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Neue Märchenstunde

13. April 2021

Hinweis: Wie im Titel schon angedeutet, handelt es sich im folgenden um ein Märchen. Allfällige Übereinstimmungen mit realen Personen oder Ereignissen sind nicht beabsichtigt.


Es war einmal … ein Stück programmierte DNS, eingehüllt in ein wenig Protein. Die Menschen nennen so etwas ein „Virus“. Klein und unscheinbar, wie alle Viren. Aber dieses Virus entdeckte eines Tages, dass seine DNS einige Sequenzen enthielt, die zuvor auf der Welt nur selten beobachtet worden waren. „Ich bin eine Neuheit!“, sagte sich das kleine Virus.
Es übte sich in der Tätigkeit aller Viren: Menschen krank zu machen, und dann schnell einen neuen Wirt zu suchen, bevor der vorherige wieder gesund wurde – oder allenfalls starb. Unser Virus entdeckte bald, dass die meisten seiner Wirte wieder gesund wurden. Normalerweise starben nur die sehr alten oder sehr kranken Menschen. „Ich verdiene es, berühmt zu werden!“, sagte sich das kleine Virus. „Warum bin ich nicht so mächtig wie das Masern- oder das Poliovirus?“

Doch dann entdeckte es, dass es eine andere geheimnisvolle Fähigkeit hatte: die Fähigkeit, Weltereignisse zu beeinflussen. Zum Beispiel konnte es sich in die Redaktionsstuben der grossen Massenmedien setzen und die Journalisten dazu bewegen, bestimmte Berichte zu schreiben und zu verbreiten. Zuerst benutzte es diese Fähigkeit dazu, widersprüchliche Geschichten über seine eigene Herkunft in die Welt zu setzen: „Ich bin ein Schweinevirus.“ – „Nein, ich bin in einer Hühnersuppe entstanden.“ – „Nein, ich bin in einem Labor gezüchtet worden.“ – „Ich komme aus Indien.“ – „Nein, ich komme aus den USA.“ – Alle diese Geschichten hatten eines gemeinsam: Sie betonten, dass das Virus neu war. So wurde es bekannt als „Das Neue Virus“.

Während sich nun die Menschen auf der ganzen Welt über die Herkunft des Virus stritten, konnte es ungestört weiteren Unfug treiben. Um berühmt zu werden, schlich es sich in die Spitäler ein und setzte seinen eigenen Namen auf alle Totenscheine. Egal ob jemand an Grippe gestorben war, an Herzversagen, Krebs, einem Verkehrsunfall oder an Verbrennungen, das Virus sagte: „Aber ich war auch da!“, und unterschrieb mit seinem Namen.
Die Journalisten schrieben eifrig darüber, wie viele Menschen an „Das Neue Virus“ gestorben seien. Einige Menschen starben vor Angst, wenn sie nur den Namen des Virus hörten; und so gab es noch mehr Tote.

Aber das war dem Virus noch nicht genug. Es begann sich vor die Eingänge von Geschäften, Schulen und Kirchen zu setzen, und den Menschen zu drohen: „Wenn du hier hineingehst, töte ich dich!“ Die Menschen bekamen Angst und gingen nicht mehr an diese Orte. Die Geschäftsleute hörten auf zu verkaufen, und die Produzenten hörten auf zu produzieren. Die Kinder hörten auf zu lernen. Die Kirchgänger hörten auf, an den Gott zu glauben, der stärker ist als jedes Virus, und der uns im Leben und im Sterben in seiner Hand hat.

Dann ging Das Neue Virus in die Politik. Es begann Gefallen zu finden an gewissen Parteien, aber andere verabscheute es. Es brachte die Journalisten dazu, zu schreiben: „Wenn du zur Partei ‚Faust aufs Auge‘ gehörst, dann kannst du ungehindert auf die Strasse gehen und demonstrieren. Das Neue Virus wird dir nichts antun. Aber wehe, du gehörst zur Partei ‚Lasst uns arbeiten‘! Dann wirst du am Tod von tausenden von Menschen mitschuldig, wenn du auf die Strasse gehst!“ – So gewann „Faust aufs Auge“ die nächsten Wahlen.

Dann digitalisierte sich Das Neue Virus und wurde zu einem Computervirus. Wenn jemand auf einer grossen Internetplattform etwas schrieb oder sagte, was dem Virus nicht gefiel, dann löschte es einfach das Benutzerkonto jener Person. Es erschien dann auf dem Bildschirm eine Mitteilung: „Dieses Konto wurde gelöscht wegen Verletzung unserer Verhaltensregeln.“ Wenn die Person nachfragte, was sie denn für eine Regel übertreten hätte, dann erhielt sie entweder gar keine Antwort, oder nur eine automatisierte Mitteilung: „Du hast Falschinformationen über Das Neue Virus verbreitet.“ Die Personen wussten natürlich nicht, dass am anderen Ende der Leitung kein Mensch sass, sondern nur ein Virus.

Besonders hasste Das Neue Virus seinen tödlichsten Feind: das menschliche Immunsystem. Deshalb begann es in den Massenmedien und im Internet systematisch die verfügbaren Informationen über das Immunsystem und dessen Stärkung zu löschen.

Da das Virus sehr eingebildet war, wollte es mit keinem der erprobten, preiswerten Medikamente bekämpft werden. Nur die neusten, teuersten, experimentellsten, riskantesten, und mit Milliarden von Steuergeldern finanzierten Arzneien und Behandlungen waren ihm gut genug. Deshalb nutzte es seinen Einfluss als Computervirus, um aus den neusten medizinischen Handbüchern und Forschungsberichten die Namen aller altbewährten und preiswerten Medikamente zu löschen, die ihm etwas anhaben konnten. Das ermöglichte ihm, noch mehr Menschen zu töten.

Da die Menschen immer noch Angst hatten, zur Arbeit zu gehen, gab es bald keine Autoersatzteile mehr, keine Leitungsröhren, keine Schrauben, kein Toilettenpapier, keinen Dünger, keine importierten Nahrungsmittel, … Alles wurde immer teurer. Menschen begannen zu verhungern. „Alles das hat Das Neue Virus getan“, schrieben die Journalisten.

Dann ging Das Neue Virus in die Finanzwelt. Es machte die Menschen glauben, es sei in der Lage, sogar Geldscheine und Münzen zu infizieren. Niemand mehr wollte diese Gegenstände anfassen: „Igitt, Virus!“ Deshalb waren alle Menschen froh, als das Bargeld endlich abgeschafft wurde. Aber das Virus hatte sich in die Datenverarbeitungszentralen der Banken gesetzt. Von dort aus sperrte es die Konten aller Personen, die einmal etwas gesagt oder geschrieben hatten, was dem Virus nicht gefiel. So konnten die Menschen keinen Lohn mehr erhalten, und konnten nichts mehr kaufen oder verkaufen.

Am Ende enteignete das Virus die Menschheit, und blieb als alleiniger Herrscher und Besitzer auf einer weitgehend verödeten Erde zurück.

Das alles tat Das Neue Virus ganz allein, ohne alles menschliche Dazutun. Allein das Virus ist schuld, niemand sonst.


PS: Falls dieses Blog eines Tages plötzlich verschwinden sollte, hier wird es möglicherweise etwas länger überleben.

Lykophobie

4. Januar 2016

Kürzlich wurde mir von einer nicht genannt werden wollenden Quelle die folgende Mitschrift einer öffentlichen Erklärung zugespielt:


Verehrte Pressevertretungspersonen und Lesepersonen, guten Tag. Schon das ist nur eine politisch korrekte Formel, die ich der Höflichkeit halber verwende, denn in Wirklichkeit ist es gar kein guter Tag. Aber ich möchte mich zuerst vorstellen. Ich bin der Pressesprecher der Schäfinnen (habe ich das jetzt richtig gesagt?) und Schafe von der Weide, und ich bin sehr erleichtert, dass ich vor unserer bevorstehenden völligen Ausrottung wenigstens noch diese Gelegenheit habe, mich an die Öffentlichkeit zu wenden.

Bis vor wenigen Jahren hat die Menschheit dankbar – wenn auch in den letzten Jahrzehnten allmählich immer weniger dankbar – von unserer Existenz profitiert, und Bedrohung kannten wir lediglich von unseren natürlichen Feinden. Aber in jüngerer Vergangenheit haben die einflussreichen Kräfte der Menschheit einen Ausrottungsfeldzug gegen uns begonnen. Nur weil wir an Lykophobie* leiden, und weil Lykophobie jetzt zu einem verabscheuungswürdigen Verbrechen erklärt worden ist!

*Lykophobie = Angst vor dem Wolf (von lykos = Wolf, und phobos = Angst).

Ich habe deshalb beschlossen, dass heute der Tag meines „Coming-Out“ sein soll: Ja, ich bin lykophob! Wenn ich einen Wolf sehe oder auch nur rieche, dann beginne ich zu zittern, mein ganzes Fell sträubt sich, und ich möchte so schnell wie möglich davonrennen, mich einschliessen oder in der Erde vergraben. Diese Eigenheit teile ich mit der überwältigenden Mehrheit meiner Mitschäfinnen und Mitschafe. Nach neuesten Statistiken sind über 99,4% aller Schäfinnen und Schafe lykophob. Wir fordern deshalb, dass unsere Lykophobie nicht länger psychiatrisiert oder kriminalisiert wird!

In diesem Zusammenhang sind einige Klarstellungen angebracht, weil wir Schäfinnen und Schafe gegenwärtig nämlich auf das Übelste verleumdet werden. Also:

Lykophobie hat nichts mit Hass zu tun.

Wie der Name schon sagt, ist Lykophobie in erster Linie eine Furcht, und zwar nicht einmal eine unbegründete, denn ein Wolf ist tatsächlich in der Lage, einer Schäfin oder einem Schaf ernsthaften Schaden zuzufügen. In der Presse wird aber immer wieder behauptet, wir Schafe hassten die Wölfe. Es wird sogar die Ansicht verbreitet, wir seien eine Gefahr für die Wölfe, und wir würden sie systematisch bekämpfen. Sehen Sie uns doch nur einmal an, dann verstehen Sie, dass wir das gar nicht tun könnten. Wir meiden nur die Wölfe. Wenn wir bemerken, dass sich Wölfe in der Nähe unseres Weideplatzes herumtreiben, dann suchen wir uns friedlich einen anderen Weideplatz. Wenn wir die Möglichkeit haben, dann bitten wir einen Vertreter der Menschheit, einen starken Schutzzaun um unsere Weide herum zu bauen, damit die Wölfe nicht eindringen können. Wir fordern die Öffentlichkeit auf, unser Recht zu respektieren, unter uns zu bleiben und von den Wölfen in Ruhe gelassen zu werden, weil wir es sind, die wir in Gefahr sind. Und bezeichnen Sie bitte diese unsere Lykophobie nicht mehr als „Hass.“

In Wirklichkeit sind wir Zielscheibe des Hasses.

Ich kenne eine grössere Anzahl von Mitschäfinnen und Mitschafen, die zwangsgeschoren wurden, weil sie ihre Herde darauf aufmerksam gemacht hatten, dass in der näheren Umgebung ihrer Weide ein Wolf hauste.
Ebenfalls eine grössere Anzahl Mitschäfinnen und Mitschafe wurden zur „Umerziehung“ ins Revier eines Wolfsrudels umgesiedelt. Bis heute hat uns niemand Auskunft gegeben darüber, was aus ihnen geworden ist.
Während des vergangenen Jahres sind die Schafe von 157 Weiden dazu gezwungen worden, ihre Zäune abzubrechen, um den Wölfen ungehinderten Zutritt zu lassen.
Im Vergleich zum Vorjahr haben die Übergriffe von Wölfen gegen Schafe um 276% zugenommen.

Ich bitte Sie, wann werden Sie die Konsequenzen aus diesen Fakten ziehen?

Lykophobie ist eine angeborene, unveränderliche Orientierung.

Lykophobie ist keine Krankheit, die zwangstherapiert werden sollte. Noch weniger ist sie ein Verbrechen, das bestraft werden sollte. Es ist die angeborene Orientierung der überwältigenden Mehrheit von uns Schäfinnen und Schafen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass sich Lykophobie schon im frühesten Lammesalter manifestiert, und dass sogenannte „Therapien“ nur in seltensten Fällen Erfolg haben. Wir haben es satt, ständig wegen dieser unserer angeborenen Orientierung diskriminiert zu werden!


So weit das Dokument. Darunter hatte jemand gekritzelt: „Was sind Schafe?“

Der Studienanwärter

10. September 2015

Wie alle Tage sass Nabal in seinem Büro am theologischen Seminar, wo er Direktor war, als sich ein neuer Anwärter für das Studium vorstellte. Er sah wie ein Bauer aus, oder ein einfacher Handwerker. Das war an sich nichts Aussergewöhnliches, da jenes Seminar sich in einer ländlichen Gegend des peruanischen Hochlandes befand, und oft interessierten sich Christen vom Land für das Studium. Nur hatten sie oft nicht das nötige Bildngsniveau dafür.

Der Bewerber brachte sein ausgefülltes Anmeldeformular mit, aber kein anderes Schriftstück. Das machte natürlich keinen vorteilhaften Eindruck.

– „Ihr Schulzeugnis bitte“, sagte Nabal.
Die Antwort überraschte ihn. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn der Bewerber gesagt hätte, er hätte die Schule nicht beendet. Aber er fragte: „Was ist das?“
– „Wie? Sie kommen hierher um zu studieren, und wissen nicht einmal, was ein Schulzeugnis ist? Sind Sie überhaupt zur Schule gegangen?“
– „Ja, in meinem Dorf. Aber sagen Sie mir bitte, was ein Schulzeugnis ist.“

Nabal ärgerte sich ein wenig über seine Beharrlichkeit, aber er beschloss, Geduld mit ihm zu haben.
– „Das ist ein Dokument, das bezeugt, dass Sie die Schule zufriedenstellend abgeschlossen haben; oder falls Sie nicht abgeschlossen haben, eine Bestätigung der Schuljahre und der Fächer, die Sie besucht haben. Sie sollten dieses Dokument von Ihrer Schule verlangt haben, bevor Sie sich hier anmeldeten.“

Er schien die letzte Bemerkung zu überhören. Stattdessen fragte er:
– „Dann ist dies kein Ort der Vorbereitung zum Dienst Gottes?“
– „Natürlich ist es das. Gerade deshalb wünschen wir, dass die Studenten alle verlangten Dokumente mitbringen, damit alles ordentlich und im Sinne des Herrn geschieht.“
– „Und ein Schulzeugnis würde Sie davon überzeugen, dass ich ein Diener Gottes bin?“

Jetzt musste Nabal sich sehr beherrschen, um nicht die Geduld zu verlieren über diesen vorlauten Fragen.
– „Es ist nicht Ihre Sache, unsere Kriterien zur Beurteilung unserer Studenten zu kritisieren. Wir wissen, wie wir die Qualität unserer Institution zu bewahren haben. Zeigen Sie mir bitte das Empfehlungsschreiben Ihres Pfarrers.“
Nabal erlebte eine weitere Überraschung, als der Bewerber antwortete:
– „Gott, mein Vater, empfiehlt mich.“
– „Wollen Sie sagen, dass Sie kein Empfehlungsschreiben haben?“
– „Empfehlungen von Menschen nehme ich nicht an. Wie könnt ihr glauben, die ihr Empfehlungen voneinander annehmt, aber nicht die Empfehlung sucht, die von Gott kommt?“

Dieses Mal konnte Nabal einen ärgerlichen Tonfall in seiner Stimme nicht vermeiden, als er antwortete:
– „Mit dieser kritischen Haltung werden Sie nie Erfolg haben im Dienst. Sie sind noch nicht einmal als Student angenommen worden, und versuchen bereits, unsere Geistlichkeit zu beurteilen.“
– „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, antwortete er einfach.
Diese Bemerkung rief Nabal schmerzhaft die Nachricht in Erinnerung, die er vor kurzem gelesen hatte, dass ein Absolvent des Seminars schuldig befunden worden war, ein Mädchen aus seiner Gemeinde vergewaltigt zu haben. Zuvor hatte es einen Fall von Betrug und Veruntreuung an seinem eigenen Seminar gegeben, den er mit so wenig Aufsehen wie möglich in Ordnung zu bringen versucht hatte. Aber war es etwa Sache dieses Fremden, das Seminar in Frage zu stellen?

Nabal beschloss, ihm eine letzte Gelegenheit zu geben, und fragte:
– „Haben Sie irgendwelche Erfahrung im geistlichen Dienst?“
– „Vor drei Jahren begann ich zu predigen.“
– „Dann kann Ihre Gemeinde sicher die Qualität Ihrer Predigten bezeugen?“
– „Ich denke nicht, dass sie dies tun würden. Um die Wahrheit zu sagen, sie ärgerten sich sehr über die Dinge, die ich ihnen sagte; noch mehr als Sie sich jetzt gerade ärgern. Sie wünschten nicht, dass ich nochmals dort predigte.“

Nabal blieb der Mund offen stehen vor solcher Kühnheit und entwaffnender Ehrlichkeit. Schliesslich fragte er:
– „Was taten Sie dann, nachdem Ihre Gemeinde Sie abgelehnt hatte?“
– „Ich ging an anderen Orten predigen.“
– „Aha. Sie sind ein Rebell, der von einer Gemeinde zur anderen wechselt und den Frieden der Geschwister stört; und um den Konsequenzen in einer Gemeinde auszuweichen, gehen Sie einfach zu einer anderen. Es tut mir sehr leid, aber für diese Art Leute haben wir keinen Platz an unserem Seminar.“
– „Das sagen Sie wahrheitsgemäss, obwohl Sie sich der Bedeutung Ihrer Worte nicht bewusst sind. Ich kam zu den Meinen, aber die Meinen nahmen mich nicht auf. Sie, die Sie die Bibel studieren, sollten besser verstehen, was mit jenen geschieht, die mich nicht aufnehmen. Ich verabschiede mich also von Ihnen und von diesem Seminar.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging.

Täuschte sich Nabal, oder glänzten wirklich Tränen in den Augen des Bewerbers, während er die letzten Worte sagte? Und er konnte sich des seltsamen Eindrucks nicht erwehren, dass diese Tränen nicht eine Trauer über die erfahrene Ablehnung ausdrückten, sondern einen tiefen und unerklärlichen Schmerz um ihn, Nabal selber.

Erst einige Minuten später wurde ihm bewusst, dass er ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte. Aber er hatte sein Anmeldeformular auf Nabals Schreibtisch liegengelassen. Er begann seine Personalien zu erkunden.

Name: Jesus.
Nachname: Bar-Josef.
Wohnort: Nazareth.

Nabal fühlte kalte Schauer über seinen ganzen Körper laufen. Er wollte hinausstürzen, um dem geheimnisvollen Studienanwärter nachzurennen, aber er war schon ausser Sicht. Nabals Augen öffneten sich für die erschreckende Wahrheit: Indem er ihn disqualifizierte, hatte er in Wirklichkeit sich selber disqualifiziert, und die ganze Institution, die er vertrat. Die Gegenwart des Herrn am Seminar war verlorengegangen, vielleicht für immer.

Die Falschmünzer (3.Teil – Schluss)

12. März 2015

Fortsetzung der Gleichnisgeschichte in den letzten beiden Beiträgen

Der Fremde verabschiedete sich und liess mich allein mit meinem inneren Aufruhr. Ich beschloss, alles daran zu setzen, die Wahrheit herauszufinden.

Doch meine Nachforschungen wurden jäh unterbrochen, noch bevor sie richtig begonnen hatten. In der Stadt wurde nämlich bekanntgemacht, die Anführer der Falschmünzerbande seien ausfindig gemacht und gefasst worden. Sie würden am nächsten Morgen auf dem Stadtplatz öffentlich hingerichtet.

Hingerichtet?? Das hatte ich nun doch nicht erwartet. Am nächsten Morgen trieb ich mich am Rand des Stadtplatzes herum, ohne jegliche Lust, einer öffentlichen Hinrichtung beizuwohnen; aber ich wollte doch wenigstens etwas über die Hintergründe erfahren. Ich sah die drei Angeklagten am anderen Ende des Platzes stehen; unter ihnen den Fremden, mit dem ich einige Tage zuvor gesprochen hatte.
In diesem Moment sah ich einen der Knechte des Münzmeisters in meiner Nähe durch die Menge der Schaulustigen gehen. Ich sprach ihn an:

„Entschuldigen Sie. Warum werden diese Männer hingerichtet?“

„Wissen Sie das nicht? Das sind doch die Falschmünzer, die seit Monaten unsere Stadt durcheinanderbringen. Das sind Verräter am Reich.“

„Ich habe noch nie gehört, dass auf Falschmünzerei die Todesstrafe steht.“

„Was diese Männer tun, ist Hochverrat! Sie tun das auf eine so systematische Weise, dass sie die Leute abtrünnig machen. Die Leute, die ihr Geld angenommen haben, haben damit ihre Rebellion gegen das Reich ausgedrückt. Sie sind zu Separatisten geworden! Sie haben die Ehre des Reichs geschändet! Sie …“

Er begann sich zu ereifern. Ich unterbrach ihn:

„Entschuldigen Sie, aber wann hat denn der Prozess stattgefunden? Wenn die Todesstrafe gefordert wird, dann muss es doch einen öffentlichen Prozess geben.“

„Was? Wollen Sie etwa diese Schurken in Schutz nehmen??“

„Nein, das nicht, ich meine nur – die Verurteilung muss doch auf rechtmässige Weise geschehen, und …“

„Hau ab, oder ich lasse dich als Komplizen verhaften!!“

Erschrocken über diese heftige Reaktion, verliess ich den Platz. Eigentlich war ich ja froh, dem schrecklichen Schauspiel nicht beiwohnen zu müssen.

* * * * *

Die Hinrichtung war natürlich einige Tage lang in aller Munde. Aber mit der Zeit kehrte Ruhe ein, und bald ging alles wieder seinen gewohnten Lauf wie zuvor.

Es vergingen etwa drei Jahre. Von den Falschmünzern wurde kaum noch gesprochen. Von jenen, die sich auf ihre Seite geschlagen hatten, hatten einige wenige ihre Verfehlung bekannt und wurden nach Auferlegung einer Geldstrafe wieder in ihre frühere ehrenhafte Stellung eingesetzt. Die übrigen waren anscheinend in eine andere Gegend gezogen; jedenfalls wurden sie nicht mehr gesehen.

Da wurde ich eines Tages plötzlich durch einen lauten Lärm und Aufruhr aufgeschreckt. Er schien vom Stadtplatz her zu kommen. Neugierig machte ich mich auf den Weg. Dabei traf ich auf viele andere Menschen, die in dieselbe Richtung gingen.

In der Mitte des Stadtplatzes stand auf einem Podest ein Ausrufer, der an seiner Uniform sofort als königlicher Bote zu erkennen war. Er hatte ein Papier mit dem königlichen Siegel in der Hand und war umringt von vier Reihen bewaffneter Soldaten. Das war ein ganz aussergewöhliches Ereignis. Seit ich mich erinnern konnte, war noch nie ein Gesandter des Königs bis zu unserem Städtchen gelangt.

„Der König hat beschlossen, in dieser Stadt unverzüglich die Ordnung wiederherzustellen“, sagte er gerade. „Der königliche Gerichtsvollzieher ist bereits auf dem Weg hierher.
Der Münzmeister und der Vorsitzende der Krämervereinigung dieser Stadt sind schuldig befunden worden, ihre Untergebenen zum Mord an nicht weniger als fünfunddreissig königlichen Gesandten angestiftet zu haben, die in den vergangenen Jahren versuchten, diesen Ort zu erreichen. Mehrere der unmittelbaren Täter haben vor dem königlichen Gericht Geständnisse abgelegt. Nur dank der Unterstützung dieser Spezialtruppe“ (dabei deutete er auf die Soldaten) „war es uns möglich, die Macht dieser Verschwörung zu durchbrechen, um heute auf diesem Platz zu Ihnen sprechen zu können.
Die Verschwörer haben noch weitere Arten von Nachrichtensperren aufgerichtet. Deshalb dürfte den meisten unter Ihnen die Tatsache unbekannt sein, dass diese Stadt während der vergangenen Jahrzehnte von einer Bande von Verschwörern regiert worden ist, die schon lange vom König abtrünnig geworden sind.
Ausserdem haben die genannten Verschwörer die königlichen Münzbeauftragten, die vor drei Jahren hier ihre Mission ausführten, als Falschmünzer verleumdet und durch einen Justizmord hinrichten lassen. Sie werden deshalb ihrer gerechten Strafe zugeführt, sobald die königlichen Truppen ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht haben. Ihre Helfershelfer werden als blosse Befehlsempfänger in den königlichen Gefängnissen noch eine Gelegenheit zur Umkehr erhalten.
Der Truppenkommandant und ich selber danken Ihnen zum voraus für jeden sachdienlichen Hinweis, der zur Verhaftung des Münzmeisters und des Vorsitzenden der Krämervereinigung beiträgt. Wer ihren Aufenthaltsort kennt und verheimlicht, kann als Fluchthelfer selber unter Strafe gestellt werden.
Die gesamte Stadtregierung hat mit den Verschwörern gemeinsame Sache gemacht und ist deshalb hiermit unverzüglich abgesetzt. Der König hat einen Gouverneur eingesetzt, der zum nächstmöglichen Termin die Regierung dieser Stadt übernehmen wird. Ihm zur Seite werden einige königstreue Bürger dieser Stadt stehen, die von den königlichen Münzbeauftragten identifiziert worden sind. Sie dürften Ihnen bekannt sein, obwohl sie gegenwärtig an einem anderen Ort unter königlicher Obhut leben. In der Zwischenzeit wird diese Truppe unter ihrem Kommandanten die Ordnung aufrechterhalten.“

Ich blickte verstohlen auf dem Platz umher. Tatsächlich konnte ich weder den Münzmeister, noch den Vorsitzenden der Krämervereinigung, noch einen ihrer engsten Mitarbeiter, noch irgendein Mitglied der Stadtregierung entdecken. Normalerweise sassen sie bei offiziellen Anlässen alle gut sichtbar auf den Ehrenplätzen einer Tribüne. Aber anscheinend hatten sie sich aus dem Staub gemacht, sobald sie erkannt hatten, dass sie die Ankunft des königlichen Boten nicht mehr aufhalten konnten.

* * * * *

Der neue Gouverneur entpuppte sich als ein sehr zugänglicher, vor allem aber ein aufrichtiger und gerechter Mann. Er hatte ein offenes Ohr für alle Arten von Anliegen aus der Bevölkerung. Von einer Gewaltherrschaft – wie einige Kreise es befürchtet hatten – konnte keine Rede sein.

Einige Dinge änderten sich allerdings. Es wurde kaum noch von der „Ehre des Reiches“ gesprochen; dafür um so mehr vom König, seinen gerechten Beschlüssen, und was ihm wohlgefällig war. Die Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft unter den Einwohnern nahm allgemein zu. Manche Diebe und Betrüger brachten freiwillig gestohlenes Gut zu den rechtmässigen Eigentümern zurück und wurden rehabilitiert. Andererseits wurden manche einflussreiche und angesehene Bürger allgemein als die selbstsüchtigen Betrüger erkannt, die sie schon immer gewesen waren, und verloren allmählich ihren ganzen Einfluss.
Die Versammlungen im Münztempel wurden nur noch spärlich besucht. Keiner der noch verbliebenen ehemaligen Funktionäre war auch nur ein annähernd so hinreissender Redner, wie es der Münzmeister gewesen war. Ihre Klagen, die neue Regierung hätte durch die Anerkennung des „Falschgeldes“ die Ehre des Reiches geschmälert, fanden nicht allzu viel Gehör.
Manche Krämer mussten ihre Geschäfte schliessen. Nicht etwa, weil sie dazu gezwungen worden wären; aber ihre Geschäfte rentierten einfach nicht mehr. In manchen Fällen lag es schlicht daran, dass sie sich weiterhin weigerten, das Geld des Königs anzunehmen. Es wurde auch berichtet, in einigen Banken seien Münzen verrostet, und in Banknoten seien auf unerklärliche Weise Mottenlöcher erschienen, die sich vergrösserten, bis die Noten auseinanderfielen. Es wurde nicht viel darüber gesprochen, aber diese seltsamen Vorgänge trugen dazu bei, dass mehr Menschen bereit waren, das Geld des Königs zu akzeptieren.
Die führenden Geschäftsleute waren jetzt nicht mehr jene, die sich zuerst darum kümmerten, wie die Leute über sie sprachen; sondern jene, deren erstes Anliegen es war, die Gerechtigkeit des Königs zu erfüllen.

Aufgrund dieser Entwicklung nahm das gegenseitige Vertrauen der Bürger ständig zu und war jetzt viel stärker, als es unter der früheren Regierung je gewesen war. Manche Leute schlossen nicht einmal mehr ihre Häuser ab, weil es kaum noch Diebe und Einbrecher gab. Während früher Verträge im Rahmen einer feierlichen Zeremonie schriftlich vor Zeugen und unter Berufung auf die Ehre des Reiches abgeschlossen worden waren, so genügte jetzt ein mündliches Versprechen und ein Handschlag.

Inmitten dieser Entwicklungen kam mir ein Ausspruch des Münzmeisters in den Sinn: „Wir müssen uns nun einmal damit abfinden, dass wir unvollkommene Menschen in einer unvollkommenen Welt sind.“ Damals hatte ich ihm das als eine Selbstverständlichkeit abgenommen. Aber nun, mit der neuen Wirklichkeit vor Augen, erkannte ich jenen Ausspruch als das, was er wirklich war: Eine Ausflucht, um nicht den Willen des Königs tun zu müssen.
Ja, wir waren immer noch unvollkommene Menschen. Aber wir standen jetzt unter einer gerechten und liebenden Regierung, und schon das trug viel dazu bei, dass die Gerechtigkeit und Nächstenliebe unter uns zunahmen. Wo die „Unvollkommenheiten“ zu Ungerechtigkeiten, Gewalttaten u.ä. auswuchsen, stellte die Regierung wieder Gerechtigkeit her; und wenn sich jemand aus der Regierung verfehlen sollte, konnte man sich jederzeit an den königlichen Ombudsmann wenden. – Auch der Gebrauch des Königsgeldes muss stark zu diesen Veränderungen beigetragen haben, obwohl ich mir noch nicht erklären konnte warum.

Es gab noch verschiedene Überraschungen. Bei Renovationsarbeiten am Rathaus wurde an der Wand der grossen Eingangshalle eine Inschrift und ein grosses königliches Siegel entdeckt, die mit Verputz überdeckt und übermalt worden waren. Es ging daraus hervor, dass der König selber nicht nur das Rathaus, sondern überhaupt grosse Teile unserer Stadt auf eigene Kosten hatte erbauen lassen. Noch manche anderen Wohltaten des Königs waren seinerzeit verheimlicht und der früheren Stadtregierung zugeschrieben worden. Das einzige Gebäude, das jene Regierung tatsächlich selber errichtet hatte – mit Hilfe harter Fronarbeit der Bevölkerung -, war der Münztempel.

* * * * *

Eines Tages machte Aquilas sein indirektes Versprechen wahr, mich wieder einmal einzuladen. Er gehörte zu jenen, die nach der Hinrichtung der königlichen Beauftragten aus der Stadt verschwunden waren und drei Jahre später als Mitarbeiter des Gouverneurs zurückkehrten. Ich erfuhr, dass er jene ganzen drei Jahre in der engeren Umgebung des Königs verbracht hatte und jetzt mit der königlichen Politik bestens vertraut war. Er konnte mir sehr einleuchtend erklären, was die wesentlichen Unterschiede zwischen der Politik der früheren Regierung und dem Willen des Königs waren. So begann ich zu verstehen, warum „die Gerechtigkeit des Königs“ seinen Willen viel besser beschrieb als „die Ehre des Reiches“.

Er erklärte mir auch einiges über die Bedeutung des Geldes des Königs:

„Es heisst ‚das Geld des Königs‘, weil es im wahrsten Sinne des Wortes Eigentum des Königs ist. Niemand kann es für sich selber besitzen. Wer Königsgeld hat oder gebraucht, drückt damit aus, dass sein Besitz und sogar er selber dem König gehört. Deshalb können mit Königsgeld nur solche Dienste bezahlt werden, die im Sinne des Königs sind; und man kann damit nur das tun, was dem König wohlgefällig ist.
Sogar das Wort ‚bezahlen‘ ist nicht ganz angebracht, wenn wir vom Geld des Königs sprechen. Es wäre richtiger, von ‚gegenseitigem Schenken‘ zu sprechen, so wie auch der König uns ursprünglich alles geschenkt hat, was wir sind und haben.“

Bisher war es mir ein Rätsel gewesen, warum ich gewisse Geschäfte nur mit dem alten Reichsgeld tätigen konnte, obwohl ich inzwischen die Rechtmässigkeit des Königsgeldes anerkannt hatte. Durch Aquilas‘ Erläuterungen wurde mir das nun klar. – Er fuhr fort:

„Deshalb können auf das Königsgeld auch keine Steuern erhoben werden. Für den König selber wäre es sinnlos, solche Steuern zu erheben, da ihm das Geld ja bereits gehört. Und jede untergeordnete Regierungsstelle, die eine solche Steuer einziehen wollte, würde sich damit unrechtmässig das Eigentum des Königs aneignen. Nur der König selber hat Macht darüber, was mit seinem Geld geschehen soll.“

Allmählich begann ich noch andere Dinge zu verstehen. Schon unter der alten Regierung wurde oft davon gesprochen, dass es einen angebrachten und einen unangebrachten Gebrauch des Geldes gibt, und dass wir verantwortliche Haushalter sein müssten. Dahinter erkannte ich nun den im Kern richtigen Gedanken, das Geld im Sinne des Königs zu verwenden. Nur war diese Idee bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden, indem als Massstab die „Ehre des Reiches“ anstelle des königlichen Willens gesetzt worden war. Deshalb hatte es unter der alten Regierung als rechtmässig gegolten, zu lügen, zu betrügen, Arme zu bedrängen und um ihr Gut zu bringen, willkürliche Steuern einzuziehen, und anderes mehr, wenn es nur „zur grösseren Ehre des Reiches“ beitrug. Mit dem Geld des Königs konnte man nichts von alldem tun.

Aquilas kannte sich offenbar in diesen Dingen gut aus. Ich getraute mich deshalb, ihm eine Frage zu stellen, die mich schon länger umtrieb, und auf die ich keine befriedigende Antwort gefunden hatte:

„Warum haben sich eigentlich die Münzbeauftragten des Königs nicht offen als solche zu erkennen gegeben? Warum haben sie sich so klammheimlich eingeschlichen? So war es doch unvermeidlich, dass sie sich allen möglichen Verdächtigungen aussetzten.“

„Sie trugen das Geld des Königs. War das nicht Ausweis genug?“

„Aber wir wussten ja nicht, dass es das echte Geld war. Wir sind ja unser Leben lang belogen worden.“

„Hätten wir dann den königlichen Beauftragten geglaubt, wenn sie irgendeinen zusätzlichen Ausweis vorgelegt hätten? Oder wenn sie eine öffentliche Ankündigung auf dem Stadtplatz gemacht hätten? So belogen wie wir waren, hätten wir sie dann nicht erst recht als Verräter verschrieen und verhaftet?“

„Aber ich denke doch, dass sie als Vertreter des Reiches – des Königs“ (verbesserte ich mich) “ – sich wenigstens offen als solche hätten identifizieren sollen.“

„Das Reich ist nicht etwas, was man mit den natürlichen Augen sehen könnte. Nur wer Augen des Glaubens hat, kann es sehen.“

Das erinnerte mich an einen Ausspruch, der mir aus meiner Kindheit vertraut war. Er klang ganz ähnlich, aber doch irgendwie anders. In dem Moment verstand ich, was es in Wirklichkeit bedeutete. Und da geschah in mir die bedeutsamste Veränderung meines Lebens.
Ich widerrief meinen früheren Entschluss, mich „im Glauben“ als einen Bürger des Reiches zu betrachten. Oder besser gesagt, ich erkannte, dass dieser Entschluss in meinem Herzen bereits widerrufen war, da mir offenbar wurde, dass ich in Wirklichkeit noch kein treuer Untertan des Königs gewesen war. Auch nach dem Regierungswechsel war ich viel eher ein bloss passiver – und manchmal staunender – Zuschauer der Veränderungen gewesen, die in unserer Stadt geschahen; aber mein eigenes Inneres war bis zu diesem Moment von dieser Veränderung noch nicht erfasst worden. Ich erkannte, dass ich dem König alles verdankte, was ich war, konnte und besass; und dass der König meine ganze Liebe und Treue verdiente. Von dem Tag an begann ich dem König wahrhaftig zu gehorchen.

Die Falschmünzer (2.Teil)

5. März 2015

Fortsetzung des Gleichnisses im letzten Beitrag

Sollte es den Falschmünzern gelungen sein, einen Keil in unsere festgefügte kleinstädtische Gemeinschaft zu treiben? Die Glaubens- und Vertrauenskrise wurde immer offensichtlicher.

Anlässlich einer späteren Versammlung wurde der Antrag unterbreitet, eine Delegation in die Hauptstadt zu entsenden, um den König von den Vorgängen zu unterrichten und ihn höchstpersönlich um Weisung zu bitten. Aber ein einflussreicher Krämer sprach sich dagegen aus:

„Wie allgemein bekannt ist, “ (mir war das zwar nicht bekannt gewesen) “ ist die Zeit Seiner Majestät knapp bemessen, und er ist kaum je geneigt, eine Delegation aus einer entfernten Provinz anzuhören. Wir würden nur unsere Zeit verschwenden. Ausserdem haben wir hier unsere eigene ordentliche Rechtsprechung, die sehr wohl in der Lage ist, mit dem Problem fertigzuwerden. Oder haben Sie etwa vor, “ (hier wandte er sich direkt und herausfordernd an den Antragsteller) „die ordungsgemäss eingesetzte örtliche Justiz auszuhebeln?“

„Nein, nein, in keiner Weise“, antwortete dieser betreten. „Ich dachte nur, mit einer Weisung direkt vom König hätten wir eine grössere Rechtssicherheit, und …“

„Und wer soll das bezahlen?“ fuhr ihm ein anderer Krämer über den Mund. „Wie jedermann weiss, haben wir gegenwärtig gerade wegen dieser Falschmünzerei eine akute Währungskrise.“ (Ich hatte das zwar nicht gewusst, aber ich war wohl nicht über alles informiert, wie meistens.) „Eine solche Delegation würde immense Reisekosten verursachen, ganz zu schweigen von den hohen Lebenskosten in der Hauptstadt. Unsere Stadtkasse kann es sich zur Zeit nicht leisten, ein so kostspieliges Unterfangen zu finanzieren.“

In einer Ecke erhoben sich drei Herren, die mir schon in früheren Versammlungen durch rege Beteiligung aufgefallen waren:

„Wir erklären uns bereit, die gesamte Reise und den Aufenthalt der Delegation zu bezahlen.“

Ein Raunen ging durch den ganzen Saal. Da griff der Münzmeister in die Diskussion ein:

„Das neue Gesetz gegen die Korruption verbietet ausdrücklich, dass Ausschüsse, die staatliche Angelegenheiten behandeln, private Gelder entgegennehmen. Ich verbitte mir weitere Beiträge, die darauf abzielen, diese Versammlung zu gesetzwidrigen Beschlüssen zu verleiten.“

Die Argumente der Krämer hatten durchschlagend gewirkt. Als es zur Abstimmung kam, wurde der Antrag, eine Delegation zu entsenden, mit 1753 zu 168 Stimmen abgelehnt, bei 674 Enthaltungen. Unsere Stadtregierung musste also weiterhin selber mit der Krise fertigwerden.

* * * * *

Es muss etwa um diese Zeit gewesen sein, als ich bei Aquilas eingeladen war, einem alten Bekannten, den ich aber in den letzten Jahren nur noch selten gesehen hatte. Es waren noch einige andere Gäste anwesend.

Wir kamen auf einige kürzliche Gerichtsfälle zu sprechen, die bei einem grossen Teil der Bevölkerung ein ungutes Gefühl hervorgerufen hatten. Zum Beispiel war der stadtbekannte Betrüger Z. wegen mangelnden Beweisen freigesprochen worden. „Mein Bruder hatte sich als Zeuge gemeldet“, sagte einer der Anwesenden, „aber seine Anhörung wurde immer wieder hinausgeschoben, bis keine Zeit mehr blieb dafür.“ – „Z. soll einen guten Draht zum Münzmeister haben“, sagte ein anderer. „Das erklärt manches.“
Andererseits war der Schriftsteller A. wegen übler Nachrede zu einer hohen Strafe verurteilt worden, obwohl man ihm keine Unrichtigkeit nachweisen konnte. Er hatte es gewagt, in einer Flugschrift die Argumente einer Gruppe von Geschäftsleuten wiederzugeben, die Falschgeld annahmen. Einer von ihnen hätte die Verluste ausgerechnet, die jeder Bürger wegen der laufenden Entwertung des Reichsgeldes zu erleiden hatte. Dadurch standen der Münzmeister und die Stadtregierung in einem ziemlich schlechten Licht da. Der Richter hatte gegen den Autor dieser Schrift einen obskuren Gesetzesartikel angewandt, wonach „unter gewissen Umständen“ der Straftatbestand der üblen Nachrede auch dann erfüllt sei, wenn der Betreffende die Wahrheit gesagt habe, aber mit seinen Aussagen „die Absicht verfolgte, Dritte in ihren materiellen oder ideellen Interessen zu schädigen“.

Ein grauhaariger, bedächtiger Herr in der Runde stellte einige Fragen, aus denen hervorging, dass er von auswärts kam und die Verhältnisse in unserer Stadt noch nicht so gut kannte. Die Antworten überzeugten ihn offenbar davon, dass bei den genannten Urteilen (sowie bei einigen weiteren) das Recht gebeugt worden war. Er zeigte sich auch erstaunt darüber, dass es für die Opfer anscheinend keine Möglichkeit gab, an eine höhere Instanz zu appellieren, ausser sie würden auf eigene Kosten in die Hauptstadt reisen und ihr Anliegen direkt dem König vortragen. Er fragte daraufhin:

„Sind wir uns einig darüber, dass der König gerecht ist?“

„Natürlich“, antworteten die Anwesenden.

„Und dass Gerechtigkeit ein Prinzip seines Reiches ist?“

„Ebenso.“

„Wenn also an einem Ort keine Gerechtigkeit herrscht, müssen wir dann nicht daraus schliessen, dass dieser Ort nicht zum Reich gehört?“

Betretenes Schweigen. Es fiel den Anwesenden offenbar schwer, das soeben Gesagte gedanklich zu verarbeiten.

Nach einigen Momenten fuhr der ältere Herr fort:

„Ich habe schon andere Städte und Provinzen kennengelernt, die Anspruch darauf erheben, zum Reich zu gehören, aber nicht nach den Prinzipien des Königs leben. Eine dieser Städte verletzte die Gastfreundschaft und schickte täglich alle Fremden bei Sonnenuntergang vor die Stadttore hinaus. Eine andere stellte einige Professoren eigens dazu an, aus den veröffentlichten Aussprüchen des Königs die ’nicht mehr zeitgemässen‘ herauszustreichen und die übrigen inhaltlich zu ‚modernisieren‘. Sollten diese Orte einmal in eine Notlage kommen, würde ihnen der König dann Hilfe schicken?“

Noch immer antwortete niemand.

„Ich nehme an, ich bin hier unter Menschen, die sich dem König gegenüber verantwortlich wissen. Deshalb möchte ich euch, die ihr hier seid, den Ernst unserer Situation deutlich machen. Jeder von uns wird sich entscheiden müssen, ob er dem König untertan sein will oder jemand anderem. Jeder von uns kann bald in eine Situation kommen, wo er Anordnungen erhält, die den Anordnungen des Königs widersprechen. Dann müssen wir wissen, auf welcher Seite wir stehen. Werden wir dann dem König treu sein? Auch wenn er weit weg ist, und die Befehlshaber mit den gegenteiligen Anordnungen beeindruckend vor uns stehen?“

Einige Anwesende nickten.

„Wie könnten wir sonst sagen, wir seien das Reich, wenn wir nicht den Willen des Königs tun und nicht annehmen, was vom König kommt?“

Ich war geneigt, ihm recht zu geben. Aber plötzlich fuhr mir wie ein Blitz der Gedanke durch den Sinn: „Er redet gegen die Regierung unserer eigenen Stadt! Er möchte uns aufhetzen! Vielleicht ist er sogar einer der gesuchten Falschmünzer. Gleich wird er anfangen davon zu sprechen, dass wir das Falschgeld annehmen sollen.“
War es meine Pflicht, ihn anzuzeigen? – Aber er kam nicht auf das Falschgeld zu sprechen, und ich konnte ihm auch nichts nachweisen. Er hatte kein Geld bei sich, oder wenn, dann liess er es nicht sehen.

Spät abends, nachdem die übrigen Gäste bereits gegangen waren, fragte ich Aquilas noch unter der Haustür:

„Wer war denn dieser ältere Herr, der so vom ‚Ernst unserer Situation‘ gesprochen hat?“

Aquilas antwortete – eher ausweichend, wie mir schien -:

„Ein gelegentlicher Besucher.“
– Dann fügte er leiser hinzu: „Hat viel Lebensweisheit. Soll den König persönlich kennengelernt haben. Er hat mir die Augen geöffnet über manche Dinge.“

„Du glaubst doch nicht etwa all das revolutionäre Zeug?“

„Revolutionär? Es stimmt mit dem überein, was der König selber sagt.“

„Soviel ich weiss, hat der König gesagt, man soll den Provinz- und Stadtregierungen untertan sein.“

„Weisst du was? Das nächste Mal, wenn du zu mir auf Besuch kommst, lesen wir zusammen nach, was der König wirklich gesagt hat.“

Ich war mir aber nicht so sicher, ob ich wirklich Aquilas nochmals besuchen wollte. Die Gespräche an diesem Abend hatten mich sehr verwirrt. Und überhaupt, aus den Aussprüchen des Königs konnte sich jeder herausinterpretieren, was er wollte. Er war ohne Zweifel sehr weise, aber manchmal drückte er sich sehr dunkel aus. Ich hatte auch gehört, manche seiner veröffentlichten Aussprüche seien vorher von seinen Höflingen kräftig editiert und abgeändert worden.

Nach alldem war ich froh, dass einige Wochen später der Münzmeister im Münztempel ein Thema anschnitt, das genau zu meiner Unsicherheit sprach:

„Es gibt einige ewige Nörgler, die von Stadt zu Stadt ziehen und an jeder etwas auszusetzen haben. Die eine ist ihnen nicht sauber genug, in der nächsten sagt ihnen das Essen nicht zu, und in der dritten regnet es zuviel. Wir müssen uns nun einmal damit abfinden, dass wir unvollkommene Menschen in einer unvollkommenen Welt sind.
Es wäre besser bestellt um uns, wenn diese Nörgler nur halb so viel täten, wie sie reden. Wo waren sie denn, als wir unter grossen Opfern unser Rathaus und unseren Münztempel errichteten?“

Applaus erfüllte den Saal. Die persönlichen Anhänger des Münzmeisters sassen an den strategischen Stellen im Saal und wussten genau, bei was für Aussagen ein Applaus erwünscht war. – Der Münzmeister fuhr fort:

„Aber das Schlimmste ist, dass sie gegen das Reich sprechen. Wenn eine Stadt nicht genau so regiert wird, wie sie es sich vorstellen, dann würden sie am liebsten diese Stadt vom Reich ausschliessen. Sie stellen Ansprüche, die sie selber nicht erfüllen können. Sie wollen keine Stadt anerkennen, die diesen Ansprüchen nicht vollkommen genügt. Ich sage Ihnen: Sollten Sie wirklich einmal eine so vollkommene Stadt finden, dann ziehen Sie nicht dorthin! Sie würden durch Ihre eigene Anwesenheit die Vollkommenheit jener Stadt zerstören.“

Neuerlicher Applaus.

„Eine ähnliche Klasse sind die Einzelgänger, die sagen: Ich glaube an den König, aber nicht an das Reich. Ihnen muss ich ganz klar sagen: Sie können nicht den König haben ohne das Reich. Das Reich ist Ausdruck des Willens des Königs. Es gibt keine Treue zum König unabhängig von der Treue zum Reich!
Ich richte deshalb an Sie alle einen ernsthaften Aufruf, Ihre Loyalität zu unserer Stadtregierung zu erneuern. Lassen Sie sich nicht verführen von den Aufwieglern, die die Ehre des Reichs geringschätzen.
Selbst wo das Reich im Unrecht sein sollte und seine Vertreter fehlbar, müssen wir uns unterordnen. Es ist dem König wohlgefälliger, loyal zum Reich und seinen Vertretern zu sein, als auf eigene Faust dem König gehorchen zu wollen, unabhängig vom Reich.“

Nach dieser Rede war meine Gedankenwelt wieder in Ordnung. Es war so beruhigend, sich auf unsere Stadtregierung verlassen zu können. Erst mehrere Jahre später begann ich mich zu fragen, ob das Argument nicht etwas unlogisch war, der Gehorsam dem König gegenüber richte sich gegen das Reich.

Einige Zeit später traf ich unerwartet mit jenem Fremden zusammen, der damals bei Aquilas zu Gast gewesen war. Die genauen Umstände dieser Begegnung tun nichts zur Sache. Er erkannte mich wieder. Nach einigen einleitenden Bemerkungen fragte er mich ohne Umschweife:

„Und wie stehst du zum König?“

„Ich diene der grösseren Ehre des Reiches“, antwortete ich mit aller Selbstverständlichkeit.

„Aber wie stehst du zum König?“

„Ich denke, das habe ich soeben klargemacht. Ich bin seinem Reich treu.“

„Du erinnerst dich sicher, dass wir an jenem Abend darüber sprachen, wie das Wort ‚Reich‘ oft missbraucht wird. Hast du inzwischen darüber nachgedacht, was du genau unter dem ‚Reich‘ verstehst?“

„In erster Linie natürlich meine Stadt, weil ich hier wohne. Aber in einem weiteren Sinn alles, was dem König gehört.“

„Das ist genau meine Besorgnis: inwieweit diese Stadt wirklich dem König gehört oder nicht. Du weisst ja auch einiges darüber, was hier vorgeht. Hast du dir schon überlegt, auf welche Seite du dich im Konfliktfall stellen würdest?“

Das verwirrte Gefühl von jenem Abend bei Aquilas wollte zurückkehren. Aber inzwischen hatte ich gelernt, wie ich einem solchen Nörgler und womöglich Falschmünzer (denn als einen solchen musste ich ihn ansehen) zu antworten hatte:

„Es gibt keine Treue zum König unabhängig von der Treue zum Reich.“

Doch meine Sicherheit wurde von seiner Antwort wie vom Wind verweht:

„Und was denkst du denn, was das Reich ist? Wer bestimmt denn, was im Reich geschehen soll, wie seine Bürger leben sollen, und wie seine Städte regiert werden sollen? Etwa nicht der König? Es gibt kein Reich unabhängig vom Gehorsam dem König gegenüber.

Ich schluckte leer. Nach einigen Momenten des Schweigens antwortete ich:

„Und sind wir etwa nicht dem König gehorsam?“

„Was dich persönlich betrifft, so kann ich das nicht beurteilen. Wie lautet denn der Auftrag des Königs an dich?“

Wieder verharrte ich einige Minuten in betretenem Schweigen. Schliesslich sagte ich:

„Um ehrlich zu sein, ich habe noch nie einen Auftrag direkt vom König erhalten. Wäre es nicht Anmassung, so etwas zu erwarten? Wir haben hier unsere Stadtoberen, die das Reich vertreten und uns Weisungen erteilen. Ich folge ihren Weisungen, also folge ich doch dem Willen des Königs.“

Der Fremde antwortete:

„Anmassung wäre es, wenn du anderen vorschreiben wolltest, was angeblich des Königs Auftrag für sie sei. Mir scheint, es ist gerade das, was eure Stadtoberen tun. Aber nach dem Auftrag des Königs für dich selber zu fragen, ist gerade das Gegenteil von Anmassung: es ist wahre Demut und wahrer Gehorsam.“

Er machte eine Pause und blickte mich aus tiefen Augen an. Dann fuhr er fort: „Weisst du, ich mag dich. Ich sehe in dir, dass du im Grunde den Willen hast, ein treuer Untertan des Königs zu sein. Nur hast du noch einige verkehrte Vorstellungen davon, was das bedeutet. Deshalb getraue ich mich, offen mit dir zu sprechen.“

„Worüber denn?“

„Über das Falschgeld natürlich. Du hast vielleicht gehört, dass meine Brüder und ich in der Öffentlichkeit euer Geld beschönigend als ‚Provinzwährung‘ bezeichnen. Wir tun das nur, weil es uns in der gegenwärtigen Situation verunmöglicht wird, die Wahrheit offen auszusprechen. Aber in Tat und Wahrheit sind eure Münzen und Banknoten illegales Falschgeld, hergestellt von einer Vereinigung von Krämern, die vom König abtrünnig geworden sind. Was wir tun, ist nichts anderes als der Versuch, das rechtmässige Geld des Königs wieder einzuführen unter jenen, die noch genügend Aufrichtigkeit im Leib haben dafür.“

Ich war wie vor den Kopf gestossen. So eine unverschämte Lüge! Nie hatte ich davon gehört, dass der König irgendeine andere Währung autorisiert hätte als jene, die wir gebrauchten.
Und doch – es lag eine so tiefe Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit in den Worten dieses Fremden. Tief in meinem Innern musste ich zugeben, dass ich ebensowenig je davon gehört hatte, dass der König unsere Währung autorisiert hätte. Es begann mir zu dämmern, dass ich überhaupt sehr wenig wusste über den König und seinen Willen. Jedenfalls nicht genug, um auf die Argumente dieses mysteriösen Fremden antworten zu können.

Er fuhr fort: „Ihr, eure Stadtoberen, ihr habt euer eigenes Reich aufgerichtet entgegen dem Reich des Königs; ihr habt eure eigenen Regenten eingesetzt entgegen dem Willen des Königs; und ihr habt eure eigene Währung geschaffen und das Geld des Königs als wertlos erklärt. Ihr habt die Ehre eures eigenen Reichs wichtiger genommen als den Willen des Königs.
Du denkst jetzt sicher, ich möchte dich zur Rebellion anstiften. Nichts liegt mir ferner als das. Ganz im Gegenteil. Du hast wahrscheinlich die frühere Regierung dieser Stadt nicht gekannt, und hast daher immer im Glauben gelebt, die gegenwärtige Regierung sei rechtmässig. Aber ich versichere dir: Eines Tages wird der königliche Gerichtsvollzieher in dieser Stadt erscheinen, und dann wird er eure Stadtoberen als Rebellen richten.
Der einzige Zweck meines Hierseins besteht darin, euch zur Rückkehr unter den Willen des Königs aufzurufen – das heisst, jene unter euch, die noch dazu in der Lage sind.“

Ich war zu aufgewühlt, um antworten zu können. Alles drehte sich in meinen Gedanken. Meine Empfindungen führten Krieg gegeneinander in meinem Innern. Da war einerseits eine unbändige Wut über die Unterstellungen dieses Fremden. Es konnte doch nicht wahr sein, dass ich mein Leben lang einem Schwindel aufgesessen sein sollte. Ich war doch ein erwachsener Mensch mit eigenem Urteilsvermögen. Ich hatte doch als mündiges Mitglied an den Stadtversammlungen teilgenommen. Ich kannte doch die Stadtoberen und ihre ehrenhaften Absichten, die Ehre des Reichs zu vermehren.
Und andererseits war da ein immer stärker nagender Verdacht, der Fremde könnte doch recht haben. Ich war ja noch nie allzu weit aus meinem Geburtsort herausgekommen. Ich kannte weder die Hauptstadt noch den König. Sollte es in der Weite seines Reichs mehr und andere Dinge geben, als meine Schulweisheit sich träumen liesse? Wusste dieser Fremde vielleicht etwas, was mir ein Leben lang vorenthalten worden war? Hatte ich vielleicht eher Grund, auf mich selber wütend zu sein statt auf ihn, weil ich blindlings alles geglaubt hatte, was man mir in meiner Stadt erzählt hatte?

Der Fremde verabschiedete sich und liess mich allein mit meinem inneren Aufruhr. Ich beschloss, alles daran zu setzen, die Wahrheit herauszufinden.

Fortsetzung folgt


Die Falschmünzer (1.Teil)

14. Februar 2015

Ein Gleichnis

Ich erinnere mich noch an das erste Mal in meinem Leben, als ich bewusst über Geld nachdachte. Das war bald nachdem ich das Lesen gelernt hatte. Eines Tages fragte ich meine Mutter:

„Mama, was bedeutet das, was auf unseren Münzen steht: ‚Zur grösseren Ehre des Reiches‘?“

„Das bedeutet, dass wir alles, was wir mit dem Geld tun, dazu tun sollen, dass das Reich grösser und besser wird. Dass es den Menschen im Reich besser geht, und dass die Menschen ausserhalb des Reiches gut reden darüber.“

„Aber was oder wo ist dieses Reich?“

„Das Reich? Das ist doch hier, wo wir wohnen. Unser Städtchen gehört zum Reich, und die Menschen, die hier wohnen.“

Das verstand ich nicht so ganz, denn ich konnte keinen besonderen Unterschied sehen zwischen unserem Städtchen und anderen Teilen der Welt. Das mag auch daran gelegen haben, dass ich damals noch nicht viele andere Teile der Welt kennengelernt hatte. Aber ich muss doch Mama gegenüber auf irgendeine Weise meine Bedenken ausgedrückt haben, denn ich erinnere mich, dass sie bei einer anderen Gelegenheit sagte:

„Das Reich kann man nur mit den Augen des Glaubens sehen. Du musst einfach im Glauben annehmen, dass du ein Bürger des Reiches bist.“

Ein anderes Mal sprachen wir über Falschgeld. Ich hatte damals zum Spielen einen Kaufladen mit richtigen kleinen Münzen und Banknoten.

„Mama, kann ich nicht auch mit dem Geld von meinem Kaufladen im richtigen Laden einkaufen gehen?“

„Nein, das geht nicht, das ist ja kein richtiges Geld.“

„Nicht? Aber es steht auch darauf ‚Zur grösseren Ehre des Reiches‘, genauso wie auf den richtigen Münzen.“

„Ja, aber es sind nicht die richtigen, das kann doch jedermann sehen. Sie sind kleiner und aus einem minderwertigen Material, und auf den Banknoten steht ‚Spielgeld‘.“

„Aber der Verkäufer könnte ja gut sein zu mir und mir auch für dieses Geld etwas verkaufen.“

„Versuch das nur nicht! Das wäre ja Falschmünzerei. Es ist verboten, anderes Geld als das echte zu verwenden. Dafür kann man bestraft werden.“

„Warum denn? Wer hat bestimmt, was richtiges Geld ist und was nicht?“

„Das richtige Geld ist das, das die Krämer entgegennehmen. Es hat Wert, weil die Krämer es anerkennen und gegen Waren umtauschen.“

„Dann bestimmen die Krämer über das Geld?“

„Nicht genau so, aber sie haben etwas damit zu tun. Und natürlich der Münzmeister. Ganz genau weiss ich es auch nicht.“

Den Münzmeister kannte ich von ferne, nämlich von den wöchentlichen Versammlungen im Münztempel. Dort sprach er – oder einer seiner Funktionäre – jeweils über hochwichtige Dinge. Z.B. über den rechten Gebrauch und die rechte Verteilung des Geldes; oder darüber, was die „grössere Ehre des Reiches“ genau bedeutete. Das waren jeweils äusserst feierliche Veranstaltungen, denn jedermann war sich seiner Pflicht bewusst, zur grösseren Ehre des Reiches beizutragen.

So wuchs ich heran, wurde erwachsen und lernte einen Beruf, um mein Geld auf ehrliche Weise zu erwerben.

* * * * *

Eines Tages begann das Gerücht umzugehen, in einer Nachbarprovinz seien Falschmünzer aufgetaucht, und man solle auf der Hut sein. „Seht alle Münzen und Banknoten gut an, ob sie echt sind!“

Dann wurde ich Zeuge einer merkwürdigen Szene im Krämerladen. Ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, wollte seine Einkäufe bezahlen und wurde zurückgewiesen:

„Aber das ist Falschgeld, sehen Sie das denn nicht?“

„Das ist das echte Geld des Königs“, beharrte der Mann. „Ich habe das Recht, damit zu bezahlen.“

„Nein, das ist nicht unser Reichsgeld“, antwortete der Krämer. „Sehen Sie doch, das hier ist eine echte Münze.“

„Das mag eure eigene provinzielle Währung sein“, erwiderte der Kunde, „aber ich versichere Ihnen, in den Geschäften des Königs würde eine solche Münze nicht anerkannt. Dort gilt nur das Geld des Königs.“

„Ich weiss nicht, wer Sie sind und woher Sie kommen“, antwortete der Krämer, „ich weiss nur, dass ich noch nie in meinem Leben eine solche Münze gesehen habe, wie Sie sie hier in der Hand haben. Damit können Sie hier nichts kaufen.“

„Gut“, antwortete der Fremde, „dann gehe ich anderswo einkaufen. Aber ich versichere Ihnen, der König wird nicht erfreut sein, wenn er davon erfährt.“

„Sie werden nirgends mit dieser Münze einkaufen können!“, rief ihm der Krämer beim Hinausgehen noch nach.

Das kann kein Einzelfall gewesen sein, denn mit der Zeit kamen tatsächlich einige dieser fremden Münzen in Umlauf. Anscheinend hatten sich gewisse Geschäftsleute überreden lassen, sie anzunehmen. Eines Tages kam mir eine davon in die Hand. Sie hatte zwar dieselbe Grösse wie die echten Münzen, aber abgesehen davon sah sie ganz anders aus. Anstelle des Porträts einer berühmten Persönlichkeit zeigte sie nur eine Krone. Auch war nicht darauf geschrieben „Zur grösseren Ehre des Reiches“, sondern nur: „Der König“.
Ich wunderte mich darüber, dass die Falschmünzer auf eine so plumpe Weise vorgingen. Wäre ich Falschmünzer gewesen, dann hätte ich mich doch bemüht, das echte Geld so genau wie möglich nachzuahmen. Aber völlig anderes Geld zu fabrizieren und dann die Leute zu überreden versuchen, es anzunehmen – was war das für eine merkwürdige Strategie?

Natürlich kam die Geschichte zu Ohren des Münzmeisters. Bei einer der folgenden Versammlungen sprach er eine ernste Warnung aus:

„Es ist uns bekanntgeworden, dass sich Falschmünzer in unsere Stadt eingeschlichen haben. Natürlich haben die meisten aufrechten Bürger diesem Angriff auf unsere Integrität entschieden widerstanden. Dennoch haben wir Indizien, dass einige Personen diesem Betrug zum Opfer gefallen sind; und dass einige sogar bewusst gemeinsame Sache damit machen.
Wir machen Sie hiermit darauf aufmerksam, dass Sie der Falschmünzerei angeklagt werden können, nicht nur wenn Sie Falschgeld herstellen, sondern auch, wenn Sie wissentlich solches verbreiten oder entgegennehmen. Wenn Sie Falschgeld entgegennehmen, verhelfen Sie einem Betrüger oder seinem Komplizen zu unrechtem Gewinn, und schmälern damit die Ehre des Reiches. Wir werden Massnahmen dagegen ergreifen und rufen Sie hiermit auf, jeden anzuzeigen, der Falschgeld besitzt, verbreitet oder entgegennimmt, und sei es auch im privaten Rahmen seines eigenen Heims.“

Nachdem die Gefahr nun öffentlich ausgesprochen war, schien sie für eine Zeitlang gebannt zu sein. Aber gleichzeitig wurde ein immer stärkeres Misstrauen unter den Einwohnern unserer Kleinstadt spürbar. Jeder schaute jedem genau auf die Hände, wenn er mit Geld hantierte. Einige versuchten sogar heimlich die Geldbeutel anderer zu öffnen und hineinzublicken. Alle Geschäftsleute durchwühlten ängstlich ihre Geldvorräte und drehten jede Münze und Banknote dreimal um, um sicherzustellen, dass sich wirklich kein Falschgeld darunter befand und sie nicht unversehens angeklagt werden könnten. Verdächtigungen wurden ausgesprochen, und Freundschaften gingen auseinander.

Trotz aller Vorsichtsmassnahmen verbreitete sich das Falschgeld weiter. Es bildeten sich Gruppen von Geschäftsleuten, die vereinbarten, unter sich das „Königsgeld“ anzuerkennen und es voneinander anzunehmen. Obwohl sie diese Operationen vorerst geheimzuhalten versuchten, wurde es allmählich bekannt, und einige dieser Gruppen wuchsen schneller, als man ihnen Einhalt gebieten konnte. Manche ihrer Mitglieder begannen den Versammlungen im Münztempel fernzubleiben. Dafür hielten sie anscheinend Treffen in ihren eigenen Häusern ab.
Einige ihrer Vertreter wagten öffentlich zu behaupten, das Falschgeld sei rechtmässig, und wir seien alle vom Münzmeister betrogen worden. Es wurden erhitzte Diskussionen geführt über das Thema. Gerüchteweise wurde sogar gesagt, einige radikale Anhänger solcher Gruppen weigerten sich neuerdings, das echte Reichsgeld zu benützen. Sollte es den Falschmünzern gelungen sein, einen Keil in unsere festgefügte kleinstädtische Gemeinschaft zu treiben? Die Glaubens- und Vertrauenskrise wurde immer offensichtlicher.

Bitte keine vorschnellen Schlüsse ziehen – Fortsetzung folgt.

Vom kleinen Schäfchen, das den Hirten hörte

14. März 2014

Ein Gleichnis

Es war einmal ein kleines Schäfchen, das lebte zusammen mit vielen anderen Schafen in einer grossen Herde. Die Schafe hatten einen guten Hirten, und wo immer er sie hinführte, da gingen sie mit ihm.

Aber eines Tages fanden die grösseren Schafe, sie seien jetzt erwachsen und müssten dem Hirten helfen, die Herde richtig zu führen. So fingen sie an, das kleine Schäfchen zurechtzuweisen:
„Pass auf, wo du hinläufst, du hast dir gerade die Hinterbeine verschmutzt!“
„Lauf nicht den schwarzen und braunen Schafen nach, die machen sowieso alles falsch!“
„Du läufst nicht im Takt mit uns; das sieht der Hirte nicht gerne!“

Das kleine Schäfchen versuchte weiterhin die Stimme des Hirten zu hören und ihm zu folgen. Aber das wurde immer schwieriger, weil die grossen Schafe immer öfter dazwischenredeten und sogar anfingen, das kleine Schäfchen zu schubsen. Wenn es sagte: „Aber ich höre doch den Hirten; von dort vorne ruft er uns!“ – dann lachten die grösseren Schafe nur. Oder sie antworteten: „Du willst den Hirten gehört haben? Zuerst musst du einmal lernen, uns zu folgen; wir kennen schliesslich den Hirten schon länger. Und übrigens – du läufst schon wieder nicht im Takt!“

So schwieg das kleine Schäfchen und sagte nichts mehr. Aber als es das nächste Mal aus dem Takt fiel, da stiessen es die grossen Schafe so heftig, dass es umfiel und sich die Knöchel brach.

Jetzt wandte der Hirte seine Aufmerksamkeit dem Geschehen zu. Er liess alle Schafe anhalten und ging zu dem kleinen Schäfchen hin. Er setzte sich nieder, nahm das Schäfchen auf den Arm und liebkoste es. Zu den grösseren Schafen sagte er gar nichts.

Nach ein paar Stunden wurden die Schafe unruhig und fingen an, den Hirten zu fragen: „Wann gehen wir weiter?“ Auch das kleine Schäfchen fragte: „Wann gehen wir weiter?“
Der Hirte schaute es mitleidig an und sagte: „Wir können noch nicht weitergehen; du bist noch nicht geheilt.“ – So verging der Tag, und das kleine Schäfchen erkannte plötzlich, dass es sich dies ja schon immer gewünscht hatte: einmal ganz, ganz nahe beim Hirten zu sein und ganz, ganz lange in seiner Wärme und Liebe zu bleiben.

Am nächsten Tag waren die grossen Schafe schon ungeduldiger und fragten immer öfter: „Wann können wir endlich weitergehen? Wann bringst du uns in das schöne Land, das du uns versprochen hast?“
Aber der Hirte antwortete jedesmal: „Wir können noch nicht weitergehen; mein kleines Schäfchen ist noch nicht geheilt. Es muss so lange in meinen Armen bleiben, bis es geheilt ist.“


Dieses Gleichnis hat mehrere mögliche Ausgänge. Hier sind einige davon:

1. So blieben die Schafe viele Jahre an jenem Ort und warteten. Und wenn sie inzwischen die Lektion nicht gelernt haben, dann sind sie heute noch dort.

2. Eines Tages erwachte das Gewissen in einem der grossen Schafe. Es wusste: es musste zum Hirten gehen. Lange zögerte es. Sein ganzer Mut und Hochmut waren verflogen. Aber schliesslich ging es, warf sich vor dem Hirten nieder und sagte: „Guter Hirte, es tut mir sehr leid, dass ich das kleine Schäfchen geschubst habe. Bitte vergib mir.“ – Der Hirte sah es mitleidig an und sagte nichts. Er wusste, dass das grosse Schaf noch mehr auf dem Herzen hatte. Und das grosse Schaf wusste, dass es sich jetzt auch dem kleinen Schäfchen zuwenden musste: „Bitte vergib mir, dass ich dich geschubst habe. Und bitte vergib mir, dass ich den Hirten spielen wollte.“ Und es begann, zart die Wunde des kleinen Schäfchens zu lecken. – „Ja, ich vergebe dir“, sagte das kleine Schäfchen stockend. Dann wandte sich das grosse Schaf wieder zum Hirten, aber dieses Mal wollten die Worte nicht so recht über seine Lippen kommen: „Ich … ich habe unrecht getan. Ich habe getan als ob … als ob ich du wäre. Dabei bin ich … nichts als … ein gewöhnliches Schaf.“ – Jetzt antwortete der Hirte: „Dann sei wieder Schaf. Ich vergebe dir. Ich nehme die Last von dir, Hirte sein zu müssen. Sei wieder ein Schaf für deine Mitschafe.“ – „Danke, danke, guter Hirte!“ rief das grosse Schaf aus und sprang schnell zu seinen Mitschafen: „Hört mir bitte zu! Ich bin nicht euer Hirte. Es tut mir leid, dass ich den Hirten spielen wollte. Ich habe vielen von euch wehgetan damit. Bitte vergebt mir. Bitte lasst mich wieder einfach ein Schaf sein mit euch zusammen.“ – Einige der anderen Schafe sahen das grosse Schaf misstrauisch an. Aber die meisten vergaben ihm von Herzen, als sie sahen, dass es ernst meinte, was es sagte.
Bald bereuten auch die anderen grossen Schafe, was sie getan hatten. Sie baten den Hirten und ihre Mitschafe um Vergebung, und änderten ihre Lebensweise. Von da an wollten sie nie wieder den Hirten spielen, und sie schubsten auch nie mehr die kleineren Schafe. Und der Hirte sagte: „Jetzt ist mein kleines Schäfchen wieder gesund. Lasst uns weitergehen!“

– Das wäre natürlich der beste Ausgang der Geschichte; aber leider kommt diese Variante im tatsächlichen Schafsleben so gut wie nie vor. Viel häufiger ist die folgende Variante:

3. Eines Tages gingen die grossen Schafe gemeinsam dorthin, wo der Hirte und das kleine Schäfchen waren. Sie stellten sich in einer Reihe vor dem kleinen Schäfchen auf, und der Leithammel sprach mit ernster Miene: „Als Rat der ältesten Schafe haben wir einstimmig beschlossen, dich wegen deines Ungehorsams und deiner Rebellion aus unserer Herde auszuschliessen. Deinetwegen sind wir während dieser ganzen Zeit keinen Schritt weitergekommen. Wir verbieten dir, je wieder deine Lehren zu verbreiten oder mit Schafen aus unserer Herde in Kontakt zu treten.“ – Damit drehten sie sich um und gingen davon. Den Hirten hatten sie dabei überhaupt nicht beachtet.
Einige Zeit später beobachtete das kleine Schäfchen, wie sich ein grosser Teil der Herde auf den Weg machte, dem Leithammel hinterher. Das heisst, sie gingen in die Richtung, wo der Leithammel vermutete, dass der Weg weiterführte. Nur einige wenige Freunde des kleinen Schäfchens, und ein paar alte und gebrechliche Schafe blieben in der Nähe des Hirten. Das kleine Schäfchen konnte noch hören, wie der Leithammel mit einem kurzen Blick zurück sagte: „Jetzt hat es dieses kleine halsstarrige Schaf doch tatsächlich fertiggebracht, unsere Herde zu spalten!“
Später brach auch der Hirte auf, mit den wenigen Schafen, die ihm noch folgten. Nach langer abenteuerlicher Wanderung kamen sie schliesslich in das schöne Land, das er ihnen versprochen hatte. Was aus den anderen Schafen geworden war, erfuhren sie nie.

Eine blosse Formsache

17. November 2013

„In dem Masse, wie sich das Christentum (im Römischen Reich) verselbständigte, stiess es auf zwei grosse Schwierigkeiten: es war nicht als gesetzmässige Religion anerkannt, … und seine Gläubigen weigerten sich, an der Verehrung des Kaisers teilzunehmen, eine blosse Formsache von eher bürgerlichem als religiösem Charakter; aber (die Christen) betrachteten dies als Götzendienst. Ihre Weigerung, die verfasste Ordnung anzuerkennen … löste mehrere Verfolgungen aus, eher gegen die christlichen Leiter als gegen die gewöhnlichen Gläubigen, angesichts der grossen religiösen Toleranz, die in Rom herrschte …“
(Aus einem neueren Geschichtsbuch.)

Die Personen, Orte und Begebenheiten der nachfolgenden Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Ereignissen der jüngeren Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft können jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Stolz kündigte Claudio seiner Gemeinde am Sonntag die Neuigkeit an:
„Die Regierung hat das Gesetz über religiöse Gleichberechtigung in Kraft gesetzt. Danke, dass ihr euch für dieses wichtige Anliegen eingesetzt und mitgebetet habt. Ab jetzt können wir als Religionsgemeinschaft staatlich anerkannt werden, mit denselben Vorrechten wie die Landeskirchen. Jetzt wird uns niemand mehr ‚Sekte‘ nennen dürfen, und wir erhalten dieselben steuerlichen Vorteile und Subventionen wie die Landeskirchen.“
– Was er ihnen nicht sagte: Dieses neue Gesetz verschaffte auch ihm selber verschiedene Vorrechte. Er würde auch persönlich steuerliche Vorteile erhalten, und würde in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu einem ermässigten Tarif fahren dürfen – ein wichtiger Punkt für jemanden, der so oft unterwegs war wie er.

Claudio bemühte sich daher, die Papiere für die Registrierung seiner Gemeinde so bald wie möglich in Ordnung zu bringen. Pünktlich fand er sich im Büro des Regionalintendenten für Religionssachen ein und legte die verlangten Dokumente vor, unter denen sich ein genauer Plan seiner Kirche befand, sowie eine Liste der Namen und Adressen aller Mitglieder, und verschiedene andere. Nach Bezahlung der Registrationsgebühr reichte ihm der Regionalintendent ein Formular:
„Dies ist Ihre Loyalitätserklärung dem Staat gegenüber. Eine blosse Formsache. Unterschreiben Sie hier auf der gestrichelten Linie.“
Claudio unterschrieb, nachdem er einige der kleingedruckten Artikel überflogen hatte. Später erinnerte er sich nur noch an zwei davon, die lauteten:
– „Der Religionsdiener verpflichtet sich zu voller Loyalität dem Staat gegenüber, und zur harmonischen Zusammenarbeit mit den Beamten des Religionsministeriums bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortungen.“
– „Der Religionsdiener verzichtet darauf, in die Funktionen staatlicher Stellen einzugreifen, und Stellungnahmen zu umstrittenen Themen der Staatspolitik abzugeben.“
Er dachte nicht weiter darüber nach. Es war ja eine blosse Formsache.
Der Sekretär sagte zu ihm: „Herzlichen Glückwunsch. Sie sind jetzt eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft. Nächste Woche können Sie Ihre Registrierungsurkunde abholen.“ Und er erinnerte ihn: „Vergessen Sie nicht, uns jährlich Ihre aktuelle Mitgliederliste zu bringen.“

So erfreuten sich Claudio und seine Gemeinde ihrer neuen Vorrechte. Am Jahresende erschien Claudio wieder auf dem Regionalamt für Religionssachen mit der aktualisierten Mitgliederliste. Der Sekretär überflog die Liste und fragte dann:
„Sagen Sie, welche dieser Leute sind die aktivsten? Die eifrigsten Beter? Welche haben das Zeug zum Evangelisieren?“
Claudio konnte nicht sogleich antworten. Einmal, weil er überrascht war darüber, dass dieser Staatsfunktionär ein solches Interesse am geistlichen Wohlergehen seiner Gemeinde zeigte. Und zweitens, weil das nicht gerade die Punkte waren, auf die er selber das Jahr über besonders geachtet hätte. Nach einigem Nachdenken wies er auf drei Namen auf der Liste: Gottfried E, Theophilus D. und Peter J.

Einige Monate später kam Theo D. besorgt und ratsuchend auf Claudio zu:
„Vor einigen Tagen erhielt ich Besuch von der Polizei. Irgendwoher hatten sie gehört, dass ich ab und zu einige Arbeitskollegen nach Hause einlade, um die Bibel zu lesen und zu beten. Der Beamte sagte mir, ich dürfe keine solchen ‚wilden‘ religiösen Versammlungen abhalten, da ich kein zugelassener Religionsdiener bin. Sag mir, was hat die Polizei damit zu tun? Und was könnte ich denn sonst tun, um meine Kollegen mit dem Evangelium zu erreichen?“
Claudio dachte eine Weile nach. Dann antwortete er mit dem besten Rat, der ihm einfiel: „Du weisst, dass wir der Obrigkeit untertan sein müssen, wie Paulus in Römer 13 sagt. Du hättest sowieso diese Versammlungen eingehender mit mir absprechen sollen. Ich empfehle dir, damit aufzuhören, und deine Kollegen stattdessen zu unserem Sonntagsgottesdienst zu bringen.“
„Aber sie fühlen sich nicht wohl in einer Kirche. Könntest du nicht zu mir nach Hause kommen, einmal in der Woche, und die Versammlungen leiten?“
„Es tut mir leid, aber meine Agenda ist schon übervoll. Überhaupt, wenn sie sich in einer Kirche nicht wohl fühlen, dann muss ich annehmen, dass es mit ihrem Interesse am Evangelium nicht weit her ist.“
„Aber Claudio, wenn du sie nur kennenlernen könntest … sie haben einen solchen Hunger nach dem Wort Gottes!“
Aber Claudio kannte seine bürgerlichen Pflichten. Und er kannte auch seine Agenda. Er konnte keine Unregelmässigkeiten zulassen.

Einige Zeit später begegnete Claudio seinem Amtskollegen Simon. Dieser sagte zu ihm: „Hast du schon gehört, dass die Kirchensteuer abgeschafft werden soll?“
„Wie gut! Endlich wird Schluss gemacht mit den ungerechten Vorrechten der Landeskirchen.“
„Ja, das ist wahr. Aber erinnerst du dich, dass wir unter dem Gesetz über religiöse Gleichberechtigung bereits dieselben Vorrechte haben wie die Landeskirchen?“
„Ach ja, das hatte ich vergessen. Aber jetzt werden die Landeskirchen ja sowieso keine Vorrechte mehr haben.“
„Das ist genau das Problem, das ich sehe.“
„Wie? Willst du sagen, dass …?“ – Claudio schwieg beim Gedanken daran, was dies möglicherweise für seine eigene Gemeinde bedeuten könnte.

An einem sonnigen Maitag erschien in allen grossen Tageszeitungen die folgende Nachricht:

„MUTIGE REGIERUNGSMASSNAHME GEGEN RELIGIÖSE PARALLELGESELLSCHAFTEN
Endlich hat es der Staat unternommen, in den chaotischen Zuständen der religiösen Organisationen Ordnung zu schaffen, in Übereinstimmung mit der Internationalen Konvention über Religionsfreiheit. Gemäss dem Regierungsdekret vom Montag werden alle Religionsdiener in die Kategorie von Staatsbeamten erhoben, und alle Liegenschaften der religiösen Organisationen werden in Staatseigentum übergehen. Das Religionsministerium wird Massnahmen ergreifen, damit sich keine religiöse Organisation der staatlichen Aufsicht und Ordnung entzieht in der möglichen Absicht, eine religiöse Parallelgesellschaft zu errichten.“

„Recht so“, dachte Claudio, „das wird jetzt zumindest den Machenschaften dieser Rebellen von der Freien Gemeinde ein Ende setzen.“ – Schon seit einiger Zeit verspürte Claudio eine gewisse Eifersucht gegen jene nichtregistrierte Gemeinde, die sich nur zweihundert Meter von seiner Kirche entfernt zu versammeln pflegte. Sie hatten vor wenigen Jahren als informelle Treffen in einem Privathaus begonnen; aber nach der Lautstärke zu schliessen und nach der Anzahl der Menschen, die ein und aus gingen, mussten sie bereits doppelt so viele Mitglieder haben wie Claudios Gemeinde. Und sie schienen nicht im Geringsten an den Vorrechten interessiert zu sein, die der Staat ihnen anbot gegen eine blosse Formsache.

Tatsächlich war zwei Wochen später während des Sonntagsgottesdienstes ein Aufruhr auf der Strasse zu hören, und sogar einige Schüsse fielen. Später erfuhren sie, dass die Polizei die Versammlung der Freien Gemeinde zerstreut und das Haus verschlossen hatte. Noch war nichts über den Verbleib ihrer Leiter bekannt. Claudio fühlte sich befriedigt, wenn auch ein wenig beunruhigt wegen der Schüsse. Aber er dachte: „Warum haben sie aber auch der Polizei Widerstand entgegengesetzt? Sie sollten doch wissen, dass sich ein Christ der staatlichen Autorität unterordnet.“

El selber erhielt jetzt ein festes Gehalt vom Staat. Freilich durfte er jetzt als Staatsangestellter keine Spenden oder persönlichen Geschenke von Gemeindegliedern mehr annehmen. Aber was machte das aus, wo doch der Staat seine finanzielle Situation sicherstellte?

Einige Zeit später stand Theos Frau weinend bei Claudio vor der Tür: „Mein Mann ist verschwunden. Vorgestern ging er zur Arbeit wie immer, und seither ist er nicht zurückgekommen, und niemand hat ihn gesehen.“
„Haben Sie die Polizei verständigt?“
„Ja, aber bis jetzt haben sie nichts herausgefunden. Lediglich ein Beamter hat angedeutet, Theo könnte eventuell in illegale Aktivitäten verwickelt sein. Ich kann mir bei ihm nichts Derartiges vorstellen, aber es beunruhigt mich …“
Die Tage vergingen ohne irgendwelche Nachricht von Theo. Das einzige, was Claudio herausfinden konnte, war, dass Theo seinen früheren Rat nicht befolgt hatte. Er hatte weiterhin Arbeitskollegen nach Hause eingeladen, und diese Zusammenkünfte hatten sogar noch an Teilnehmern und Häufigkeit zugenommen.

Eines schönen Sonntags hatte Claudio die folgende Ankündigung zu machen: „Nach dem neusten Regierungsdekret haben alle religiösen Veranstaltungen mit dem obligatorischen Gruss an den Staatspräsidenten zu beginnen und zu enden. Das ist eine rein bürgerliche Formsache, an der wir alle als gute Staatsbürger teilnehmen werden.“
Damit kniete Claudio vor der Fahne nieder, die den Versammlungssaal zierte, erhob seine Hände und rief aus: „Ehre unserem Präsidenten!“ – Die ganze Gemeinde kniete mit ihm nieder und wiederholte den Ruf: „Ehre unserem Präsidenten!“
– Um genau zu sein, nicht die ganze Gemeinde. Aus den Augenwinkeln konnte Claudio sehen, dass auf der rechten Seite etwa fünf Personen schweigend stehenblieben, unter ihnen Gottfried E. und Peter J. Natürlich würde er über sie Bericht erstatten müssen. Eine blosse Formsache.

Von da an begannen und endeten alle Sonntagsgottesdienste mit dieser Bürgerpflicht. Nur mit der unbedeutenden Änderung, dass nach einiger Zeit die Fahne durch ein Porträt des Präsidenten ersetzt wurde. Die wenigen Leute, die anfangs während dieses Aktes stehengeblieben waren, kamen nicht mehr zum Gottesdienst, und niemand fragte nach ihnen.

Eines Sonntags wurde Claudio beim Verlassen der Kirche von zwei Polizisten erwartet. „Könnten Sie bitte mit uns kommen? Wir haben einige Fragen an Sie.“ – „Natürlich, selbstverständlich.“ – Und Claudio folgte ihnen zum Polizeiposten, wo einer der Beamten sagte:
„Wir haben gehört, dass Sie weiterhin Minderjährigen religiösen Unterricht erteilen. Auch in ihrem Sonntagsgottesdienst haben wir die Anwesenheit Minderjähriger beobachtet. Was sagen Sie uns dazu?“
„Das machen wir immer so, die Kirche ist offen für alle, warum?“
„Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?“
„Gut, und – und dass Jesus gesagt hat: ‚Lasst die Kinder zu mir kommen.‘ “
„Das hat nichts mit der Sache zu tun, es geht hier um die Gesetze unseres Staates. Sicher kennen Sie das Reglement für Religionsbeamte“, und der Polizist deutete auf ein umfangreiches Buch auf seinem Schreibtisch.
„Ich habe es gelesen, aber ich besitze es selber nicht“, sagte Claudio.
„Dann rate ich Ihnen, sich schleunigst ein Exemplar zu beschaffen und sich mit dem Inhalt vertraut zu machen. Minderjährige zu indoktrinieren ist ein unentschuldbarer Eingriff in den Zuständigkeitsbereich des Bildungsministeriums. Das ist ein schwerwiegendes Fehlverhalten für einen Religionsbeamten und kann mit bis zu fünfzehn Jahren Gefängnis oder Zwangsarbeit geahndet werden.“
– Der zweite Beamte ergriff das Wort, als er Claudios erschrockenes Gesicht sah: „Da Sie, Herr Claudio, bisher einen unbefleckten Leumund haben und dies Ihre erste Zuwiderhandlung ist, können Sie noch mit einer Geldbusse davonkommen. Aber ich warne Sie: Sollten Sie wiederum straffällig werden, dann werden Sie unweigerlich vor Gericht kommen. Und Sie werden sicher verstehen, dass wir als Gegenleistung für unser jetziges Entgegenkommen eine verstärkte Zusammenarbeit Ihrerseits erwarten. Erstatten Sie uns regelmässig Bericht über die privaten Tätigkeiten und die politischen Ansichten Ihrer Gemeindeglieder. Eine blosse Formsache.“

Claudio war erleichtert, dass sich die Justiz ihm gegenüber noch einmal gnädig erwiesen hatte, und versprach, zuverlässig Bericht zu erstatten. Dann ging er seine Busse bezahlen und kaufte sein Reglement.
In der folgenden Zeit verursachte ihm ab und zu das rätselhafte Verschwinden des einen oder anderen Gemeindeglieds äusserste Besorgnis; insbesondere wenn er feststellte, dass es sich um eine Person handelte, über die er der Polizei Informationen gegeben hatte. Aber er beruhigte sich jeweils sofort mit dem tröstlichen Gedanken, dass er treu seine Pflicht als Bürger und Christ erfüllte.

Der Brief

29. Juli 2012

Gedanken darüber, das Wort deines Vaters ernst zu nehmen. Von Russell J. Asvitt.

Chris lag auf seinem Bett, den Kopf auf einem Kissen aufgestützt, und las ein Buch. Da kam sein Zimmerkollege Ernst mit einigen Briefen herein. – „Hier, Chris“, sagte er, „das ist für dich.“ – „Danke, Ernie“, sagte Chris, nahm den Brief entgegen, öffnete ihn und las ihn gründlich.

Lieber Christian,

Deine Mutter und ich sind sehr zufrieden, dass Du Dich entschieden hast, an die Universität zu gehen und Dein Studium abzuschliessen. Wir haben vereinbart, Dir volle finanzielle Unterstützung zu geben, damit Du keine Zeit verlierst mit einer Arbeitsstelle, denn das könnte dein Studium hinauszögern. Wir möchten, dass Du so viel Zeit wie möglich in Deinen Fortschritt investierst. Wir haben gehört, dass viele Studenten ihre Zeit und ihr Geld ausserhalb der Universität verschwenden. Bitte tue Dich nicht mit ihnen zusammen. Wenn Du es verschwendest, werden wir Dir kein Taschengeld mehr senden für Deine Freizeit. Ich freue mich schon auf Deinen Abschluss, damit Du Dich mir anschliessen kannst in meinem Geschäft. Eines Tages wirst Du es erben.

Alles Liebe,

Papa.

Verwirrt faltete Chris den Brief zusammen, steckte ihn in den Umschlag und ging zur Tür, den Umschlag in der Hand.
„Wohin gehst du?“ fragte Ernst.
„Ich gehe meine Professoren fragen, was dieser Brief meines Vaters bedeutet.“
„Aber wenn er von deinem Vater ist, wozu …?“ – Aber die Tür hatte sich bereits hinter Chris geschlossen.

„Gut, Christian“, sagte der Geschichtsprofessor, nachdem er den Brief studiert hatte, „es scheint, dein Vater möchte, dass du Fortschritte machst. Aber ich brauche etwas zusätzliche Information über deinen Familienhintergrund, um den Brief zutreffend interpretieren zu können. Wenn er von ‚Fortschritt‘ spricht, meint er deine Ausbildungsmöglichkeiten, oder geht es ihm um deine soziale Stellung, oder um deine finanzielle Sicherheit? Wenn du mir einige zusätzliche Umwelthinweise geben könntest, dann könnte ich dir sicher helfen, den Brief zu entziffern.“
Chris sah ihn an und zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls vielen Dank, Professor“, sagte er, und verliess das Büro. Sogleich ging er zum Philosophieprofessor.

„Könnten Sie mir helfen, diesen Brief zu interpretieren?“
„Sehr gerne“, sagte der Philosophieprofessor. „Lass mich sehen. ‚Viele Studenten verschwenden ihre Zeit.‘ Das ist ein interessantes Konzept. Was ist Zeit? Heute war gestern morgen, und morgen wird morgen heute sein. Wie du siehst, ändert sich die Zeit ständig. Und was die Zeitverschwendung betrifft, wie kann man etwas verschwenden, was ständig bei uns ist und sich ständig ändert? Schau, dein Vater drückt einfach eine Meinung aus, die er dir mitteilen möchte. Es ist ein interessantes Schreiben, aber ziehe keine definitiven Schlüsse daraus, bevor du nicht mehrere andere Konzepte gelesen hast. Du brauchst eine breitere Informationsbasis für deine volle Entwicklung.“
„Gut, ja … danke“, sagte Chris, und ging ein wenig enttäuscht nach draussen.

Die nächste Station war die theologische Fakultät. Während der Theologe den Brief überflog, runzelte er die Stirn.
„Mein Gott!“ rief er aus. „Sicherlich wollte dich dein Vater nicht erschrecken, aber da sind wirklich einige ernsthafte Unstimmigkeiten in seinem Brief. Er schliesst seine Epistel mit: ‚Alles Liebe‘, aber zugleich sagt er: ‚Wir werden Dir kein Taschengeld mehr senden.‘ Sicherlich möchte er nicht wirklich das sagen. Er kann nicht dich lieben und dir zugleich etwas vorenthalten.
Er sagt auch, du sollst dich nicht mit anderen Studenten zusammentun. Dennoch will er, dass du alle deine Vorlesungen besuchst. Wie kannst du das tun, wo doch andere Studenten in den Vorlesungen sind?
Denke einmal nach, ich denke, es war nicht dein Vater, der dir diesen Brief geschrieben hat. Die Statistiken zeigen, dass Studenten die allermeisten Briefe von ihren Müttern erhalten. Ich denke, der Schlüssel liegt im ersten Satz: ‚Deine Mutter und ich sind sehr zufrieden…‘ Es scheint, dass deine Mutter den Brief geschrieben hat und in guten Treuen mit dem Namen deines Vaters unterschrieben hat, um ihm grössere Autorität zu verleihen. Natürlich ist nichts Schlechtes dabei, aber ich dachte, ich sollte dich darauf aufmerksam machen. Ich hoffe, das ist dir eine Hilfe.“
„Ja … danke“, antwortete Chris.

„Wie seltsam, es sieht wirklich wie die Schrift meines Vaters aus“, brütete Chris, während er sich auf seinem Bett niederwarf. Ernst betrachtete ihn: „Du siehst verwirrt aus, Chris.“ – „Ja“, antwortete er. „Ich wusste nicht, dass es so viele verschiedene Arten gibt, einen Brief zu interpretieren.“ – „Darf ich ihn lesen?“ fragte Ernst. – „Klar. Hier, nimm ihn.“
Ernst las den Brief gründlich durch. „Hey, das ist grossartig!“ rief er aus. „Deine Eltern werden dir dein ganzes Studium bezahlen, und dir dazu sogar noch Taschengeld geben. Du wirst keine Arbeit suchen müssen. Und dein Vater sagt, wenn er pensioniert wird, wirst du sein Geschäft erben. Begeistert dich das nicht?“
„Ist es das, was es bedeutet?“ – „Das ist es, was dasteht, oder nicht?“ – „Mensch, du bist wirklich schlau, Ernie“, sagte er schliesslich.
Ernst wandte sich wieder seinen Aufgaben zu und lächelte vor sich hin. Er wusste, dass er in Wirklichkeit gar nicht so besonders schlau war.

Quelle: Zeitschrift „Bread for Children“, März 1987

Die Welt danach, oder: Die vollkommene Gerechtigkeit Gottes

9. November 2011

Ein Gleichnis

Vergangene Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich träumte, das Jüngste Gericht sei bereits vorbei, und ich befand mich in der neuen Welt Gottes. Obwohl ich Christ war, hatte ich vor dem höchsten Richter vor Furcht gezittert. Ich hatte mich an jede kleinste Sünde erinnert, die ich einmal begangen hatte, an jedes unredliche Wort, an jeden habsüchtigen Gedanken … und er – er wusste es alles, alles! Aber wie erleichtert war ich, als ich schliesslich den Urteilsspruch hörte: „Mein Sohn ist mit seinem eigenen vergossenen Blut vor meinem Thron für dich eingetreten. Da du dein Vertrauen auf ihn gesetzt hast und dieses sündige Leben mit ihm gekreuzigt hast, bist du begnadigt von deiner Schuld. Gehe ein in die Freude deines Herrn!“

Jetzt befand ich mich in der wunderbaren Welt Gottes. Die Beschreibung dieses neuen Himmels und der neuen Erde aus den letzten Kapiteln der Johannesoffenbarung war mir wohlvertraut. Aber die Wirklichkeit war noch viel wunderbarer, viel erhabener und überwältigender als jede Beschreibung.

Das Haus, das mir zur Wohnung gegeben wurde, ähnelte dem Haus, in dem ich während manchen Jahren meines Erdenlebens gewohnt hatte. Nur dass sich die Verteilung der Zimmer geändert hatte. Während einiger Zeit hatten meine Frau und ich in jenem Haus einige bedürftige Kinder aufgenommen. In dem himmlischen Haus wurden uns jetzt jene Zimmer gegeben, in denen damals jene Kinder geschlafen hatten. Die Kinder dagegen – d.h. jene von ihnen, die sich später zu Christus bekehrt hatten und auch in die himmlische Stadt gekommen waren – wohnten in dem Zimmer, das damals unser Schlafzimmer gewesen war.

Die Wände des Hauses – wie in jedem Haus der himmlischen Stadt – waren durchscheinend, sodass alle Menschen, die im Haus wohnten, die ganze Zeit anwesend zu sein schienen und wir uns in jedem Moment freimütig unterhalten konnten – sogar mit einigen Bewohnern von Nachbarhäusern. Und diese Verständigung war viel intensiver und tiefgehender als jede Kommunikation, die wir auf der Erde gekannt hatten. Es schien, als ob wir sogar gegenseitig unsere Gedanken lesen konnten – obwohl es nicht wirklich so war; aber unsere Kommunikation ging wirklich bis zur allerpersönlichsten Ebene unserer Gefühle und Gedanken.
Als ich noch auf der Erde lebte, fühlte ich mich manchmal ziemlich unbehaglich bei dem Gedanken, jemand könnte alle meine Gedanken kennen. Aber jetzt, in der neuen Welt Gottes, war nichts Unbehagliches mehr dabei. Schliesslich waren wir alle im Blut Jesu reingewaschen, unsere Gedanken waren seinem Willen gemäss, und es gab keine bösen Absichten gegen irgendjemanden. Es war sogar geradezu eine Erleichterung, nicht mehr so viele unzulängliche Worte gebrauchen zu müssen, um auszudrücken, was wir fühlten und dachten.

Das Wunderbarste daran war, dass unser himmlischer Vater in diesem selben Haus zu wohnen schien, und dass wir mit ihm jederzeit auf dieselbe tiefgehende und unmittelbare Weise in Verbindung treten konnten wie unter uns. Sein unendlicher Reichtum an Liebe, Weisheit, Führung und Trost stand uns ständig zur Verfügung. Die Beziehung zum Vater war umso wunderbarer, als uns die Erinnerung an das Gericht noch ganz gegenwärtig war. Er, der allmächtige und gerechte Richter, hätte uns nach dem Buchstaben des Gesetzes gar nicht an diesem Ort aufnehmen dürfen. Aber er, in der Person seines Sohnes, hatte sich selbst für uns dahingegeben, um dem Urteil Genüge zu tun und uns freizukaufen. Das war der deutlichste Beweis dafür, wie echt und tief seine Liebe zu uns war. Diese Liebe erfüllte uns mit tiefster Ehrfurcht. Oft wollten wir einfach nur ihn anbeten, anbeten, anbeten …

Natürlich wussten wir, dass der Vater auf dieselbe Weise auch in allen anderen Häusern der Stadt gegenwärtig war. Dennoch schien es uns, die wir in diesem Haus wohnten, dass er auf ganz besondere Weise unser Vater war.
Tatsächlich fühlten wir, dass wir endlich ganz und wirklich nach Hause gekommen waren. Obwohl wir alle erwachsen aussahen – wie Erwachsene unbestimmbaren Alters -, fühlten wir uns wie Kinder. Wir waren frei von dem Stress und den Sorgen, die unser irdisches Leben bestimmt hatten: um das Geld, um die Arbeit, um das Essen … Der Vater gab uns alles; wozu sollten wir uns sorgen? Manchmal gab uns der Vater zu verstehen, dass wir schon unser Erdenleben in dieser selben Freiheit hätten leben können, wenn wir nur völlig auf ihn vertraut hätten. Dann fühlten wir eine leise Trauer um die verlorenen Gelegenheiten, die in unseren Erinnerungen auftauchten. Aber dann trösteten wir uns damit, dass wir schliesslich in diese unsere Heimat vollkommenen Vertrauens gekommen waren. Tatsächlich war dies der Ort, den wir unbewusst ständig gesucht hatten, während wir noch auf der Erde lebten.

Eines Tages fragte ich einen Nachbarn: „Wie oft geht ihr hier eigentlich zur Kirche?“ – „Wie bitte?“, antwortete er lachend, „du bist ja bereits hier! Wir sind doch die Kirche! Wohin sonst möchtest du denn noch gehen?“ – „Aber habt ihr keine Versammlungen?“ – „Jetzt gerade sind wir doch zusammen versammelt, und der Vater ist auch bei uns. ‚Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind …‘ “ – Ich schwieg, denn meine Frage erschien mir selber jetzt ebenso lächerlich wie ihm. Ich hatte ganz vergessen, wo ich mich befand.

Eines Tages sah ich auf der Strasse einen Mann, der die Leute um etwas zu essen bat. Ich war sehr überrascht, dass es sogar in dieser himmlischen Stadt Bettler gab. Ich gab ihm etwas zu essen, und versuchte zugleich etwas über seine Lebensumstände herauszufinden. Er sagte, nein, er sei weder arm noch besorgt, denn die Leute gäben ihm immer genug zu essen. „Ich weiss, dass der Vater für mich sorgt, und das ist die besondere Art und Weise, wie er es in meinem Fall tut. Er hat mir diesen Platz zugewiesen, weil es keinen nützlichen Dienst gibt, den ich in dieser Stadt verrichten könnte.“ – „Keinen nützlichen Dienst? Aber wir sind doch alle geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zum voraus vorbereitet hat, damit wir in ihnen wandeln!“ – „Mein Fehler bestand darin, dass ich das nicht gelernt habe, solange ich auf der Erde lebte. Der Vater hatte mir einen Dienst zugewiesen, aber ich gebrauchte ihn, um mir selbst zu dienen. Ich tat die Werke, die mir selber gut schienen, und die meine Organisation wachsen liessen, und die mich vor den Menschen gut dastehen liessen. So verpasste ich die Werke, die der Vater für mich vorbereitet hatte.“ – „Und das bereust du jetzt … “ – „Ja, aber ich bin dankbar, dass der Vater in seiner Gnade mich an diesem Ort aufgenommen hat. Viele meiner Kollegen konnten nicht einmal in diese Welt Gottes hineinkommen. Andere arbeiten hier als Schuhputzer oder Strassenwischer oder in einem anderen nützlichen und ehrenwerten Dienst an den Heiligen. Mir hat es dazu nicht gereicht; aber ich weiss, dass ich mich genau am richtigen Ort befinde, den mir der Vater in seiner vollkommenen Gerechtigkeit zugewiesen hat, und ich nehme es mit Dankbarkeit an.“
Es kostete mich einige Mühe zu verstehen, dass es sogar im Himmel solche „sozialen Unterschiede“ geben sollte. (Der Leser möge sich erinnern, dass ich nicht in Wirklichkeit dort war, sondern es nur träumte, und dabei immer noch meinen irdischen Verstand hatte.) Aber dann erinnerte ich mich, dass geschrieben steht: „Wenn jemandes Werk, das er darauf aufgebaut hat, bleibt, dann wird er Lohn empfangen. Wenn jemandes Werk verbrennt, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden, doch so, wie durch Feuer hindurch.“ Und auch: „Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder empfange, je nachdem er im Leibe gehandelt hat, sei es gut oder böse.“ – Und ich erinnerte mich auch, dass dieser himmlische Bettler weder besorgt noch verbittert war. Im Gegenteil, er war dankbar, dass der Vater ihn aufgenommen hatte und für ihn sorgte.
Mit der Zeit lernte ich ihn besser kennen. In seinem Erdenleben war er Pfarrer einer Mega-Gemeinde gewesen. Seine Bekehrung und sein Ruf zum geistlichen Dienst waren echt gewesen; aber dann wurde er ein Opfer der Versuchung der Macht, wie so viele andere seiner Kollegen. Er hatte sich das Ziel gesetzt, die grösste Kirche der Stadt zu haben. Nach vielen Jahren harter Arbeit erreichte er dieses Ziel tatsächlich. „Aber“, sagte er, „ich verstehe jetzt, dass ich mich in Wirklichkeit nicht gross um die Beziehung meiner Mitglieder zum Vater gekümmert habe. Wenn jemand sein Übergabegebet gesprochen hatte, getauft war, und die Anforderungen an die Gemeindemitgliedschaft erfüllte, dann war ich damit zufrieden. Und natürlich lebte ich ein komfortables Leben mit ihren Zehnten. Aber bis jetzt habe ich erst sehr wenige Mitglieder jener Kirche hier gefunden – ich fürchte, die Mehrheit konnte nicht hierher kommen.“ Er bekannte auch, dass obwohl er sich „Diener Gottes“ nannte, seine wahre Herzenshaltung darin bestanden hatte, dass die Gemeindeglieder ihm dienen sollten. „Solange ich auf der Erde lebte, war es allzu einfach, mich selbst darüber hinwegzutäuschen. Schliesslich hatte ich Tausende von Menschen zusammengebracht, die Jesus Christus als ihren Herrn und Erlöser bekannten – bewies das nicht, dass ich ein echter Diener des Herrn war? – Aber jetzt, wo ich hier bin, kann ich mich nicht mehr selbst betrügen; ich kenne jetzt mein Herz. In Wirklichkeit war ich schon auf der Erde ein Bettler: ich bettelte um Geld und um die Anerkennung der Leute.“ Und mit Tränen in den Augen fügte er hinzu: „Ich verdiene es gar nicht, hier zu sein. Das ist nur die Gnade Gottes, ganz allein die Gnade Gottes …“

Nach dieser Begegnung begann mich die Neugier zu stechen: Wenn die bekanntesten Pastoren auf Erden hier Bettler und Schuhputzer waren, wer waren dann die wirklich wichtigen Leute in dieser himmlischen Stadt? Ich begann sie zu suchen; aber es war nicht einfach. In dieser Stadt gab es keine besonderen Luxuspaläste, die so als die Wohnung einer wichtigen Persönlichkeit erkenntlich gewesen wären. (Obwohl natürlich alle Häuser „luxuriös“ waren in dem Sinne, dass sie auf vollkommene Weise erbaut waren.) Ich begann, nach den Aposteln Jesu zu fragen, da sie ohne Zweifel wichtige Persönlichkeiten sein mussten. Aber niemand konnte mir sagen, wo ich sie finden könnte. Die einzige Information, die ich auftreiben konnte, war: „Sie haben über die zwölf Stämme Israels gerichtet. Jetzt, nachdem diese Aufgabe beendet ist, ruhen sie aus von ihren Werken.“

Meine erste Begegnung mit einer „wichtigen Persönlichkeit“ war purer Zufall. Ich sah eine Menge Leute durch eines der Stadttore hinausgehen und fragte sie: „Wohin geht ihr?“ – „Wir gehen Federico besuchen. Wir haben immer die besten Zeiten mit ihm zusammen.“ – Ich ging mit ihnen zur Stadt hinaus, bis sie zu einem Wald am Ufer des Flusses lebendigen Wassers kamen. Dort wohnte Federico – er hatte nicht einmal ein Haus. Aber um die Wahrheit zu sagen: seine Wohnstatt zwischen den Bäumen war schöner als das vornehmste Haus. Sein Dach aus grünen Blättern sah herrlicher aus als die kunstvollste Stuckdecke. Das grüne Gras unter seinen Füssen war weicher als der teuerste Perserteppich. Die Aussicht auf die herrliche Schöpfung Gottes war besser als die Bilder der berühmtesten Maler. Und wozu Türen und Schlösser, wo es doch an diesem Ort weder Diebe noch Räuber noch wilde Tiere gab? Man sah auf den ersten Blick, dass Federico an diesem Ort glücklicher war als irgendwo sonst.
Und warum suchten ihn die Leute auf? – Es schien, dass sie sich ganz einfach an seiner Gesellschaft erfreuten. Er war ihr Freund, zeigte Verständnis, sprach von den Angelegenheiten des Vaters. „Federico spiegelt auf besondere Weise das Angesicht des Vaters wider“, sagte jemand. Und ein anderer: „Wir erleben die Gegenwart des Vaters stärker, wenn wir bei Federico sind.“ Tatsächlich schien mein Umgang mit dem Vater und mein Verständnis seiner Worte tiefer und intensiver zu werden, während ich mich an diesem Ort befand.
Während seines irdischen Lebens war Federico ein Waldenserprediger im vierzehnten Jahrhundert gewesen – einer der vielen, deren Namen in keinem Geschichtsbuch erwähnt sind. Als reisender Händler war er durch weite Gegenden Frankreichs, Italiens und Österreichs gekommen, während er seine Waren verkaufte und gleichzeitig jenen, die ein aufrichtiges Interesse zeigten, das Evangelium anbot. Jedesmal, wenn er dies tat, riskierte er sein Leben; denn er konnte nie mit Sicherheit wissen, ob sein Gesprächspartner wirklich an seiner Errettung interessiert war, oder ob es sich um einen Denunzianten handelte, der ihn an die kirchliche Obrigkeit verraten würde. Und so geschah es, dass ihn schliesslich die Inquisition aufgriff. Er wurde gefangengesetzt, auf schreckliche Weise gefoltert, und als „Ketzer“ zum Tod verurteilt. So ging die Kirche jener Zeit mit den Verkündigern des wahren Evangeliums um.

Mit der Zeit lernte ich weitere „wichtige Persönlichkeiten“ kennen. Sie wohnten an allen möglichen Orten, und führten sehr unterschiedliche Leben; aber etwas war ihnen allen gemeinsam: Sie sahen „erfüllter“ und glücklicher aus.

Ich begann zu verstehen, dass die „Wichtigkeit“ einer Person im Himmel nach anderen Massstäben gemessen wurde als auf der Erde. Niemand zeichnete sich durch besondere Reichtümer aus, denn der Vater gab allen genug; alle vertrauten auf seine vollkommene Versorgung; und es gab keine Habsucht. Ebensowenig gab es Auszeichnungen aufgrund von „Macht“ oder „Autorität“: Da es weder Verbrechen noch Streitfälle gab, genügte die vollkommene Regierung des Vaters; Menschen als Regierungsbeamte waren nicht notwendig.
So weit ich sehen konnte, zeichneten sich die „wichtigen“ Menschen in erster Linie durch ihren guten Ruf aus. Sie waren die „echtesten“ Geschwister, und die ihrer Gesellschaft wegen meistgesuchten. – Aber später erkannte ich, dass nicht einmal das ihre wichtigste Auszeichnung war. Sie selber nahmen überhaupt nicht wichtig, was die Leute über sie sagten, oder ob sie von vielen oder von wenigen Menschen aufgesucht wurden. Wirklich wichtig war nur ihre Nähe zum Vater. Sie waren es, die sich der nächsten und vertrauensvollsten Beziehung zum Vater erfreuten. Und das war spürbar, wenn man sich in ihrer Gegenwart befand.

Als ich die Geschichte einiger von ihnen erfuhr, verstand ich, dass sie alle durch viel Leiden gegangen waren, während sie auf der Erde lebten. Ihre Liebe zum Herrn hatte sie dazu gedrängt, Reichtümer und einflussreiche Stellungen abzulehnen; und nicht wenige von ihnen waren aus den wichtigen Institutionen der Gesellschaft und der Kirche ausgeschlossen worden. Eine beträchtliche Anzahl von ihnen war den Märtyrertod gestorben.
Nicht alle waren Prediger gewesen; im Gegenteil: Viele waren einfache Menschen gewesen, die einfach ihren Nächsten halfen und ihren Glauben bezeugten. Wenn ich sie nach dem Werk fragte, das sie auf Erden vollbracht hatten, dann sagten sie: „Ich habe nichts Besonderes getan; in Wirklichkeit tat ich sehr wenig. Ich habe nur getan, was der Herr mir auftrug. Jetzt besteht mein Glück darin, hier dasselbe weiter zu tun.“

Eines Tages traf ich zu meiner grossen Überraschung einen Mann an, der vor vielen Jahren aus meinem eigenen Gemeindeverband ausgeschlossen worden war wegen Irrlehre und Rebellion. Hier galt er offenbar als eine wichtige Persönlichkeit. Wie man mir damals gesagt hatte, hatte er die Mitglieder seiner Gemeinde von Tür zu Tür aufgesucht, um ihnen zu sagen, dass das Gericht Gottes über unseren Gemeindeverband fallen würde. Ich fühlte mich ein wenig beschämt, als ich ihn traf; aber in den Umständen des Himmels konnte ich meine Gedanken über ihn nicht verbergen. „Und“, antwortete er, „warum bist du nie direkt zu mir gekommen, um mich zu fragen, was ich in Wirklichkeit lehrte?“ – „Weil ich gelehrt worden bin, mich von Irrlehrern fernzuhalten.“ – „Genau das ist es, was ich selber tat. In meiner Kirche wurde gelehrt, die Umkehr von der Sünde sei zur Erlösung nicht notwendig, und Umkehr zu predigen sei lieblos. So füllte sich die Kirche mit aller Art Lügnern, Kriminellen, Ehebrechern… Ich fühlte einen grossen Schmerz um ihre Seelen. Jemand musste sie warnen; aber niemand tat es, also musste ich es selber tun. Da man mir nicht erlaubte, in der Kirche zu sprechen, musste ich persönlich zu ihnen gehen. Ich las mit ihnen Matthäus 3,7-12, Matthäus 4,17, Lukas 24,46-47 und Apostelgeschichte 2,36-38, und betonte jedesmal das Wort ‚Umkehr‘. Das war meine ganze Irrlehre. Du kannst nicht alles glauben, was dir ein Gemeindeleiter sagt.“
Ich schwieg, noch beschämter. Ich erinnerte mich, was nachher geschehen war: Sein Arbeitgeber, ein Mitglied desselben Gemeindeverbandes, hatte ihn entlassen. Seine Familie litt sehr, aber niemand in der Gemeinde war daran interessiert, ihnen zu helfen. Seine Frau hielt die Spannungen und die Ablehnung, die ihnen die „Geschwister“ zu spüren gaben, nicht aus. Sie wurde chronisch krank und starb zwei Jahre später. Danach wusste ich nichts mehr von ihm.
Er verstand, was ich dachte, und antwortete: „Sorge dich nicht, das ist alles vergangen. Ich bin jetzt mehr als entschädigt, denn ich kann allezeit das Angesicht meines geliebten Vaters sehen. Um des Herrn willen bin ich geschmäht und verfolgt und verleumdet worden. Deshalb bin ich jetzt selig, wie der Herr gesagt hat, und ich kann dir versichern, das ist wahr.“ – Dann fügte er hinzu: „Durch alle Zeiten hindurch, angefangen bei Jesus selbst und seinen Aposteln, bis hin zu den letzten treuen Zeugen, die in der grossen Trübsal ihre Leben hingegeben haben, sind die Verkündiger des wahren Evangeliums immer verfolgt worden von der offiziellen Kirche. Warum denkst du, gerade deine Zeit sei eine Ausnahme?“

Aber bevor ich antworten konnte, erwachte ich. Da verstand ich, dass die meisten Dinge nicht so sind, wie sie aus dem Blickwinkel dieser Erde aussehen.