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Paul Lockhart: Mathematik in der Schule

11. Januar 2014

Kommentierte auszugsweise Übersetzung aus „A Mathematician’s Lament“, von Paul Lockhart

Mathematik in der Schule

Es gibt keinen sichereren Weg dazu, die Begeisterung und das Interesse an einem Thema abzutöten, als es zu einem obligatorischen Schulfach zu machen. Machen wir es zudem zu einem Hauptbestandteil der standardisierten Prüfungen, dann wird das Bildungs-Establishment alles Leben daraus heraussaugen. Schulbehörden verstehen nicht, was Mathematik ist. Ebensowenig verstehen es die Pädagogikexperten, die Schulbuchautoren, die Verlage, und leider verstehen es auch die meisten Mathematiklehrer nicht. Die Reichweite des Problems ist so enorm, dass ich kaum weiss, wo ich beginnen soll.

Beginnen wir mit dem Debakel der Schulreformen. (…) Dieses ganze Gezänk darum, was für „Themen“ in welcher Reihenfolge gelehrt werden sollen, ob diese oder jene Notation verwendet werden soll, oder was für Modelle von Taschenrechnern zu verwenden seien – das ist wie die Stühle auf dem Deck der „Titanic“ umzustellen! Mathematik ist die Musik des Verstandes. Mathematik zu treiben bedeutet, an einem Abenteuer von Entdeckung und Vermutung, Intuition und Inspiration teilzunehmen; in Verwirrung zu kommen – nicht weil Sie keinen Sinn darin sehen, sondern weil Sie ihm einen Sinn gaben und trotzdem noch nicht verstehen, was Ihr Geschöpf tut; eine durchbrechende Idee zu haben; als Künstler frustriert zu sein; von einer fast schmerzhaften Schönheit überwältigt zu sein; lebendig zu sein. Wenn Sie das alles aus der Mathematik wegnehmen, dann können Sie so viele Konferenzen abhalten, wie Sie wollen, es nützt nichts mehr. Ihr Ärzte, operiert soviel Ihr wollt: euer Patient ist bereits tot.

Das Traurigste an diesen „Reformen“ sind die Versuche, „Mathematik interessant zu machen“ und „relevant für das Leben der Kinder“. Mathematik muss nicht interessant gemacht werden – sie ist bereits interessanter, als wir ertragen können! Und ihre Herrlichkeit besteht darin, dass sie für unser Leben überhaupt nicht relevant ist. Deshalb macht sie Spass!

Die Versuche, Mathematik als relevant für das tägliche Leben darzustellen, wirken unvermeidlich gezwungen und gekünstelt: „Seht, Kinder, wenn ihr Algebra könnt, dann könnt ihr herausfinden, wie alt Maria ist, wenn wir wissen, dass sie zwei Jahre älter ist als das Doppelte von ihrem Alter vor sieben Jahren!“ (Als ob jemand irgendwann einmal Zugang zu einer solch lächerlichen Information hätte anstelle von Marias Alter.) – In der Algebra geht es nicht um das tägliche Leben, es geht um Zahlen und Symmetrien – und das ist an und für sich eine wertvolles Unterfangen:

„Nehmen wir an, ich kenne die Summe und die Differenz zweier Zahlen. Wie kann ich diese Zahlen herausfinden?“

Das ist eine einfache und elegante Frage, und sie braucht keine zusätzlichen Anstrengungen, um sie interessant erscheinen zu lassen. Die alten Babylonier hatten Freude daran, an solchen Problemen zu arbeiten, und unsere Schüler ebenso. (Und ich hoffe, Ihnen macht es ebenfalls Spass, darüber nachzudenken!) Wir müssen keine Purzelbäume schlagen, um die Mathematik „relevant“ zu machen. Sie ist ebenso relevant wie jede andere Kunst: als sinnvolle menschliche Erfahrung.

Anmerkung meinerseits: Recht hat Lockhart hier, dass die „Relevanz“ von Schulbuchaufgaben nur vorgetäuscht ist. Warum soll ich Textaufgaben über einen Bauernhof oder einen Kaufladen lösen, wenn meine tatsächliche Umgebung aus einer sterilen Schulbank vor einer Wandtafel besteht? – Anders sieht die Sache aber aus, wenn das Kind tatsächlich eine Zeitlang auf einem Bauernhof leben oder in einem Laden mitarbeiten kann. Die reale Umgebung wird ihm unweigerlich konkrete mathematische Probleme stellen: Wie gross muss ein Eimer sein, um zwei Kühe zu melken? Wieviel Rückgeld muss ich geben? Usw.
Das Problem bei Lockhart scheint mir zu sein, dass er trotz allem an der sterilen Schulzimmerumgebung festhält, die, wie Raymond Moore sagt, höchstens ein zweidimensionales Abbild des wirklichen, dreidimensionalen Lebens bieten kann. Homeschooling bietet dagegen enorm vielfältige Möglichkeiten zu praktischen Tätigkeiten des wirklichen Lebens (wie z.B. die Mithilfe auf einem Bauernhof oder in einem Laden), die, wenn sie entsprechend verwertet werden, immer wieder Anlass zu mathematischem Denken geben. Mathematisches Verständnis sollte sich nicht auf abstrakte Gebilde beschränken. Ebenso wichtig ist die Fähigkeit, mathematische Konzepte in Situationen des praktischen Lebens hinein zu „übersetzen“, und umgekehrt.

Hier ein authentisches Beispiel aus unserem Alltag, wie praktische Probleme und mathematische Abstraktion ineinander übergehen und einander gegenseitig bereichern: Eine Nachbarin von uns hatte ein Grundstück gekauft, hegte aber den Verdacht, sie sei bei der Flächenangabe betrogen worden. Sie liess deshalb die Seiten und die Diagonalen genau ausmessen (es handelte sich um ein unregelmässiges Viereck) und kam dann mit den Massen zu meinem ältesten Sohn mit der Bitte, er möge ihr doch die Fläche ausrechnen. Er erkannte sofort, dass eine Diagonale das Viereck in zwei Dreiecke teilt, dessen Seitenlängen nun bekannt sind. Er wusste aber nicht, wie man daraus die Fläche ausrechnen kann. „Wenn wir nur die Höhe des Dreiecks wüssten!“ – „Aber vielleicht können wir sie ausrechnen. Zeichnen wir sie doch einmal ein, und schreiben wir alles auf, was wir darüber wissen.“

Heron0

– Mit Hilfe des Satzes von Pythagoras und dreier Gleichungen kamen wir so auf eine Formel für die Höhe und damit für die Fläche. Unser Ergebnis sah so aus:

Heron1

und somit:

Heron2

Dann suchten wir in einer Formelsammlung, ob wir etwas Entsprechendes fänden. Einmal um zu überprüfen, ob wir richtig gerechnet hatten, und auch einfach aus Neugier. Wir fanden die Heronsche Flächenformel, die so aussieht:

Heron3

– wobei p den halben Umfang des Dreiecks bedeutet. Diese Formel ist natürlich bedeutend schöner und eleganter als unsere; insbesondere ist sie symmetrisch inbezug auf die drei Seiten a, b und c. Es ist aber nicht auf den ersten Blick einsichtig, ob diese Formel wirklich gleichbedeutend ist mit der unsrigen. Es stellte sich daher die Frage, ob man zeigen kann, dass die beiden Formeln tatsächlich gleichbedeutend sind. Das war nun natürlich eine mathematische Abstraktion, völlig losgelöst von dem praktischen Problem mit dem Grundstück. Wir stellten fest, dass man in unserer Formel den Ausdruck unter der Wurzel in Faktoren zerlegen kann (das war etwas, was mein Sohn damals sowieso am Üben war) und dann nach einigen Umformungen tatsächlich zu der Form kommt, wie sie in der Formelsammlung steht.
So hat mein Sohn die Formel weitgehend selbständig hergeleitet – und erst noch mit Praxisbezug -, mit weitaus grösserem Lerneffekt, als es normalerweise in der Schule geschieht. Ohne es geplant zu haben, haben wir effektiv alle folgenden Lehrplanpunkte „durchgenommen“:
– Elementare Geometrie des Dreiecks und Vierecks
– Satz von Pythagoras
– Lösung eines Gleichungssystems mit mehreren Unbekannten
– Faktorenzerlegung eines algebraischen Ausdrucks, einschliesslich Gebrauch der binomischen Formel für (a+b)2
– Flächenformel nach Heron.
Und unsere Nachbarin war zufrieden, weil sie jetzt wusste, wie gross ihr Grundstück war.

In diesem Problem liegt übrigens eine weitere Forschungsaufgabe, die wir aber (noch) nicht durchgeführt haben: Die alten Griechen kannten ja keine Algebra, sondern führten die meisten mathematischen Schlussfolgerungen und Beweise auf graphisch-geometrische Weise durch. Heron kann also seine Formel nicht auf dem oben beschriebenen Weg gefunden haben. Wie kann man diese Formel rein geometrisch herleiten?

Denken Sie etwa, Kinder wollen wirklich etwas, was für ihr tägliches Leben relevant ist? Denken Sie, sie würden sich für etwas Praktisches wie Zinseszinsen begeistern? Sie erfreuen sich vielmehr an Phantasie, und genau das kann die Mathematik geben – eine Erholung vom täglichen Leben, ein Gegenmittel gegen die Arbeitswelt.

Anmerkung meinerseits: Lockhart erweist sich hier als Nachfolger G.H.Hardys, der kategorisch behauptete, Mathematik sei nur so lange Mathematik, wie sie keine praktische Anwendung habe und nichts mit der tatsächlichen physikalischen Welt zu tun habe. Er weicht damit der Frage aus, woher es dann kommt, dass die Mathematik tatsächlich so genau mit den Gesetzen des physikalischen Universums übereinstimmt. Von einer rein „imaginären“ Gedankenkonstruktion wäre das ja nicht zu erwarten. (Nur ab und zu erwähnt Lockhart beiläufig, dass mathematische Konzepte manchmal im Nachhinein „zufällig“ (?) eine praktische Anwendung finden.)
Die pragmatische Erklärung, Mathematik sei eben aus der Beobachtung der physikalischen Welt und als Antwort auf praktische Notwendigkeiten entstanden, überzeugt dagegen auch nicht. Viele mathematische Konzepte wurden erdacht, lange bevor ihre Übereinstimmung mit physikalischen Gesetzmässigkeiten und ihre Anwendbarkeit hierauf entdeckt wurde. Z.B. untersuchten bereits die alten Griechen die Eigenschaften der Kegelschnitte; aber erst Kepler entdeckte, dass Kegelschnitte die Umlaufbahnen von Planeten und anderen Himmelskörpern exakt beschreiben.
Für mich ist die einleuchtendste Erklärung die christliche: Derselbe Gott, der das Universum erschaffen hat, hat auch die menschlichen Denkstrukturen geschaffen, sodass es notwendigerweise eine Entsprechung zwischen den beiden geben muss.
Daraus folgt aber, dass eine praktische Anwendbarkeit der Mathematik zu erwarten ist, und ebenso, dass mathematisches Denken öfters auch durch praktische Probleme des täglichen Lebens angestossen wird. Das tut der Mathematik als Mathematik keinen Abbruch, ist aber – hierin stimme ich mit Lockhart überein – nicht ihr tieferer Sinn.

Ein ähnliches Problem ergibt sich, wenn Lehrer oder Schulbücher „kindgemäss“ sein wollen. (…) Um den Schülern zu helfen, die Formel für den Kreisumfang zu lernen, erfinden sie z.B. eine Geschichte von einem Hund, der um einen kreisrunden Baum herumläuft und „Pipi“ an seinen Rand macht (U=2pr), oder ähnlichen Unsinn.
Aber was ist mit der wirklichen Geschichte? Die Geschichte vom Kampf der Menschheit mit der Messung von Kurven; von Eudoxus und Archimedes und ihrer Methode der Ausschöpfung; von der Transzendenz der Zahl Pi? Was ist interessanter: den Umfang von Kreisen zu berechnen mit einer Formel, die man von jemandem ohne weitere Erklärung vorgesetzt bekommt, oder die Geschichte eines der schönsten und faszinierendsten Probleme der Menschheitsgeschichte zu hören? Wir heute töten das Interesse der Menschen an Kreisen ab! Welches andere Schulfach wird so gelehrt, ohne jede Erwähnung seiner Geschichte, Philosophie, thematischen Entwicklung, ästhetischen Kriterien, und seines aktuellen Standes? Welches andere Schulfach verachtet seine primären Quellen – herrliche Kunstwerke von einigen der kreativsten Denker der Geschichte – zugunsten von drittklassigen Schulbuchnachahmungen?

Das grösste Problem mit der Schulmathematik ist, dass es in ihr keine Probleme mehr gibt. – Ich weiss, diese faden „Übungen“ werden als Probleme ausgegeben: „Dies ist ein Beispiel für ein Problem. Hier steht, wie man es löst. Ja, das kommt an der Prüfung. Löst die Übungen 1 bis 35 als Hausaufgabe.“ Was für eine traurige Art, Mathematik zu lernen: wie ein abgerichteter Schimpanse.

Aber ein echtes Problem, eine echte, ehrliche, natürliche, menschliche Frage – das ist etwas anderes. Wie lang ist die Diagonale eines Würfels? Hören die Primzahlen nie auf? Ist Unendlich eine Zahl? Auf wieviele Arten kann ich eine Fläche symmetrisch mit Fliesen belegen? – Die Geschichte der Mathematik ist die Geschichte der menschlichen Beschäftigung mit Fragen wie diesen. Nicht des gedankenlosen Wiederkäuens von Formeln und Algorithmen.

Ein gutes Problem besteht darin, dass du nicht weisst, wie man es lösen kann. Das macht es zu einer guten Gelegenheit; zu einem Sprungbrett zu weiteren interessanten Fragen: Ein Dreieck füllt die Hälfte einer Schachtel aus. Wie steht es nun mit einer Pyramide in einer dreidimensionalen Schachtel? Können wir dieses Problem auf ähnliche Weise lösen?

Ich verstehe den Gedanken, die Schüler bestimmte Techniken üben zu lassen. Ich tue das auch. Aber nicht als Selbstzweck. Wie in jeder Kunst, sollten die Techniken in ihrem Zusammenhang eingeübt werden: die grossen Probleme, ihre Geschichte, der kreative Prozess. Geben Sie Ihren Schülern ein gutes Problem und lassen Sie sie damit kämpfen und frustriert werden. Sehen sie, was für Ideen sie hervorbringen. Warten Sie, bis sie verzweifelt nach einer Idee verlangen, und dann geben Sie ihnen eine Technik. Aber nur so viel wie nötig.

Legen Sie also Ihre Lektionenpläne und Ihre Projektoren beiseite, Ihre vierfarbigen Schulbuchgräuel, Ihre CD-ROMs und den ganzen Multimedia-Zirkus der gegenwärtigen Schulbildung, und treiben Sie einfach Mathematik mit Ihren Schülern! Zeichnungslehrer verschwenden ihre Zeit auch nicht mit Schulbüchern und sturem Üben von Techniken. Sie lassen die Kinder zeichnen, gehen von Tisch zu Tisch, machen Vorschläge und geben Rat:

„Ich habe über unser Dreiecksproblem nachgedacht, und habe etwas festgestellt. Wenn das Dreieck so richtig schief liegt, dann füllt es nicht die Hälfte der Schachtel aus! Sehen Sie, hier:“

Lockhart4

„Eine ausgezeichnete Beobachtung! Unsere Erklärung mit dem Zerschneiden geht davon aus, dass die Spitze des Dreiecks über der Grundlinie liegt. Jetzt brauchen wir eine neue Idee.“
„Soll ich versuchen, es auf eine andere Weise zu zerteilen?“
„Bestimmt. Probiere alles mögliche aus. Lass mich wissen, was du herausfindest!“

Anmerkung meinerseits: Lockhart berührt hier einen wesentlichen Punkt: die kindliche Neugier und Phantasie als Antrieb zur Mathematik. Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Ich hatte das Glück, als Kind in mathematischer Hinsicht so frühreif zu sein (und gleichzeitig in einer Zeit zu leben, als Kinder noch nicht so früh eingeschult wurden wie heute), dass ich Gelegenheit hatte, Mathematik zu treiben, bevor ich zur Schule kam, unbeeinflusst von Lehrplänen und schulischen Methoden. Ich erinnere mich noch, wie ich als etwa Sechsjähriger u.a. spielerisch die Eigenschaften der „Dreieckszahlen“ untersuchte (ohne schon auf eine algebraische Formel zu kommen), und ein Heftchen mit Multiplikationstabellen von 1 x 1 bis etwa 20 x 30 füllte, aus reiner Neugier, was für Zahlen dabei herauskommen würden.
Andererseits möchte ich hier ergänzen, dass das kindliche Denken noch nicht zu Abstraktionen neigt. Die kindliche Phantasie entzündet sich an konkreten Gegenständen und Ereignissen seiner Umgebung, und drückt sich meistens in konkreten Darstellungen und Handlungen aus. (Ein klassisches Beispiel ist das freie Spiel mit Gegenständen, wo ein Holzklotz als Haus dienen kann und ein abgebrochener Ast als Pferdchen.) So entsprang z.B. das Konzept der „Dreieckszahlen“ aus konkreten Zeichnungen auf dem Papier, bzw. aus mit Steinchen und anderen Gegenständen gelegten Figuren. Was nicht mehr konkret dargestellt und nachvollzogen werden kann, ist dem kindlichen Verständnis in der Regel nicht zugänglich.
Mir scheint deshalb, Lockhart idealisiert zu sehr, wenn er das kindliche Entdecken der Mathematik direkt dem Forschen eines erwachsenen Mathematikers gleichstellt. Die beteiligten Denkstrukturen sind in diesen Fällen nicht dieselben. Er kommt meines Erachtens der pädagogischen Wirklichkeit näher, wenn er an anderer Stelle (siehe in der nächsten Folge) vorschlägt, den Mathematikunterricht in den unteren Schuljahren hauptsächlich mit (Denk-)Spielen zu verbringen. Hier kann das Kind seine Entdeckungen anhand konkreter Handlungen machen.

 Fortsetzung folgt

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