claudio seinem Amtskollegen Simon. Dieser sagte zu ihm: „Hast du schon gehört, dass die Kirchensteuer abgeschafft werden soll?“
„Wie gut! Endlich wird Schluss gemacht mit den ungerechten Vorrechten der Landeskirchen.“
„Ja, das ist wahr. Aber erinnerst du dich, dass wir unter dem Gesetz über religiöse Gleichberechtigung bereits dieselben Vorrechte haben wie die Landeskirchen?“
„Ach ja, das hatte ich vergessen. Aber jetzt werden die Landeskirchen ja sowieso keine Vorrechte mehr haben.“
„Das ist genau das Problem, das ich sehe.“
„Wie? Willst du sagen, dass …?“ – Claudio schwieg beim Gedanken daran, was dies möglicherweise für seine eigene Gemeinde bedeuten könnte.

An einem sonnigen Maitag erschien in allen grossen Tageszeitungen die folgende Nachricht:

„MUTIGE REGIERUNGSMASSNAHME GEGEN RELIGIÖSE PARALLELGESELLSCHAFTEN
Endlich hat es der Staat unternommen, in den chaotischen Zuständen der religiösen Organisationen Ordnung zu schaffen, in Übereinstimmung mit der Internationalen Konvention über Religionsfreiheit. Gemäss dem Regierungsdekret vom Montag werden alle Religionsdiener in die Kategorie von Staatsbeamten erhoben, und alle Liegenschaften der religiösen Organisationen werden in Staatseigentum übergehen. Das Religionsministerium wird Massnahmen ergreifen, damit sich keine religiöse Organisation der staatlichen Aufsicht und Ordnung entzieht in der möglichen Absicht, eine religiöse Parallelgesellschaft zu errichten.“

„Recht so“, dachte Claudio, „das wird jetzt zumindest den Machenschaften dieser Rebellen von der Freien Gemeinde ein Ende setzen.“ – Schon seit einiger Zeit verspürte Claudio eine gewisse Eifersucht gegen jene nichtregistrierte Gemeinde, die sich nur zweihundert Meter von seiner Kirche entfernt zu versammeln pflegte. Sie hatten vor wenigen Jahren als informelle Treffen in einem Privathaus begonnen; aber nach der Lautstärke zu schliessen und nach der Anzahl der Menschen, die ein und aus gingen, mussten sie bereits doppelt so viele Mitglieder haben wie Claudios Gemeinde. Und sie schienen nicht im Geringsten an den Vorrechten interessiert zu sein, die der Staat ihnen anbot gegen eine blosse Formsache.

Tatsächlich war zwei Wochen später während des Sonntagsgottesdienstes ein Aufruhr auf der Strasse zu hören, und sogar einige Schüsse fielen. Später erfuhren sie, dass die Polizei die Versammlung der Freien Gemeinde zerstreut und das Haus verschlossen hatte. Noch war nichts über den Verbleib ihrer Leiter bekannt. Claudio fühlte sich befriedigt, wenn auch ein wenig beunruhigt wegen der Schüsse. Aber er dachte: „Warum haben sie aber auch der Polizei Widerstand entgegengesetzt? Sie sollten doch wissen, dass sich ein Christ der staatlichen Autorität unterordnet.“

El selber erhielt jetzt ein festes Gehalt vom Staat. Freilich durfte er jetzt als Staatsangestellter keine Spenden oder persönlichen Geschenke von Gemeindegliedern mehr annehmen. Aber was machte das aus, wo doch der Staat seine finanzielle Situation sicherstellte?

Einige Zeit später stand Theos Frau weinend bei Claudio vor der Tür: „Mein Mann ist verschwunden. Vorgestern ging er zur Arbeit wie immer, und seither ist er nicht zurückgekommen, und niemand hat ihn gesehen.“
„Haben Sie die Polizei verständigt?“
„Ja, aber bis jetzt haben sie nichts herausgefunden. Lediglich ein Beamter hat angedeutet, Theo könnte eventuell in illegale Aktivitäten verwickelt sein. Ich kann mir bei ihm nichts Derartiges vorstellen, aber es beunruhigt mich …“
Die Tage vergingen ohne irgendwelche Nachricht von Theo. Das einzige, was Claudio herausfinden konnte, war, dass Theo seinen früheren Rat nicht befolgt hatte. Er hatte weiterhin Arbeitskollegen nach Hause eingeladen, und diese Zusammenkünfte hatten sogar noch an Teilnehmern und Häufigkeit zugenommen.

Eines schönen Sonntags hatte Claudio die folgende Ankündigung zu machen: „Nach dem neusten Regierungsdekret haben alle religiösen Veranstaltungen mit dem obligatorischen Gruss an den Staatspräsidenten zu beginnen und zu enden. Das ist eine rein bürgerliche Formsache, an der wir alle als gute Staatsbürger teilnehmen werden.“
Damit kniete Claudio vor der Fahne nieder, die den Versammlungssaal zierte, erhob seine Hände und rief aus: „Ehre unserem Präsidenten!“ – Die ganze Gemeinde kniete mit ihm nieder und wiederholte den Ruf: „Ehre unserem Präsidenten!“
– Um genau zu sein, nicht die ganze Gemeinde. Aus den Augenwinkeln konnte Claudio sehen, dass auf der rechten Seite etwa fünf Personen schweigend stehenblieben, unter ihnen Gottfried E. und Peter J. Natürlich würde er über sie Bericht erstatten müssen. Eine blosse Formsache.

Von da an begannen und endeten alle Sonntagsgottesdienste mit dieser Bürgerpflicht. Nur mit der unbedeutenden Änderung, dass nach einiger Zeit die Fahne durch ein Porträt des Präsidenten ersetzt wurde. Die wenigen Leute, die anfangs während dieses Aktes stehengeblieben waren, kamen nicht mehr zum Gottesdienst, und niemand fragte nach ihnen.

Eines Sonntags wurde Claudio beim Verlassen der Kirche von zwei Polizisten erwartet. „Könnten Sie bitte mit uns kommen? Wir haben einige Fragen an Sie.“ – „Natürlich, selbstverständlich.“ – Und Claudio folgte ihnen zum Polizeiposten, wo einer der Beamten sagte:
„Wir haben gehört, dass Sie weiterhin Minderjährigen religiösen Unterricht erteilen. Auch in ihrem Sonntagsgottesdienst haben wir die Anwesenheit Minderjähriger beobachtet. Was sagen Sie uns dazu?“
„Das machen wir immer so, die Kirche ist offen für alle, warum?“
„Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?“
„Gut, und – und dass Jesus gesagt hat: ‚Lasst die Kinder zu mir kommen.‘ “
„Das hat nichts mit der Sache zu tun, es geht hier um die Gesetze unseres Staates. Sicher kennen Sie das Reglement für Religionsbeamte“, und der Polizist deutete auf ein umfangreiches Buch auf seinem Schreibtisch.
„Ich habe es gelesen, aber ich besitze es selber nicht“, sagte Claudio.
„Dann rate ich Ihnen, sich schleunigst ein Exemplar zu beschaffen und sich mit dem Inhalt vertraut zu machen. Minderjährige zu indoktrinieren ist ein unentschuldbarer Eingriff in den Zuständigkeitsbereich des Bildungsministeriums. Das ist ein schwerwiegendes Fehlverhalten für einen Religionsbeamten und kann mit bis zu fünfzehn Jahren Gefängnis oder Zwangsarbeit geahndet werden.“
– Der zweite Beamte ergriff das Wort, als er Claudios erschrockenes Gesicht sah: „Da Sie, Herr Claudio, bisher einen unbefleckten Leumund haben und dies Ihre erste Zuwiderhandlung ist, können Sie noch mit einer Geldbusse davonkommen. Aber ich warne Sie: Sollten Sie wiederum straffällig werden, dann werden Sie unweigerlich vor Gericht kommen. Und Sie werden sicher verstehen, dass wir als Gegenleistung für unser jetziges Entgegenkommen eine verstärkte Zusammenarbeit Ihrerseits erwarten. Erstatten Sie uns regelmässig Bericht über die privaten Tätigkeiten und die politischen Ansichten Ihrer Gemeindeglieder. Eine blosse Formsache.“

Claudio war erleichtert, dass sich die Justiz ihm gegenüber noch einmal gnädig erwiesen hatte, und versprach, zuverlässig Bericht zu erstatten. Dann ging er seine Busse bezahlen und kaufte sein Reglement.
In der folgenden Zeit verursachte ihm ab und zu das rätselhafte Verschwinden des einen oder anderen Gemeindeglieds äusserste Besorgnis; insbesondere wenn er feststellte, dass es sich um eine Person handelte, über die er der Polizei Informationen gegeben hatte. Aber er beruhigte sich jeweils sofort mit dem tröstlichen Gedanken, dass er treu seine Pflicht als Bürger und Christ erfüllte.

„Du sollst den Namen des HERRN nicht missbrauchen“

6. Oktober 2013

„Sie reden in meinem Namen, aber ich habe sie nicht gesandt“, sagte Gott über die falschen Propheten. Es ist anzunehmen, dass er dasselbe über ein gewisses Internetportal zu sagen hätte, das sich ganz unverschämt „Jesus.de“ nennt. Nicht nur dürfte es den Betreibern schwerfallen, ein göttliches Mandat zur Vertretung der Person Jesu im Internet nachzuweisen; sondern die dort veröffentlichten Nachrichten und Kommentare verherrlichen auch zu einem grossen Teil nicht Jesus, sondern verhandeln blosse weltliche Kirchenpolitik. Das ist ein eklatanter Verstoss gegen das dritte Gebot (Missbrauch des Namens Gottes).

Es gibt auf jenem Portal zwar eine ausführliche Sektion mit dem Titel „Fast alles über Jesus“. Aber was für ein „Evangelium“ wird da verkündet? – Zitat:

„Gott ist bereit, die Verantwortung für deine Schuld zu übernehmen. Eigentlich hat er es schon damals am Kreuz vor den Toren Jerusalems getan und es kann auch für dein Leben Wirkung haben – aber nur, wenn du es zulässt.
(…) Gott sein Leben anzuvertrauen ist wie zu seinem liebenden Menschen zu gehen und sich in seinen Schoß zu setzen. Das kann zum Beispiel ein einfaches Gebet sein, in etwa so:
Gott,
ich möchte dir mein Leben anvertrauen. Bitte trage du die Verantwortung für meine Schuld.
Hefte du alles, wo ich je an dir und an anderen Menschen schuldig geworden bin, und sicherlich auch noch schuldig werde, an das Kreuz von Golgatha. (…)“

Zuerst einmal fällt auf, dass hier die Bedeutung und die Wirkung des Opfers Jesu ganz in das Belieben des Menschen gestellt wird. Die Erlösung wird lediglich als ein „Angebot“ dargestellt (so weiter oben im Text), das der Mensch „annimmt“ bzw. „zulässt“. Damit werden die Rollen vertauscht: Der Mensch befiehlt, Gott gehorcht. Aber Jesus und seine Apostel haben nie die Menschen dazu aufgerufen, „ein Angebot anzunehmen“! Vielmehr riefen sie dazu auf, von der Sünde umzukehren und sich der Herrschaft Jesu zu unterstellen. (Matth.4,17; Lukas 24,47; Apg.2,36-40; 7,51-53; 10,42-43; 14,15; 17,30-31; 26,18-20; u.a.) Im biblischen Evangelium geht es nicht darum, ob ich mich dazu herablasse, gnädigerweise Gott und sein Angebot „anzunehmen“. Im Gegenteil, es geht darum, ob Gott mich annehmen kann!

Schockierend ist zudem die Aussage, dass Gott „die Verantwortung für meine Schuld“ übernähme. „Verantwortung übernehmen“ bedeutet doch: Für das eigene Verschulden geradestehen; die Sünde bekennen statt sie zu leugnen; und davon umkehren. Also genau das, was Gott von mir erwartet, damit er mich annehmen kann. Aber jesus.de stiftet seine Leser dazu an, Gott die Verantwortung zuzuschieben. Etwa so wie Adam, der auf Gottes Frage „Hast du von dem verbotenen Baum gegessen?“, nicht mit einem schlichten „Ja“ antworten konnte. Stattdessen sagte er: „Die Frau, die du mir gegeben hast, hat mir von dem Baum gegeben.“ Mit anderen Worten: „Ich bin nicht verantwortlich; du bist schuld, dass ich gesündigt habe.“ Ja, der in Sünde gefallene Adam wäre ein vorbildlicher Christ nach der jesus.de-Theologie.
Das oben zitierte „Übergabegebet“ (es ist an sich schon eine unbiblische Lehre, dass man durch das Sprechen eines „Übergabegebets“ zu einem Christen würde) lehrt ausserdem den an Jesus interessierten Sünder, von vornherein mit weiterem fortgesetztem Sündigen zu rechnen. Das ist billige Gnade in Reinkultur. Eine Erlösung von der Macht der Sünde gibt es in diesem „Evangelium“ nicht. Im Gegenteil: Man sündigt fröhlich weiter und macht sogar noch Gott dafür verantwortlich. Dann kann man also, wie seinerzeit eine deutsche „Bischöfin“, betrunken am Steuer durch die Gegend rasen und sagen: „Macht nichts, Gott trägt die Verantwortung dafür“? – Nein, das hat Frau Kässmann nicht gesagt. Sie hat nach dem Vorfall zugegeben, dass sie für ihr Verschulden verantwortlich war, und ist folgerichtig von ihrem Amt zurückgetreten. Damit hat sogar diese erzliberale, modernistische Theologin mehr Integrität bewiesen, als die jesus.de-Theologie einem Christen für zumutbar hält.

Noch bedenklicher wird die Sache, wenn man in Betracht zieht, was alles in diesem falschen „Evangelium“ nicht vorkommt. Da steht kein Wort davon, dass ein Christ dem Vorbild Jesu folgt (1.Joh.2,6), seine Gebote hält (1.Joh.2,3-5), die Welt nicht lieb hat (1.Joh.2,15-17), sein Leben verliert um Jesu willen (Matth.16,24-26) – kurz, sich Jesus als dem absoluten HERRN unterstellt. In diesem falschen Konzept von Bekehrung findet kein Herrschaftswechsel statt. Trotz allem Gerede von „Gott sein Leben anzuvertrauen“ bleibt in Tat und Wahrheit der sündige Mensch weiterhin auf seinem eigenen Thron sitzen.

Um ganz sicherzugehen, dass ich nichts übersehen habe, habe ich auf der erwähnten Website mehrere Global-Suchen nach „Herrschaft Jesu“ und verwandten Begriffen durchgeführt. Kein Ergebnis. Nirgendwo auf dieser Website wird etwas darüber gesagt, was es bedeutet, dass Jesus der HERR über alles ist, oder dass ein Christ Jesus gehorcht.

Auch in der Berichterstattung zum „Fall Wunderlich“ wird deutlich, dass die Betreiber dieses Portals die Souveränität Jesu als HERR nicht anerkennen. Da wird unkritisch und einseitig die beschönigende Darstellung der Behörden übernommen, und die Familie Wunderlich als Gesetzesbrecher hingestellt. Die Sichtweise der betroffenen Familie kommt dagegen überhaupt nicht zur Sprache. Ebensowenig kommt zur Sprache, wem im Konfliktfall zu gehorchen sei: Gott oder der weltlichen Obrigkeit? (Apg.5,29) Und aus den Leserkommentaren ist ersichtlich, dass anscheinend die Mehrheit der Leser die Anschauungen der Redaktion teilt. Das ist kein gutes Omen für die Zukunft eines biblischen Christentums in Deutschland. Was ist davon zu halten, wenn ein „christliches“ Medium über eine christliche Familie ausschliesslich vom Standpunkt ihrer Feinde aus berichtet? Wird sich die deutsche Geschichte in baldiger Zukunft wiederholen?

Wie würde sich das ausnehmen, wenn über die Verfolgung von Christen in anderen Ländern wie z.B. China ebenso einseitig aus der Sichtweise des Staates berichtet würde? Etwa so:

„Vergangene Woche wurde der chinesische Dissident Li Sheng (Name frei erfunden) verhaftet und in einem summarischen Verfahren zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil er fortgesetzt illegale Versammlungen abgehalten hatte. Nach Auskunft der zuständigen Behörde war dieser Schritt unumgänglich geworden, nachdem Li jahrelang entsprechende Verwarnungen missachtet hatte. Er hatte in seiner Unnachgiebigkeit sogar das Kompromissangebot ausgeschlagen, sich der gesetzlich zugelassenen Drei-Selbst-Kirche anzuschliessen. Bei der Verhaftung sei es ruhig und ordentlich zugegangen, und eine angebrachte Behandlung des Häftlings sei sichergestellt, informierte der zuständige Beamte.“

Und dazu noch einige „christliche“ Leserkommentare wie:

„Recht so! Diese Gesetzesbrecher gehören alle eingesperrt. Wem sogar die Kirche noch zuwenig fromm ist, der muss ja gefährlich extreme Anschauungen haben.“

Oder:

„Unglaublich, dass sich sogar Christen dazu hergeben, die staatlichen Gesetze zu missachten. Hat dieser Herr noch nie davon gehört, dass man sich der Obrigkeit unterordnen soll (Römer 13,1)? Offensichtlich gehört er einer sektiererischen Randgruppe an. In diesem Zusammenhang von ‚Christenverfolgung‘ zu sprechen, ist eine Verleumdung der chinesischen Regierung.“

Den Christen der ersten Jahrhunderte war es sonnenklar, dass Christsein bedeutet, Jesus als HERRN über alle Lebensbereiche und über alle weltlichen Machthaber anzuerkennen. Deshalb weigerten sie sich, bestimmte Bürgerpflichten wie z.B. das vorgeschriebene Weihrauchopfer an den Kaiser zu erfüllen. Der christliche Apologet Francis Schaeffer erklärt hierzu:

„Wir dürfen nicht vergessen, warum die Christen getötet wurden. Sie wurden nicht getötet, weil sie Jesus anbeteten. In der römischen Welt gab es zahlreiche verschiedene Religionen. (…) Niemand kümmerte sich darum, was man anbetete, solange der Anbetende nicht die Einheit des Staates störte, deren Mittelpunkt die formale Anbetung des Kaisers war. Die Christen wurden getötet, weil sie Rebellen waren. (…) Was die Cäsaren nicht tolerieren wollten, war die Exklusivität, mit der sie nur den einen Gott anbeteten. Das galt als Landesverrat. (…) Hätten sie Jesus und Cäsar angebetet, wäre ihnen nichts geschehen (…)
Wir können den Grund, warum die Christen verfolgt wurden, auch auf eine andere Weise ausdrücken: Keine totalitäre Autorität, kein autoritärer Staat kann diejenigen tolerieren, die einen absoluten Massstab besitzen, nach dem sie diesen Staat und seine Handlungen beurteilen. Die Christen hatten einen solchen absoluten Massstab in der Offenbarung Gottes. Weil die Christen einen absoluten, universal gültigen Massstab hatten, nach dem sie nicht nur die persönliche Ethik, sondern auch das Verhalten des Staates beurteilen konnten, galten sie als Feinde des totalitären Roms und wurden den wilden Tieren vorgeworfen.“
(Aus Francis Schaeffer, „Wie können wir denn leben?“)

Genau diese Situation haben wir auch heute wieder. Es herrscht ein Anschein von Religionsfreiheit, da ja jeder anbeten kann, wen oder was er will. Das Handeln des Staates nach übergeordneten Massstäben zu beurteilen, gilt aber als ungesetzlich und zieht Verfolgung nach sich. Christen dürfen zwar „privat ihre Religion ausüben“ (was auch immer darunter zu verstehen ist). Sobald sie aber versuchen, auch in ihrem familiären und gesellschaftlichen Zusammenleben der HERRSCHAFT Jesu gemäss zu leben, werden sie angeklagt, eine „Parallelgesellschaft“ errichten zu wollen (d.h. dem totalitären Herrschaftsanspruch des Staates ausweichen zu wollen), und werden dementsprechend verfolgt. Die deutsche Staatsideologie unterscheidet sich in ihrem Wesen nicht von der altrömischen: die Staatsregierung wird absolut gesetzt, d.h. vergöttlicht. Wer in dieser Konfliktsituation dem Staat den Vorrang gibt über dem Anspruch Jesu, der hat nicht verstanden, was es bedeutet, Jesus den HERRN zu nennen. Auf Englisch hat es einmal jemand so gesagt: „Either Jesus is Lord of all, or he is not Lord at all.“ („Entweder ist Jesus Herr über alles, oder er ist überhaupt nicht Herr.“)

Nachfolge Jesu bedeutet, in allem den Willen des HERRN zu tun (Matth.7,21, Lukas 6,46). Der Wille Gottes beschränkt sich nicht auf einen religiösen Privatbereich. Es gibt klare biblische Anweisungen z.B. über Geschäfte und den Umgang mit Geld; über Kindererziehung; über die Aneignung und Anwendung von Wissen; über die Hilfe an Bedürftige; über den Staat und die Regierung; u.v.m. – Was die Kindererziehung betrifft, so gehört diese aus biblischer Sicht eindeutig zum Autoritätsbereich der Familie. Eltern werden angewiesen, ihre Kinder dem Willen Gottes gemäss zu erziehen und zu lehren (5.Mose 6,6-9, Psalm 78,5-8, Epheser 6,4, u.a.). Kinder werden angewiesen, ihre Eltern zu ehren, ihnen zu gehorchen und von ihnen Belehrung anzunehmen (2.Mose 20,12, Sprüche 4,1-5, Epheser 6,1-3, u.a.). Es gibt keinerlei entsprechenden Gebote betreffend den Staat, Schulen, oder andere Institutionen. Die Kinder gehören Gott, nicht dem Staat; und Gott hat die Erziehung und Ausbildung der Kinder an die Eltern delegiert.

Es kann offensichtlich nur eine einzige absolute Herrschaft geben; und diese absolute Herrschaft relativiert alle anderen Gewalten. Wenn wir Jesus als HERRN anerkennen, bedeutet das, seinem Willen in allem den Vorrang zu geben vor allen anderen Gewalten. Die Konfliktpunkte können dabei je nach historischem, gesellschaftlichem und kulturellem Umfeld ganz verschieden aussehen. Im Römischen Reich war das Opfer für den Kaiser der hauptsächliche Kristallisationspunkt des Konflikts. Zur Reformationszeit war es der Ablasshandel und die Kindertaufe. Im heutigen Europa kristallisiert sich der Konflikt offensichtlich um die Rechte der Eltern und den Schutz der Familie, was sich z.B. im Bereich der Lebensrechts- und Sexualethik äussert. In Deutschland kommt dazu die völlig unverhältnismässige Erzwingung der Schulpflicht, deren Brutalität weltweit ihresgleichen sucht. Die deutschen Kirchen und ihr obenerwähntes Internetportal stellen sich in diesem Konflikt auf die Seite des Staates. Sie wollen Jesus und den Kaiser anbeten. Damit verabsolutieren sie aber den Staat (im Gegensatz zur Herrschaft Christi) und fördern somit den staatlichen Totalitarismus. Sie fügen sich so „politisch korrekt“ in die gegenwärtige Weltordung ein, verleugnen aber den exklusiven Herrschaftsanspruch Gottes zugunsten des Götzen „Staat“. Ihr Anspruch, den biblischen Jesus zu vertreten, verliert damit jegliche Legitimität.

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