Gedanken darüber, das Wort deines Vaters ernst zu nehmen. Von Russell J. Asvitt.
Chris lag auf seinem Bett, den Kopf auf einem Kissen aufgestützt, und las ein Buch. Da kam sein Zimmerkollege Ernst mit einigen Briefen herein. – „Hier, Chris“, sagte er, „das ist für dich.“ – „Danke, Ernie“, sagte Chris, nahm den Brief entgegen, öffnete ihn und las ihn gründlich.
Lieber Christian,
Deine Mutter und ich sind sehr zufrieden, dass Du Dich entschieden hast, an die Universität zu gehen und Dein Studium abzuschliessen. Wir haben vereinbart, Dir volle finanzielle Unterstützung zu geben, damit Du keine Zeit verlierst mit einer Arbeitsstelle, denn das könnte dein Studium hinauszögern. Wir möchten, dass Du so viel Zeit wie möglich in Deinen Fortschritt investierst. Wir haben gehört, dass viele Studenten ihre Zeit und ihr Geld ausserhalb der Universität verschwenden. Bitte tue Dich nicht mit ihnen zusammen. Wenn Du es verschwendest, werden wir Dir kein Taschengeld mehr senden für Deine Freizeit. Ich freue mich schon auf Deinen Abschluss, damit Du Dich mir anschliessen kannst in meinem Geschäft. Eines Tages wirst Du es erben.
Alles Liebe,
Papa.
Verwirrt faltete Chris den Brief zusammen, steckte ihn in den Umschlag und ging zur Tür, den Umschlag in der Hand.
„Wohin gehst du?“ fragte Ernst.
„Ich gehe meine Professoren fragen, was dieser Brief meines Vaters bedeutet.“
„Aber wenn er von deinem Vater ist, wozu …?“ – Aber die Tür hatte sich bereits hinter Chris geschlossen.
„Gut, Christian“, sagte der Geschichtsprofessor, nachdem er den Brief studiert hatte, „es scheint, dein Vater möchte, dass du Fortschritte machst. Aber ich brauche etwas zusätzliche Information über deinen Familienhintergrund, um den Brief zutreffend interpretieren zu können. Wenn er von ‚Fortschritt‘ spricht, meint er deine Ausbildungsmöglichkeiten, oder geht es ihm um deine soziale Stellung, oder um deine finanzielle Sicherheit? Wenn du mir einige zusätzliche Umwelthinweise geben könntest, dann könnte ich dir sicher helfen, den Brief zu entziffern.“
Chris sah ihn an und zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls vielen Dank, Professor“, sagte er, und verliess das Büro. Sogleich ging er zum Philosophieprofessor.
„Könnten Sie mir helfen, diesen Brief zu interpretieren?“
„Sehr gerne“, sagte der Philosophieprofessor. „Lass mich sehen. ‚Viele Studenten verschwenden ihre Zeit.‘ Das ist ein interessantes Konzept. Was ist Zeit? Heute war gestern morgen, und morgen wird morgen heute sein. Wie du siehst, ändert sich die Zeit ständig. Und was die Zeitverschwendung betrifft, wie kann man etwas verschwenden, was ständig bei uns ist und sich ständig ändert? Schau, dein Vater drückt einfach eine Meinung aus, die er dir mitteilen möchte. Es ist ein interessantes Schreiben, aber ziehe keine definitiven Schlüsse daraus, bevor du nicht mehrere andere Konzepte gelesen hast. Du brauchst eine breitere Informationsbasis für deine volle Entwicklung.“
„Gut, ja … danke“, sagte Chris, und ging ein wenig enttäuscht nach draussen.
Die nächste Station war die theologische Fakultät. Während der Theologe den Brief überflog, runzelte er die Stirn.
„Mein Gott!“ rief er aus. „Sicherlich wollte dich dein Vater nicht erschrecken, aber da sind wirklich einige ernsthafte Unstimmigkeiten in seinem Brief. Er schliesst seine Epistel mit: ‚Alles Liebe‘, aber zugleich sagt er: ‚Wir werden Dir kein Taschengeld mehr senden.‘ Sicherlich möchte er nicht wirklich das sagen. Er kann nicht dich lieben und dir zugleich etwas vorenthalten.
Er sagt auch, du sollst dich nicht mit anderen Studenten zusammentun. Dennoch will er, dass du alle deine Vorlesungen besuchst. Wie kannst du das tun, wo doch andere Studenten in den Vorlesungen sind?
Denke einmal nach, ich denke, es war nicht dein Vater, der dir diesen Brief geschrieben hat. Die Statistiken zeigen, dass Studenten die allermeisten Briefe von ihren Müttern erhalten. Ich denke, der Schlüssel liegt im ersten Satz: ‚Deine Mutter und ich sind sehr zufrieden…‘ Es scheint, dass deine Mutter den Brief geschrieben hat und in guten Treuen mit dem Namen deines Vaters unterschrieben hat, um ihm grössere Autorität zu verleihen. Natürlich ist nichts Schlechtes dabei, aber ich dachte, ich sollte dich darauf aufmerksam machen. Ich hoffe, das ist dir eine Hilfe.“
„Ja … danke“, antwortete Chris.
„Wie seltsam, es sieht wirklich wie die Schrift meines Vaters aus“, brütete Chris, während er sich auf seinem Bett niederwarf. Ernst betrachtete ihn: „Du siehst verwirrt aus, Chris.“ – „Ja“, antwortete er. „Ich wusste nicht, dass es so viele verschiedene Arten gibt, einen Brief zu interpretieren.“ – „Darf ich ihn lesen?“ fragte Ernst. – „Klar. Hier, nimm ihn.“
Ernst las den Brief gründlich durch. „Hey, das ist grossartig!“ rief er aus. „Deine Eltern werden dir dein ganzes Studium bezahlen, und dir dazu sogar noch Taschengeld geben. Du wirst keine Arbeit suchen müssen. Und dein Vater sagt, wenn er pensioniert wird, wirst du sein Geschäft erben. Begeistert dich das nicht?“
„Ist es das, was es bedeutet?“ – „Das ist es, was dasteht, oder nicht?“ – „Mensch, du bist wirklich schlau, Ernie“, sagte er schliesslich.
Ernst wandte sich wieder seinen Aufgaben zu und lächelte vor sich hin. Er wusste, dass er in Wirklichkeit gar nicht so besonders schlau war.
Quelle: Zeitschrift „Bread for Children“, März 1987