Archive for Juli 2010

Die Hinterbänkler

29. Juli 2010

In den meisten Schulklassen hat jedes Kind seinen angestammten Sitzplatz – die einen eher vorne, die anderen eher hinten. Nun scheinen die meisten „Hinterbänkler“ gewisse gemeinsame Eigenschaften zu haben: sie schwatzen mehr, passen weniger auf, sind weniger folgsam und haben schlechtere Noten. Da stellt sich mir die Frage nach Ursache und Wirkung: Suchen sich diese Kinder die hinteren Plätze aus, weil sie diese Eigenschaften haben; oder nehmen sie diese Eigenschaften an, weil sie auf den hinteren Plätzen sitzen?

Von mehreren unserer Nachhilfeschüler – aus ganz verschiedenen Schulklassen und Schulen – habe ich dieselbe Geschichte gehört: Wenn der Lehrer oder die Lehrerin bemerkt, dass ein Kind öfters nicht mitkommt im Unterricht oder nicht aufpasst, dann lässt er dieses Kind zur Strafe ganz hinten im Schulzimmer sitzen. So bildet sich mit der Zeit eine Gruppe von „Hinterbänklern“, die natürlich von ihrem Standort aus erst recht nichts mehr mitbekommen vom Unterricht und hauptsächlich miteinander schwatzen, spielen oder Unsinn machen, während sich der Lehrer mehr oder weniger ungestört den vorne sitzenden „besseren Schülern“ widmet. So fallen natürlich die „Hinterbänkler“ in ihren Leistungen immer noch mehr zurück. Die einzige Aufmerksamkeit, die sie vom Lehrer noch erhalten, sind ab und zu Schläge, wenn sie die Aufgaben nicht gemacht haben oder wenn sie in der Klasse allzu laut sind.

Man muss dazu sagen, dass hier im peruanischen Hochland Schulklassen mit über 40 Kindern keine Seltenheit sind. Da kann der Lehrer beim besten Willen nicht allen Schülern seine Aufmerksamkeit widmen. Und da Kinder nun einmal nicht in normierter Massenproduktion angefertigt werden, wie das Schulsystem es gerne möchte, kann man nicht alle diese 40 Kinder zur selben Zeit dasselbe lehren, wie es der Lehr- und Stundenplan vorschreibt: jedes hat seinen eigenen Entwicklungsstand, Lernstil und Charakter.

Offenbar werden also bestimmte Kinder systematisch zu Hinterbänklern gemacht; in der Regel jene, die in ihrer Eigenart am weitesten von der staatlich vorgeschriebenen Klassennorm abweichen. Sehr oft befinden sich unter diesen Hinterbänklern die ärmeren Kinder (die vielleicht gar nicht dumm sind, sondern einfach schüchtern), bzw. jene Kinder, die nicht gut Spanisch verstehen, weil bei ihnen zuhause Quechua gesprochen wird oder es überhaupt an mitmenschlicher Kommunikation mangelt.

So haben wir z.B. seit einigen Wochen unter unseren Nachhilfeschülern zwei Mädchen, die schon dreieinhalb Jahre zur Schule gehen und noch nicht lesen können. Eines von ihnen besucht jetzt zum dritten Mal die zweite Klasse. Sie wohnen in einem ausgesprochenen Armenviertel und sehen ihre Eltern nur an den Wochenenden; unter der Woche werden sie von der Grossmutter bzw. von einer Tante beaufsichtigt, mit denen sie aber kaum je ein sinnvolles Gespräch führen. Wenn sie bei uns sind, sind sie meistens sehr unruhig, unaufmerksam und ungehorsam. (Mitschüler berichteten uns aber, in der Schule sei ihr Verhalten noch schlimmer.) – Andererseits staunte ich, wie eifrig sie bei der Sache waren, als sie Gelegenheit erhielten, aus einer selber ausgemalten Zeichnung und einem Stück Karton ein Puzzle zu basteln. Als sie fertig waren, wollten sie gleich noch ein zweites Puzzle anfangen. Auch zeigten sie sich überraschend hilfsbereit, wenn es z.B. darum ging, Spielsachen aufzuräumen oder den Boden sauberzumachen. Auf „nicht-schulischen“ Gebieten können sie sich sehr nützlich machen. – Eine kuriose Beobachtung machte ich, als ich einem dieser Mädchen zuschaute, wie sie ihre Hausaufgaben im Rechnen löste. Bei einer Aufgabe hatte sie das richtige Ergebnis geschrieben; aber als ich herzutrat, radierte sie es schnell wieder aus. Wollte sie mir nicht zeigen, dass sie besser rechnen konnte, als es schien? Oder traute sie es sich selber nicht zu, eine Aufgabe richtig lösen zu können, und wollte sich selber das nicht „erlauben“? So oder so, es scheint sich hier das psychologische Gesetz zu erfüllen, dass Kinder, denen ein „Etikett“ aufgedrückt wird, wie unter einem Zwang stehen, diesem Etikett gemäss zu handeln. Diese Kinder sind so manche Jahre lang als „dumm“ und „unnütz“ behandelt worden, dass sie jetzt fast nicht mehr anders können, als sich demgemäss zu benehmen.

Derselbe unglückselige Kreislauf spielt sich nicht nur innerhalb der Klassenzimmer ab, sondern auch zwischen den verschiedenen Schulen der Stadt. Gewisse Schulen gelten als „bessere“ Schulen und werden von Schüleranmeldungen überlaufen, sodass sie sich den Luxus leisten können, auszuwählen, welche Schüler sie aufnehmen wollen und welche nicht. Das tun sie z.B. mit Hilfe von Aufnahmeprüfungen (bereits in der Primarschule!); oder auch indem sie von den Eltern (illegal) zusätzliche Geldbeträge verlangen, sodass die Kinder aus ärmeren (oder ehrlicheren?) Familien automatisch ausgeschlossen werden. Diese Kinder landen dann in einer der „schlechteren“ Schulen, wo es (wie man sagt, ich weiss nicht ob es stimmt) keine guten Lehrer gibt. Von da aus haben nur die allerwenigsten Schüler je wieder die Möglichkeit, an eine „bessere“ Schule zu wechseln oder später einmal eine höhere Ausbildung zu erlangen – es sei denn, ihre Eltern können sich eine Privatschule leisten. Wir haben herausgefunden, dass insbesondere die Schule in unserer Nähe, von wo etwa die Hälfte unserer Nachhilfeschüler kommen, den Ruf einer „Armenschule“ hat.

(Zur Erklärung: Die Kinder werden hier nicht automatisch einer Schule ihrer Wohngegend zugeteilt, sondern die Eltern müssen die Kinder an einer Schule ihrer Wahl anmelden und sich dann den Aufnahmekriterien der entsprechenden Schule unterordnen. Diese Aufnahmekriterien sind oft sehr willkürlich, bürokratisch und missbräuchlich: z.B. Vorgängiger Besuch einer – bezahlten! – „Ferienschule“ an der betreffenden Schule; Kauf einer Schuluniform; Bestehen einer Aufnahmeprüfung (deren Resultate nicht selten „frisiert“ werden); oder es werden direkt Schmiergelder gefordert. Das alles ist natürlich illegal, aber es werden kaum je Massnahmen ergriffen gegen diese Missbräuche.)

In Diskussionen über ein freiheitlicheres Schulwesen, Unterstützung von Privatschulen, Homeschooling, etc, wird oft das Argument vorgebracht, diese alternativen Bildungsformen kämen nur den reicheren Familien zugute, die es sich leisten könnten; während die Staatsschulen die soziale Integration förderten und die sozialen Unterschiede ausglichen. Die Geschichte der Hinterbänkler zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Staatsschule zementiert die bereits bestehenden sozialen Unterschiede und verstärkt diese noch. Unsere Nachhilfeschüler erleben und erleiden dies aus erster Hand mit.

Wenn ich mich in der Literatur prominenter Schulkritiker insbesondere in den USA umsehe, dann finde ich, dass ich mit meinen Beobachtungen nicht allein stehe. So bringt z.B. John Holt in „Teach Your Own“ (1981) folgende Beispiele:

„In den meisten grösseren Schulen werden die Kinder nach Leistungsniveau eingeteilt. (…) Nur sehr selten befinden sich Schüler unterschiedlichen Niveaus zusammen in derselben Klasse. Aber – und das ist der Hauptpunkt – eine Untersuchung nach der anderen hat gezeigt, dass diese Niveaus vollständig korrelieren mit dem Familieneinkommen und dem sozialen Status: die reichsten oder sozial prominentesten Kinder im höchsten Niveau, die ärmsten im untersten.
Theoretisch werden die Kinder gemäss ihren Schulleistungen diesen Niveaus zugeordnet. In der Praxis werden sie aber eingeteilt, sobald sie in die Schule eintreten; lange bevor sie überhaupt Zeit hatten, ihre Fähigkeiten zu zeigen. Sobald sie einmal einem Niveau zugeordnet sind, können wenige Kinder je wieder daraus entrinnen. Eine Lehrerin einer zweiten Klasse in Chicago erzählte mir einmal, dass sich in ihrer Klasse des untersten Niveaus, mit armen farbigen Kindern, zwei oder drei befanden, die ihre Schularbeiten hervorragend ausführten. Da sie alles schnell und gut lernten, gab sie ihnen Bestnoten. Sobald sie ihre ersten Noten eingereicht hatte, wurde sie zum Direktor gerufen und gefragt, warum sie einigen ihren Schülern Bestnoten gegeben hätte. Sie erklärte, dass diese Kinder sehr intelligent seien und alle ihre Aufgaben gut erledigt hätten. Der Direktor befahl ihr, die Noten herabzusetzen, weil – wie er sagte – diese Schüler nicht im untersten Niveau wären, wenn sie in der Lage wären, Bestnoten zu erzielen. Aber die Lehrerin fand heraus, dass diese Kinder fast unmittelbar nach ihrem Schuleintritt in das unterste Niveau eingeteilt worden waren.

Auch an den Schulen, die die Kinder nicht nach Niveau in Klassen einteilen, nehmen die Lehrer innerhalb der Klasse fast mit Sicherheit ihre eigene Einteilung vor. In „Freedom and Beyond“ habe ich dieses Beispiel wiedergegeben:

Ein noch schlimmeres Beispiel dieser Diskrimination findet sich im Artikel „Soziale Klasse der Schüler und Lehrererwartung: Die sich selbst erfüllende Prophetie in der Ghetto-Schulbildung“, von Ray Rist, in der „Harvard Educational Review“ vom August 1970. Dort wird eine Kindergärtnerin beschrieben, die nur acht Tage nach Schulbeginn, und einzig aufgrund der äusseren Erscheinung der Kinder (…), ihre Klasse in drei Niveaus einteilte, indem sie die Kinder an drei verschiedenen Tischen sitzen liess. Diese Einteilung blieb unverändert während des ganzen Schuljahres. Eine dieser Gruppen erhielt fast alle ihre Aufmerksamkeit und Unterstützung, während die anderen zwei zunehmend übergangen wurden, ausser wenn die Lehrerin ihnen Befehle erteilte oder eine negative Bemerkung über sie machte. Noch schlimmer: die Kinder am bevorzugten Tisch wurden dazu ermutigt, die Kinder an den anderen Tischen auszulachen und sie herumzukommandieren.
Rist folgte diesen Kindern während drei Schuljahren und berichtete folgendes: erstens, dass die Lehrer dieser Kinder in der ersten und zweiten Klasse eine ähnliche Gruppeneinteilung vornahmen; und zweitens, dass nur ein einziges jener Kinder, die im Kindergarten an einem der vernachlässigten Tische sassen, es je schaffte, dem bevorzugten Tisch zugeteilt zu werden. – Es ist sehr wahrscheinlich, dass die meisten Schulklassen ein ähnliches Kastensystem kennen.

(…) Wo Kinder unterschiedlicher Rassen in einer Schule integriert sind, da beginnt das normalerweise etwa in der dritten Klasse auseinanderzufallen, wenn nicht schon früher. Von der fünften Klasse an sind die Kinder in ihrem gemeinschaftlichen Leben fast vollständig nach ihren Rassen in Gruppen getrennt, die einander je länger je feindlicher gesinnt sind. (…) Es werden nur wenige Freundschaften über die Rassen- und Klassengrenzen hinweg geschlossen, und die zunehmende Gewalt an unseren High Schools kommt fast ausschliesslich von den Konflikten zwischen solchen Gruppen.
Die Vorstellung, dass die Schulen Kinder aus sehr unterschiedlichen Hintergründen in glücklichen Gruppen zusammenführen, ist zum allergrössten Teil einfach nicht wahr.“

John Taylor Gatto fand ebenfalls Hinweise auf eine politisch gesteuerte „Klasseneinteilung“, wie dieser Ausschnitt zeigt:

„Vier Arten von Schulklassen

Jean Anyon, ein Professor in Rutgers, untersuchte kürzlich vier Haupttypen von verdeckter Karrierevorbereitung, die gleichzeitig an den Schulen geschehen, alle unter dem Etikett „staatliche Schulbildung“. Alle werden von staatlichen Lehrern angewandt, alle haben etwa dasselbe Budget, und alle führen zu eminent politischen Resultaten.

In der ersten Art von Schulklasse werden die Schüler auf eine zukünftige mechanische und routinemässige Anstellung vorbereitet. Natürlich wird das weder den Schülern noch ihren Eltern gesagt, und die Lehrer selber sind sich dessen höchstwahrscheinlich auch nicht bewusst. Diese Ausbildung funktioniert so: Alle Arbeit wird stur der Reihe nach ausgeführt, beginnend mit sehr einfachen Aufgaben, und sehr langsam fortschreitend zu schwierigeren Aufgaben (aber nie zu sehr schwierigen). Die Studenten haben kaum Entscheidungen zu treffen, noch haben sie Wahlmöglichkeiten; routinemässiges Verhalten wird eingeübt. Die Lehrer erklären kaum je, wozu eine bestimmte Aufgabe dient, oder in welcher Beziehung eine bestimmte Aufgabe zu anderen Inhalten steht. Wenn Erklärungen abgegeben werden, sind sie oberflächlich und platt. „Du wirst das später im Leben brauchen.“ Die Lehrer verbringen den grössten Teil des Schultages damit, die Zeit und den Raum der Kinder zu überwachen und Befehle zu erteilen.

In der zweiten Art von Schulklasse werden die Schüler auf untergeordnete bürokratische Arbeiten vorbereitet, die kaum Kreativität erfordern, und wo kritische Beurteilungen des Managements nicht willkommen sind. Befehlen wird Folge geleistet, genau wie in der ersten Art von Schulklasse, aber diese Befehle erfordern oft ein gewisses deduktives Denken, bieten gewisse Wahlmöglichkeiten an, und lassen einen kleinen Freiraum für Entscheidungen des Schülers.

Die dritte Art von Schulklasse bereitet die Schüler auf produktive künstlerische, intellektuelle, wissenschaftliche und ähnliche Arbeiten vor. Hier arbeiten die Kinder oft kreativ und unabhängig. Durch diese Erfahrung lernen sie, die Wirklichkeit zu interpretieren und zu beurteilen, und ihre eigenen Kritiker und Unterstützer zu sein. Sie werden darin trainiert, allein zu arbeiten, ohne ständig überwacht oder gelobt zu werden. Der Lehrer beaufsichtigt diese Art Schulklasse mit Hilfe endloser Verhandlungen. Anyon kommt zum Schluss: ‚In dieser Art Unterricht erwerben die Kinder ein symbolisches Kapital; sie erhalten Gelegenheit, Fähigkeiten des sprachlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Ausdrucks zu erwerben, sowie zur kreativen Ausarbeitung von Ideen in konkreter Form.‘

Die vierte Art staatlicher Schulklasse trainiert die Schüler für zukünftige Eigentümerschaft, Leiterschaft und Aufsichtspositionen. Hier wird jede kontroverse soziale Frage diskutiert, und die Schüler werden dazu angehalten, eine Angelegenheit von allen Seiten her zu betrachten. Schliesslich muss ein Leiter jede mögliche Nuance der menschlichen Natur verstehen können, um Menschen wirksam zu mobilisieren, zu organisieren, oder jeden möglichen Gegner zu besiegen. In dieser Art von Schulklasse gibt es keine Pausenglocken, welche die Tätigkeit der Schüler unterbrechen. Diese Schulklassen bieten etwas, was die anderen nicht bieten: ‚die Kenntnis und praktische Anwendung von gesellschaftlich legitimierten Werkzeugen der Systemanalyse.‘

Es fällt mir auf, wie weit selbst Anyons „Elite“-Staatsschulklasse Nummer Vier noch hinter den Zielen privater Elite-Internate zurückbleibt; fast als ob die Staatsschulen nicht bereit wären, etwas Besseres anzubieten als eine schwache Annäherung an den Leiterschaftsstil solcher Eliteschulen. Was mich am meisten fasziniert, ist die Kaltblütigkeit dieser mangelnden Qualität, denn es würde fast nichts kosten, die Erwartungen einer Elite-Privatschule in einer anderen Umgebung zu erfüllen – z.B. im Homeschooling, oder sogar in John Gattos Schulzimmer -, während die therapeutische Gemeinschaft der psychologisierten Staatsschulen in ihrem Unterhalt äusserst teuer ist. Praktisch jedermann könnte im Stil von Groton (ein führendes Elite-Internat in den USA) ausgebildet werden, und das für viel weniger Geld, als die durchschnittliche Staatsschule kostet.“

(John Taylor Gatto, „Underground History of Amerikan Education“, 2003)

Der Fraser-Report über die Ergebnisse des „Homeschooling“ belegt mit deutlichen Zahlen, dass in einer Staatsschule die Kinder aus „bildungsschwachen“ Familien keineswegs dieselben Chancen haben, sondern ganz im Gegenteil: Solche Kinder machen viel bessere Fortschritte, wenn sie von ihren Eltern zuhause ausgebildet werden! Zitat:

„Aber selbst die Noten jener Kinder, deren Mütter die Sekundarschule (High School) nicht abgeschlossen hatten, blieben zwischen 80 und 90%. Im Gegensatz dazu erreichten die Schüler von Staatsschulen in Mathematik in der achten Klasse 63%, wenn ihre Eltern ein College abgeschlossen hatten, während jene Schüler, deren Eltern keine abgeschlossene Sekundarschulbildung hatten, nur 28% erreichten. – Schüler, die zuhause von Müttern ohne Sekundarschulabschluss ausgebildet wurden, erreichten volle 55 Prozentpunkte mehr als die Schüler von Staatsschulen aus Familien mit vergleichbarem Bildungsstand (Ray, 1997a). Wie Rudner sagt: “Die durchschnittliche Leistung von zuhause ausgebildeten Schülern, deren Eltern keinen College-Titel haben, ist viel höher als die durchschnittliche Leistung von Schülern in Staatsschulen.”
(Fraser Institute, „Bildung zuhause: Vom Extrem zum Anerkannten“, 2007)

Zum Schluss noch ein weiteres Beispiel von John Taylor Gatto, das zum Lachen wäre, wenn es nicht so traurig wäre. Er beschreibt hier, wie er als junger Aushilfslehrer seine erste Stelle antrat an einer berüchtigten New Yorker Unterschichtschule, die von den Lehrern den Übernamen „Todesschule“ erhalten hatte:

„Sehen Sie sich die Anweisungen an, mit denen ich ins zweite Stockwerk geschickt wurde, um meine Achtklässler zu treffen:

‚Guten Morgen, Herr Gatto. Sie haben Maschinenschreiben. Hier ist Ihr Programm. Erinnern Sie sich, DIE SCHÜLER DÜRFEN NICHT TIPPEN! Unter keinen Umständen ist es ihnen erlaubt, zu tippen. Ich werde unangekündigt vorbeikommen, um danach zu sehen, dass Sie meinen Anweisungen Folge leisten. GLAUBEN SIE NICHTS, WAS SIE IHNEN SAGEN über eine allfällige Ausnahme. ES GIBT KEINE AUSNAHMEN.‘

Stellen Sie sich die Szene vor: ein stellvertretender Schuldirektor, ein bereits legendärer Mann in diesem Schulbezirk, ein Mann mit donnernder Befehlsstimme, schickt den jungen Gatto in die dunklen Tunnels der Todesschule mit diesen Worten:

‚Kein Buchstabe, keine Zahl, kein Satzzeichen von diesen Tasten, oder Sie werden nie mehr hier angestellt werden. Gehen Sie jetzt.‘

Als ich fragte, was ich denn stattdessen tun sollte mit dieser Klasse von fünfundsiebzig Schülern, antwortete er: ‚Nutzen Sie Ihre eigenen Mittel. Erinnern Sie sich, Sie haben keine Erlaubnis zum Tippen!‘ “

(John Taylor Gatto, a.a.O.)

Ich möchte hier die Fortsetzung der Geschichte nicht verraten. Wer Englisch kann, möge sie selber nachlesen; das Buch ist vollumfänglich veröffentlicht bei http://www.johntaylorgatto.com . Sehr lesenswert!

– Und was tun wir angesichts dieser Situation? – Leider haben wir nicht die Möglichkeit, auf das Schulsystem Einfluss zu nehmen. (Wir hatten auch nicht das Vorrecht, in einer „Schulklasse der vierten Art“ ausgebildet worden zu sein…) Dafür versuchen wir, in unseren eigenen vier Wänden einen kleinen Beitrag zu leisten: Bei unseren Nachhilfeschülern gibt es keine Hinterbänkler! In unserer Stube gibt es gar kein „Hinten“ oder „Vorne“. Die Kinder sitzen in Gruppen verteilt im Raum, möglichst jene Schüler zusammen, die an ähnlichen Aufgaben arbeiten. Wir arbeiten abwechselnd mit jeder Gruppe zusammen, helfen, beantworten Fragen, geben Denkanstösse, und geben jedem Kind zu verstehen, dass es willkommen ist. Soweit möglich, versuchen wir auch mit jedem Kind seinem Entwicklungsstand und Verständnis entsprechend zu arbeiten. Da macht uns leider die Schule oft einen Strich durch die Rechnung, wenn die Kinder mit Hausaufgaben kommen, die sie unbedingt erledigen müssen und die von ihrem Verständnis weit entfernt (oder schlicht absurd und sinnlos) sind. Wir helfen ihnen dann einfach, so schnell wie möglich damit fertig zu werden, damit wir ihnen nachher Dinge erklären können, die ihnen wirklich helfen weiterzukommen. – Vor allem aber versuchen wir, jenen Kindern, denen in der Schule das Etikett „dumm“ aufgeklebt worden ist, dieses Etikett allmählich wieder abzurubbeln. Bei einigen Schülern, die schon seit über einem Jahr zu uns kommen, beginnt es zu funktionieren; zur grossen Verwunderung ihrer Lehrer.

Trockenzeit im peruanischen Hochland

20. Juli 2010

Heute möchte ich versuchen, einige Eindrücke vom hiesigen Klima zu geben. Hier auf der Südhalbkugel der Erde befinden wir uns in der kältesten Zeit des Jahres. Im peruanischen Hochland ist das gleichzeitig die Trockenzeit. Ca. von Mai bis August fällt kaum ein Tropfen Regen, und der Himmel ist oft wolkenlos klar. Von den Andengipfeln aus hat man in dieser Jahreszeit eine wunderbare Fernsicht.

In der Nacht liegen die Temperaturen um minus 5 Grad. (Es gibt Gegenden, wo es kälter wird. In der Region Puno, am Titicacasee, gab es letzte Woche Temperaturen unter minus 20 Grad.) Tagsüber wird es dennoch 15 bis 20 Grad am Schatten (an der Sonne noch wärmer), denn die Sonne scheint intensiv in diesen tropischen Breiten. Erst recht die Höhensonne auf über 3000 Metern über Meer. Die Temperaturschwankungen im Lauf des Tages sind deshalb enorm.

Man spürt es in dieser Jahreszeit besonders, dass die Häuser keine Heizung haben. Morgens haben wir jeweils noch 14 Grad in der Stube. In anderen Häusern ist es noch kälter, weil sie kleinere oder gar keine Fenster haben, durch die die Sonne hineinscheinen könnte. Beim Morgenessen um sieben Uhr können wir uns bereits an der Sonne wärmen, und am Mittag sind wir froh, dass die Sonne so hoch steht, dass sie nicht mehr zum Fenster hereinscheint.

Wir leben also mit ziemlich extremen Temperaturunterschieden. Man spürt das besonders, wenn man morgens etwa zwischen acht und neun Uhr einen Spaziergang macht: Am Schatten liegt die Lufttemperatur immer noch um den Nullpunkt; aber die Sonne steht schon so hoch am Himmel, dass sich Gegenstände, die an der Sonne liegen, bis auf 30 Grad und mehr erwärmen. Man muss sich also entscheiden, ob man warm angezogen am Schatten gehen will oder mit leichter Kleidung an der Sonne.

Schnee gibt es keinen, weil es in dieser Jahreszeit ja kaum Niederschläge gibt. Die Schneegrenze liegt normalerweise bei etwa 5000 Metern über Meer. Ab und zu schneit es bis auf etwa 4000 Meter herunter; aber der Schnee schmilzt meistens an der Mittagssonne gleich wieder weg. Wenn es in der Trockenzeit einmal ausnahmsweise stärkere Niederschläge gibt und der Himmel auch tagsüber bedeckt bleibt, dann ist das eine kleinere Katastrophe, denn die Hochlandbewohner sind überhaupt nicht für Schnee eingerichtet! Das Vieh findet dann kein Futter mehr, weil das Gras unter dem Schnee begraben ist; und der Strassenverkehr in den hochgelegenen Gegenden bricht zusammen. – Die Kälte fordert auch ohne Schnee ihre Opfer: immer wieder sterben Kleinkinder an Erkältungskrankheiten.

Auf obiger Foto kann man sehen, wie die zum Trocknen aufgehängte Wäsche in der kalten Luft richtiggehend dampft, wenn die Sonne daraufscheint!

Wer in dieser Jahreszeit aus dem Tiefland heraufkommt, wird die Trockenheit besonders spüren: Die Haut trocknet schnell aus, besonders die Lippen; und nach einigen Tagen wird man wahrscheinlich ein Kratzen im Hals und einen trockenen Husten verspüren.

Die Trockenheit während dieser Jahreszeit ist möglicherweise auch der Grund, warum in Mitteleuropa heimische Früchte wie z.B. Äpfel und Birnen hier im Hochland nicht gedeihen, obwohl die Temperaturen hier im Durchschnitt sogar etwas wärmer sind als in Europa. (Einige Palmenarten hingegen wachsen noch auf Höhen von über 3500 Metern, Eukalyptusbäume bis auf 4000 Meter.)

Foto: Eukalyptuswald auf ca. 3700 Metern Höhe.

In dieser Jahreszeit spürt man den „Winter“ manchmal sogar im Urwald des Amazonastieflandes, wo es normalerweise zwischen 30 und 40 Grad heiss ist. Aber manchmal dringt die kalte Luft aus den Anden bis in den Urwald vor und führt dort zu einer deutlichen vorübergehenden Abkühlung. Letzte Woche wurden z.B. aus dem Urwald Temperaturen um 9 Grad gemeldet. Für ein paar Tage im Jahr müssen also auch die Urwaldbewohner ihre warme Kleidung aus dem Schrank nehmen – falls sie welche haben.

Gottes Befreiungsaktion

10. Juli 2010

„So hat Gott der Herr gesagt: Ich wende mich gegen die Hirten, und werde meine Schafe aus ihrer Hand zurückfordern, und werde sie nicht mehr die Schafe weiden lassen; und die Hirten werden auch nicht mehr sich selbst weiden, denn ich werde meine Schafe aus ihrem Maul befreien, und sie werden ihnen nicht mehr zum Frass sein.“
(Ezechiel 34,10)

„Ich bin der gute Hirte.“ Das ist einer der bekanntesten Aussprüche von Jesus. Wer hat nicht schon einmal ein solches Bild gesehen – als Gemälde, als Kirchenfenster, oder in einem christlichen Buch -: Jesus als Hirte, der ein Schäflein beschützend in seinen Armen trägt.

Weniger bekannt ist, dass Jesus mit diesem Ausspruch auf eine ausführliche ältere Prophetie zurückverwies, die ein ganzes Kapitel im Alten Testament einnimmt: Ezechiel 34. In den ersten Abschnitten dieses Kapitels beschreibt Gott die Missbräuche, die von den „Hirten Israels“ begangen werden:

„Aber ihr esst das Fett und bekleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete; aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Der Schwachen nehmt ihr euch nicht an, und die Kranken heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; sondern streng und hart herrscht ihr über sie.“
(Verse 3 und 4).

Mit „Hirten“ sind hier die Leiter des Volkes gemeint: die politischen Anführer, aber wahrscheinlich noch mehr die religiösen Leiter. Schliesslich brauchen wir bis heute das lateinische Wort für „Hirte“ – „Pastor“ -, um einen religiösen Leiter zu bezeichnen. Diese „Hirten“ haben nicht das getan, was man von einem echten Hirten erwartet. Stattdessen haben sie ihre Macht missbraucht, um auf Kosten der Schafe ihre eigenen Bedürfnisse zu stillen. Das wird heute „geistlicher Missbrauch“ genannt. Darunter leiden die Schafe:

„Und meine Schafe irren umher, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zur Beute geworden und zerstreut worden. Sie gingen verloren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln, und über die ganze Erde sind sie zerstreut worden; und da war niemand, der sie suchte oder nach ihnen fragte.“
(Verse 5 und 6).

Ganz ähnlich drückt sich auch Jesus in der Rede vom guten Hirten aus:

„Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Einbrecher; aber die Schafe hörten nicht auf sie. … Aber der bezahlte Knecht, der nicht der Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, der sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht, und der Wolf reisst die Schafe und zerstreut sie. So flieht der bezahlte Knecht, weil er ein bezahlter Knecht ist, und die Schafe kümmern ihn nicht.“
(Johannes 10, 8.12-13)

Das sind harte Worte. Aber haben wir nicht heute eine ganz ähnliche Situation? Ich bin in meinem Leben vielen religiösen Leitern begegnet, die eine Art Besitzrecht auf „ihre Schafe“ geltend machten – und sehr wenigen, die das nicht taten.

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Wir Seifensieder

6. Juli 2010

Die Herstellung von Seife ist ein klassisches Experiment, das in den meisten Chemiebüchern vorkommt. Normalerweise braucht man dazu Natronlauge, die wir aber nicht kaufen können. In alten Zeiten haben jedoch viele Bauernfamilien ihre eigene Seife hergestellt – ohne Natronlauge. Wie machten sie das?

Die Lauge gewannen sie aus Holzasche, die damals, als es noch keine Gas- und Elektroherde gab, im Überfluss vorhanden war. Wir beschlossen, das auch auszuprobieren. Da hierzulande die meisten Bäcker ihr Brot immer noch im Holzofen backen, konnten wir problemlos einige Kilo Asche bekommen.

Die Asche wird gesiebt, damit sie frei von Fremdkörpern und unvollständig verbrannten Holzstücken ist.

Das ist das Zubehör für den nächsten Schritt. Der Boden eines Plastikgefässes (ganz links) wird mit Löchern versehen, und darüber wird eine Schicht grober Sand oder kleine Kieselsteine eingefüllt. Darüber kommt eine Schicht Stroh (rechts davon bereitgestellt). Stroh und Sand bilden zusammen den Filter. (Laugen kann man nicht mit Filterpapier oder Stoff filtern, da sie solche Substanzen auflösen!) Darüber kommt die Asche (rechts davon). Das so gefüllte Filtergefäss wird über einen leeren Eimer gestellt (ganz rechts). Dann wird heisses Wasser eingefüllt. Dieses löst nach und nach die Lauge aus der Asche und tropft durch die Löcher im Boden langsam in den Eimer. Wenn es nicht mehr tropft (nach mehreren Stunden), kann man das Wasser aus dem Eimer nochmals über die Asche giessen und ein zweites Mal durchlaufen lassen.

Oben: Hier tropft die Lauge in den Eimer…

Dann muss die Lauge durch Verdunsten des Wassers konzentriert werden, z.B. durch Aufkochen (dazu darf man aber weder Metall- noch Glasgefässe verwenden!). Wir brauchten stattdessen unseren Solar-Verdunster dazu (siehe 6.Teil). Traditionellerweise soll die richtige Konzentration früher dadurch festgestellt worden sein, dass ein Ei in der Lauge obenaufschwimmt. Das Ei ist nach diesem Versuch aber nicht mehr essbar. – Wir stellten die Konzentration stattdessen durch Titration fest, was wir zuvor bereits geübt hatten (Teil 7).

Jetzt sind wir also bereit zum eigentlichen Seifensieden. Fett oder Öl wird zusammen mit der Lauge unter ständigem Umrühren etwa eine halbe Stunde lang im Wasserbad aufgekocht.

Auf diese Weise entsteht Kaliseife, die weicher ist als Natriumseife, da die Aschenlauge Kalium statt Natrium enthält. Man kann sie in Natriumseife verwandeln, indem man etwas Kochsalz dazugibt. Rechts im grösseren Geschirr ist die Kaliseife, links im Becher die hartgewordene Natriumseife:

Natürlich ist diese Seife längst nicht so fein wie die industriell hergestellte. Die Zutaten sind nicht so rein, und die Aschenlauge ist nicht so reaktiv wie Natronlauge, weil sie mehr Karbonat als Hydroxid enthält. Ich erhielt zwei Verbesserungsvorschläge:

– Durch längeres Aufkochen der Lauge (noch ohne das Fett) sollte mehr CO2 frei werden, sodass sich ein Teil der Karbonate in Hydroxide verwandelt.
– Derselbe Effekt kann durch Zugabe von gelöschtem Kalk erreicht werden; das ist wirksamer, braucht aber auch längeres Aufkochen und/oder Schütteln.

Wir kamen noch nicht dazu, das auszuprobieren – wir haben leider nicht mehr so viel Zeit für unsere chemischen Experimente. Vielleicht bei anderer Gelegenheit. Wir schätzen es jetzt mehr, unsere Seife im Laden kaufen zu können, seit wir uns vorstellen können, wieviel Arbeit dahintersteckt…