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Darf man Menschen töten, um Menschenleben zu retten?

4. Juli 2022

Das ist eine nicht ganz unwichtige und zur Zeit ziemlich aktuelle ethische Frage. Betrachten wir sie zuerst in einer erfundenen Situation:

Nehmen wir an, ein Flugzeug mit 200 Passagieren ist entführt worden. Es steuert gerade auf eine grosse Stadt der USA zu. Der amerikanische Geheimdienst hat Informationen, wonach die Entführer ein Attentat wie jenes vom 11.September 2001 vorhaben, was schätzungsweise 3000 Todesopfer zur Folge hätte.
Die Entführer lassen nicht mit sich verhandeln. Das Militär verfügt aber über Möglichkeiten, das Flugzeug abzuschiessen. Hältst du das für ethisch vertretbar? Es würden damit zweihundert Menschenleben geopfert, um die Leben von dreitausend anderen Menschen zu retten. Ja, man könnte sogar argumentieren, es sei eigentlich gar kein Opfer, da die Passagiere beim Gelingen des Attentats ebenfalls sterben würden. Was meinst du zu dieser Argumentation?

Im Grunde ist das die Argumentation des Kaiaphas: „Es nützt uns mehr, wenn ein Mensch für das Volk stirbt, und nicht das ganze Volk umkommt.“ (Joh.11,49) Er sagte das, weil die führenden Männer Jerusalems fürchteten, Jesus würde als Messias auftreten, und dann würden die Römer kommen und den Tempel zerstören und das Volk töten. Um das zu verhindern, solle Jesus umgebracht werden.

Aber beachten wir zuerst, dass unsere Beispielsituation mehrere hypothetische Elemente enthält. Werden die Entführer das Attentat tatsächlich ausführen? Wenn ja, wird es gelingen? Wenn ja, wird es tatsächlich 3000 Todesopfer geben? Alles das sind Annahmen, die in der gegebenen Situation zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben, aber nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden können. In Wirklichkeit sollte die Frage also lauten, ob die 200 Passagiere geopfert werden dürfen, um 3000 mutmassliche Todesfälle zu verhindern. Damit wird die Abwägung, es würden mehr Leben gerettet als geopfert, bereits fragwürdig.

Weiter: Im obigen Beispiel sind wir in der Situation der militärischen Entscheidungsträger. Wir haben keinen Einfluss darauf, wie die Entführer handeln werden. Wir können lediglich über unseres eigenes Handeln entscheiden.
Sollten also die Entführer tatsächlich ihr Vorhaben ausführen, dann ist es allein ihre Schuld, wenn dabei Menschen sterben. Es geschieht aufgrund ihrer Entscheidung, nicht unserer. Wenn wir aber das Flugzeug abschiessen, dann laden wir eindeutig Schuld auf uns, denn die Passagiere sterben dann aufgrund unserer Entscheidung und unseres Handelns. Das ist Mord. Der Tod der Anschlagsopfer wird aber nicht uns als Mord zur Last gelegt, sondern den Attentätern.

Betrachten wir dann auch mögliche Zukunftsszenarien. So wie wir nicht mit Sicherheit voraussagen können, ob es tatsächlich 3000 Todesopfer geben wird, so können wir auch die längerfristigen Folgen unseres Handelns nicht voraussagen. Die Entführer könnten zu einer mächtigen radikalen Organisation gehören. Der Abschuss des Flugzeugs könnte in deren Umfeld eine weitergehende Radikalisierung verursachen. Die Organisation bekäme dadurch mehr Mitglieder, mehr Macht, und hätte dann die Möglichkeit, eine doppelte Rache durchzuführen, also ein Attentat mit 6000 Todesopfern. Und sie würde dieses so planen, dass es nicht zum voraus verhindert werden kann.
Wenn wir uns die Rettung der 3000 Menschenleben als „Verdienst“ auf unser Konto gutschreiben wollen, dann müssten wir uns in diesem Fall auch die 6000 neuen Opfer als unsere Schuld anrechnen. Auch deren Tod wäre eine indirekte Folge unseres Handelns.

So endete tatsächlich auch die Kaiaphas-Situation: Man konnte in Wirklichkeit nicht wissen, was die Römer getan hätten oder was der Ausgang der Dinge gewesen wäre, wenn Jesus als Messias aufgetreten wäre. Jesus wurde getötet; aber vierzig Jahre später kamen die Römer dennoch. Nicht nur töteten sie alle Einwohner Jerusalems; sie zerstörten sogar die Stadt und den Tempel völlig. Jesus hatte vorausgesagt, dass dies gerade als Gericht Gottes dafür geschehen würde, dass die massgeblichen Regierenden ihn dem Tod überliefern würden.


Stellen wir nun die Frage in einem anderen Zusammenhang.

Ist es ethisch gerechtfertigt, Milliarden von Menschen einem „Ausnahmezustand“ zu unterstellen, welcher zu einer Vervielfachung der Selbstmorde und der Drogentoten führt, weltweit über hundert Millionen Menschen in Armut stürzt (von denen ein gewisser Prozentsatz den Hungertod erleiden wird), sowie die Zahl der Todesfälle wegen Krebs, Diabetes, und anderen Krankheiten erhöht, weil deren Behandlung zurückgestellt wurde – das alles, um eine nicht voraussagbare (vielleicht vernachlässigbar kleine) Zahl von mutmasslichen Todesfällen aufgrund einer anderen Krankheit zu vermeiden?

Und ist es ethisch gerechtfertigt, Millionen von Menschen zur Teilnahme an einem medizinischen Experiment zu nötigen, an dem schätzungsweise 0,01 bis 0,02% der Teilnehmer sterben, – um dadurch möglicherweise eine nicht voraussagbare Zahl von Todesfällen aufgrund einer Krankheit mit einer Sterblichkeit von etwa 0,2% zu vermeiden?

Die (fremdgesteuerte) „öffentliche Meinung“ folgt in dieser Sache offenbar dem Kaiaphas-Argument: „Es werden mehr Leben gerettet, als geopfert werden; also dürfen wir das ohne weiteres machen.“
Gerade zur zweiten Frage hat die öffentliche Meinung offenbar aufgrund der Fremdsteuerung einen ganz extremen Umschwung erlebt. In früheren Jahren und Jahrzehnten wurden derartige Experimente nämlich abgebrochen, sobald es auch nur einige dutzend Todesfälle gegeben hatte. Und es wurde dabei nie verlangt, es müsse zuerst in jedem einzelnen Fall ein „kausaler Zusammenhang“ hieb- und stichfest nachgewiesen werden. Es genügte, dass ein solcher Zusammenhang nicht eindeutig ausgeschlossen werden konnte. Heute aber hält man viele tausende von gemeldeten Todesfällen für normal. Oder eben, man argumentiert sogar, solange das Experiment nicht mehr Opfer fordere als die Krankheit, sei das Experiment (und die Nötigung dazu!) gerechtfertigt.
Und dann gibt es ja noch jene unbedarften Zeitgenossen, die nicht einmal wissen (wollen), dass es diese Todesfälle überhaupt gibt, weil diese von den Medien und den Politikern unter den Teppich gekehrt werden.

Aber alle die oben genannten Einwände treffen auch hier zu.

Zuerst einmal ist es nur eine Hypothese, dass Ausnahmezustand, experimentelle Präventionstherapien, usw, Menschenleben retten würden. Inzwischen gibt es eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen, die zeigen, dass alle diese Dinge keinen statistisch signifikanten Beitrag zur Eindämmung der Krankheit geleistet haben. Ja, einige Untersuchungen legen sogar nahe, dass die ganze Regierungspolitik in dieser Hinsicht kontraproduktiv gewirkt hat. Auch der internationale Vergleich zwischen Ländern mit unterschiedlicher Politik führt zum selben Schluss (siehe z.B. hier und hier).

Zweitens gilt auch hier das Argument, dass es nicht dasselbe ist, ob Menschen aus Ursachen sterben, auf die man nicht direkt einwirken kann (z.B. Infektion), oder ob sie an den Folgen von Massnahmen sterben, die durch bewusste Entscheidungen von Machthabern eingeführt wurden. Letzteres stellt eine konkrete Schuld dar.
Man könnte hier einwenden, dass auch die Folgen dieser Massnahmen und Experimente nicht zum voraus bekannt waren. Es gab aber viele frühe Warnungen von Fachleuten, die genau das voraussagten, was später eingetroffen ist. Spätestens nach einigen Wochen waren die Auswirkungen in grossen Zügen bekannt; die Informationen darüber wurden aber aggressiv zensuriert und unterdrückt. Spätestens von da an muss die Weiterführung dieser Massnahmen und Experimente als bewusst zerstörerisch und damit schuldhaft betrachtet werden.

Und es gilt auch hier, dass die längerfristigen Auswirkungen genau in dem bestehen könnten, was man angeblich vermeiden wollte. Es gibt Hinweise darauf, dass die Einschränkungen unter dem „Ausnahmezustand“ das Immunsystem und die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung so geschwächt haben, dass die Menschheit dadurch auf alle Arten von Krankheiten anfälliger geworden ist. Und Statistiken zeigen, dass da, wo das medizinische Experiment im internationalen Vergleich am meisten fortgeschritten ist, in der Regel am meisten Menschen an genau der Krankheit erkranken und sterben, die man damit vermeintlich bekämpft.
Wenn die Regierenden sich das Verdienst zuschreiben wollen, mit ihrer Politik „Menschenleben gerettet“ zu haben, dann sollen sie auch für die Schuld an den längerfristigen Auswirkungen geradestehen.


Nun noch ein letzter Aspekt. Wenn die Politik der Regierungen immense Schäden anrichtet und zu zigtausenden von zusätzlichen Todesopfern führt, dann könnte man es ja gemäss dem Kaiaphas-Argument auch als gerechtfertigt ansehen, diese Entscheidungsträger beiseite zu schaffen, um dadurch weitere Todesfälle zu verhindern.

Natürlich werden alle Regierungtreuen bei einem so ungeheuerlichen Vorschlag vor Wut laut aufheulen. Aber, liebe Regierungsfans, vom ethischen Standpunkt her ist das genau dieselbe Argumentation wie eure eigene: Man begeht Handlungen, die voraussehbar zum Tod einer gewissen Anzahl Menschen führen, um damit eine grössere Zahl anderer mutmasslicher Todesfälle zu vermeiden. Es ist also euer eigener Standpunkt, der mir einen Anlass dazu gegeben hat, an diese Möglichkeit überhaupt nur zu denken.

Übrigens hat ein so grosser Theologe wie Dietrich Bonhoeffer einen derartigen Standpunkt nicht nur vertreten, sondern auch ausgelebt (bzw. es versucht). Er sagte, dass zwar einerseits jeder Mord, auch der Tyrannenmord, Schuld ist. Aber andererseits sei es auch Schuld, der Vernichtung von Millionen von Menschen tatenlos zuzusehen. Es gebe in dieser Situation keine Möglichkeit, schuldlos zu bleiben. Wenn also durch den Tyrannenmord dem Krieg und der Vernichtung der Juden Einhalt geboten werden könne, dann müsse man dazu bereit sein, diese Schuld zu übernehmen. Das ist Bonhoeffers Lehre von der „Schuldübernahme“.

Ich bin mit dieser Lehre nicht einverstanden. (Bitte beruhigt euch also, ihr Regierungsfans.) Auch hier gilt dasselbe wie oben: Die Opfer eines verrückt gewordenen Tyrannen können nicht uns zur Last gelegt werden – wenigstens sofern wir ihn nicht aktiv unterstützt haben. (Anders ist das allerdings mit den willigen Befehlsausführern. Siehe Nürnberger Prozesse 1946-47 … aber das wäre wieder ein anderes Thema.) Wenn wir aber eigenmächtig handeln in Übertretung von Gottes Geboten, das ist dann sehr wohl schuldhaft.
Und wir können die Zukunft nicht voraussehen. Wir können nicht wissen, ob es weiterhin Opfer geben wird, oder ob vielleicht morgen der Tyrann eines natürlichen Todes stirbt oder von Feinden besiegt wird oder sich auf wundersame Weise bekehrt. Und wenn ein allfälliger Anschlag erfolgreich wäre, dann können wir nicht wissen, ob vielleicht dann der Tyrann durch einen noch schlimmeren ersetzt wird; oder ob dann eine Revolution ausbricht, die noch mehr Todesopfer fordert.

Dazu noch ein Kommentar, nicht von einem Theologen, sondern aus „Der Herr der Ringe“. Da sagt eine der Personen (ich zitiere aus dem Gedächtnis):
„Viele Menschen sterben, die nicht sterben sollten. Kannst du ihnen das Leben zurückgeben? Nein? Dann masse dich auch nicht an, jemandem das Leben zu nehmen, der deiner Meinung nach nicht leben sollte.“

Im konkreten Fall von Bonhoeffer scheiterte ja der Anschlag. Manche behaupteten daraufhin, das sei ein Beweis, dass der „Führer“ von Gott gesandt sei. Ein christlicher Kommentator sagte später, wahrscheinlich habe Gott vielmehr deshalb ein Gelingen des Anschlags nicht zugelassen, weil die ganze Brutalität zuerst bis zu ihrer letzten Konsequenz auswachsen und Deutschland zerstört werden musste, damit auch der hinterste und letzte Mitläufer erkennen müsste, was er da unterstützt hat.
Aufgrund von Offb.13,3.12 kann angenommen werden, dass auch diese Geschichte sich in unserer Zeit so ähnlich wiederholen wird.