Archive for Februar 2013

Wer rettet die Familie?

27. Februar 2013

Anmerkung: Dies ist die nur unwesentlich geänderte Übersetzung eines Artikels, den ich im Jahre 2011 auf meiner spanischsprachigen Website veröffentlichte. Soweit ich aus der Ferne feststellen kann, treffen die meisten hier gemachten Beobachtungen auch auf den deutschsprachigen Raum zu, weshalb ich mich entschloss, eine deutsche Fassung zu erstellen. Einen kulturellen Unterschied glaube ich jedoch zu sehen: Es scheint mir, dass im deutschsprachigen Raum die staatliche Bevormundung und Beinahe-Abschaffung der Familie hauptsächlich von den Regierungen und von politischen Ideologen ausgeht, die zunächst einige Widerstände von seiten der Familien selbst zu überwinden hatten. Hier in Lateinamerika dagegen werden die staatlichen Eingriffe von den Familien selber gewünscht und als wichtige Schritte zur „Bekämpfung der Armut“ angesehen, weshalb es so gut wie keine Stimmen gibt, die sich dagegen aussprechen. Die Familien hierzulande schaffen sich selber ab! Deshalb schreitet der Familienzerfall hier noch viel rasanter voran als in Europa. Noch vor zwanzig Jahren galt Perú als ein Land, das den Familienzusammenhalt gross schrieb (während es in Europa bereits erhebliche Scheidungsraten gab); und viele Jugendliche lernten ihr Handwerk im elterlichen Familienbetrieb. Heute aber wird in den meisten Familien, die ich kenne, nicht einmal mehr gemeinsam gegessen; und Kinder, die bei ihrem Vater und ihrer Mutter wohnen, sind in der Minderheit.


Gott hat uns so geschaffen, dass wir in einer Familie geboren werden, dass ein Vater und eine Mutter nötig sind, damit ein Kind zur Welt kommt, und dass dann Vater und Mutter das Kind erziehen. Das ist die Ordnung der menschlichen Gesellschaft seit der Erschaffung der Welt, und diese Ordnung wird in vielen Bibelstellen bestätigt. Hier nur einige wenige Beispiele:

„Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen sein; und du sollst sie deinen Kindern einschärfen, und sollst davon reden, wenn du in deinem Haus bist, und wenn du auf dem Weg gehst, und wenn du dich niederlegst, und wenn du aufstehst…“
(5. Mose 6,6-7)

„…Aber ich und mein Haus (Familie) werden dem Herrn dienen.“ (Josua 24,15)

„Hört, Kinder, die Lehre eines Vaters, und achtet darauf, damit ihr Einsicht lernt. Denn ich gebe euch gute Lehre; verlasst mein Gesetz nicht. Denn auch ich war ein Sohn bei meinem Vater, zart und einzig in der Obhut meiner Mutter. Und er lehrte mich, und sagte zu mir: Dein Herz halte meine Gründe fest, halte meine Gebote, so wirst du leben.“
(Sprüche 4,1-4)

„Und ihr Eltern, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der Disziplin und Ermahnung des Herrn.“
(Epheser 6,4)

Ein Vater ist das „Bild Gottes“ par excellence:

„Deshalb beuge ich meine Kniee vor dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, von dem jede Familie (wörtlich: Vaterschaft) im Himmel und auf Erden ihren Namen hat.“
(Epheser 3,14-15)

Deshalb ist es lebenswichtig, dass ein Kind in seiner Kindheit Vaterschaft erfährt. Andernfalls wird es ernsthafte Schwierigkeiten haben, Gott als Vater zu verstehen und kennenzulernen.

Ein anderer Aspekt der Familie ist das Zusammenleben mit Geschwistern. Da ist es natürlich, dass es ältere und jüngere Geschwister gibt, und dass jeder anders ist. Niemand findet es verwunderlich, dass z.B. ein Kind künstlerisch veranlagt ist, während ein anderes ein Bücherwurm ist und ein drittes ein Sportler. Es verwundert auch niemanden, dass das kleine Brüderchen noch nicht so viele Dinge weiss wie seine ältere Schwester.
Die jüngeren Geschwister lernen von den älteren, und die älteren lernen, den jüngeren zu helfen und Geduld zu haben mit ihnen. Das ist ein natürliches und sehr wirksames pädagogisches Modell, das von Gott selber eingerichtet wurde und über viele Jahrhundert erprobt ist.

Warum dann hat es die Menschheit während der letzten 150 Jahre unternommen, dieses göttliche Modell auf den Kopf zu stellen und „Erziehung“ durch „Schule“ zu ersetzen?

Die Originalausgabe von 1828 des Wörterbuchs von Webster, das für die englische Sprache massgebend ist, definiert „erziehen/bilden“ („to educate“) folgendermassen:

„Ein Kind aufziehen; instruieren; den Verstand informieren und erleuchten; den Sinn erfüllen mit den Prinzipien der Künste, der Wissenschaft, der Moral, der Religion und des guten Benehmens. Kinder gut zu erziehen ist eine der wichtigsten Pflichten der Eltern und Tutoren (Hauslehrer).“

Wir stellen fest, dass diese Definition die Schule mit keinem Wort erwähnt!

Aber die gegenwärtige Gesellschaft hat alles auf den Kopf gestellt: wenn von „Erziehung“ oder „Bildung“ gesprochen wird, dann denkt jedermann an „Schule“, und niemand spricht von der Familie.

Hier in Perú waren vor kurzem (2011) die Präsidentschaftswahlen. Etwas vom Betrüblichsten am Wahlkampf war für mich, dass keiner der Kandidaten irgendeinen Vorschlag zum Schutz und zur Stärkung der Familien hatte. Keinem fiel es ein, z.B. den vielen Müttern zu helfen, die aus finanziellen Gründen ausser Haus arbeiten müssen, damit sie etwas weniger arbeiten müssten und ihren Kindern mehr Zeit widmen könnten. Viele Kandidaten versprachen Schulfrühstücke und Schulmittagessen, aber keiner machte einen Vorschlag, der dazu beitragen könnte, dass die Kinder zuhause frühstücken und zu Mittag essen könnten, und so ein wenig Familienleben haben könnten, statt den ganzen Tag in der Schule oder auf der Strasse zu verbringen. Keiner schlug vor, den Alkoholismus zu bekämpfen, oder irgendeinen der anderen Faktoren des allgemeinen Zerfalls der Familien. (Laut Statistiken gehört Perú zu den Ländern mit dem weltweit höchsten Anteil an Alkoholikern.) Und soweit ich sehen und hören konnte, fiel es auch keinem Journalisten ein, entsprechende Fragen zu stellen.

Nun, wenn diese Dinge ein bedeutendes Bevölkerungssegment interessierten, dann hätte sich sicher irgendein Politiker damit befasst. Aber anscheinend interessiert sich niemand dafür, die Familien zu retten. Anscheinend möchte jedermann Kinder zeugen, nur um sie sogleich nach der Geburt dem Staat zu überlassen. So wächst eine ganze Generation heran, die nicht mehr weiss, was Vaterschaft ist, was Geschwister sind, was Zuneigung und Liebe ist, und wer Gott ist.

Eltern möchten, dass ihre Kinder „gebildet“ werden; aber sie vergessen, dass sie selber das wichtigste Element einer wirklichen Bildung sind. Was die Wissensvermittlung betrifft, so haben zwar manche Eltern Hilfe von ausserhalb der Familie nötig – aber ich beobachte täglich in meiner Arbeit, dass die Schule gerade auf diesem Gebiet erbärmlich versagt. Die meisten Kinder verstehen gar nicht, was die Lehrer ihnen beizubringen versuchen!
Kürzlich sagte mir eine erschöpfte Mutter: „Den ganzen Nachmittag bin ich beschäftigt mit den Hausaufgaben meines Sohnes, weil die Lehrerin von mir verlangt, dass ich ihm dieses und jenes beibringe…“ – Ich fragte sie: „Aber wird denn nicht die Lehrerin dafür bezahlt, Ihren Sohn zu unterrichten?“ – „Doch, aber die Lehrerin sagt, sie hätte so viele Kinder in ihrer Klasse, dass sie sich nicht wirklich um alle kümmern kann, und dass ich das zuhause viel besser kann, wo ich nur zwei Kinder habe.“ – „Wozu schicken Sie sie dann überhaupt noch zur Schule?“
Tatsächlich beweist das Schulsystem bereits seine Unfähigkeit, Kinder zu lehren; aber statt seine Niederlage zuzugeben, verlangt es jetzt von den Eltern, sich zu seinen Sklaven zu machen. Jetzt wird auch die wenige Zeit, die die Familie noch zusammen verbringen könnte, von den Hausaufgaben beansprucht.

Ein anderer Elternwunsch ist es, dass ihre Kinder „sozialisiert“ würden. Was bedeutet das?
– Wahrscheinlich wissen viele Eltern nicht, was die meisten Pädagogen und Schulplaner unter „Sozialisierung“ verstehen: nämlich die Anpassung des Kindes an die Forderungen der Gesellschaft (bzw. der Schul- und Gesellschaftsplaner). Mit anderen Worten: dass das Kind sich dem Gruppendruck unterwirft und sich der Mehrheit angleicht. Von daher kommen z.B. die normierten Lehrpläne, die verlangen, dass alle Kinder im selben Alter dasselbe lernen und tun.
In der schulischen Umgebung darf es keine „älteren und jüngeren Geschwister“ geben; keine unterschiedlichen Interessen, Talente, und persönliche Entwicklungsgeschwindigkeiten; alle müssen gleich sein. Das Kind hat keine Geschwister mehr, nur noch „Kameraden“. (Im Spanischen ist das dasselbe Wort wie „Genossen“.) Anstelle der mitmenschlichen Beziehungen einer Familie kennen diese Kinder nur noch institutionalisierte Beziehungen. Statt der Zuneigung liebender Eltern erhalten sie nur noch die Aufmerksamkeit eines/r Angestellten, der/die diese Arbeit nur tut (oft lustlos), um sich damit den Lebensunterhalt zu verdienen. Und da verwundert es uns noch, dass die Familien auseinanderfallen?

Nun denken die meisten Leute an etwas anderes, wenn sie das Wort „Sozialisierung“ hören. Sie denken z.B. daran, ein friedliches Zusammenleben zu lernen, miteinander zu teilen und einander zu helfen, sich gegenseitig zu respektieren, usw. Das wäre eine gute und positive Bedeutung des Wortes „Sozialisierung“. Aber geschieht dies in der Schule? In Tat und Wahrheit, kaum – trotz der Bemühungen einiger wohlmeinender Lehrer. In einer Gruppe von dreissig (oder auch nur zwanzig) Kindern herrscht natürlicherweise das Recht des Stärkeren; und ein Lehrer kann nicht viel tun, um diese Gruppendynamik zu durchbrechen (wenn er es überhaupt will). Somit wird das Schulkind durch das schlechte Benehmen seiner Kameraden „sozialisiert“ statt durch die (vielleicht) guten Absichten des Lehrers.

Wer ist jetzt ein besseres Beispiel für ein Kind: seine gleichaltrigen Kameraden, die ebenso ihren Eltern entfremdet sind wie es selber; oder seine eigenen Eltern?
Die Eltern befinden sich natürlich in einer viel besseren Ausgangslage, um dem Kind ein gutes Beispiel zu geben im Benehmen, im Zusammenleben, und in allem, was zur „Sozialisierung“ (in ihrem guten Sinn) gehört. Natürlich mit Ausnahme jener traurigen Fälle, wo die Eltern ihre Kinder völlig ablehnen oder Kriminelle oder gewalttätige Alkoholiker sind. Aber ebenso gibt es auch Lehrer, die ihre Schüler ablehnen oder Kriminelle oder Alkoholiker sind.
Beobachten Sie eine Gruppe von Schulkindern auf dem Schulhof während der Pause, oder auf der Strasse bei Schulschluss: Die Kinder behandeln einander vorwiegend mit Aggressionen, Flüchen, Hänseleien und Schlägen. Wollen wir wirklich, dass unsere Kinder auf diese Weise „sozialisiert“ werden?
In einer Familie dagegen, wo die Eltern (oder zumindest ein Elternteil) anwesend sind, können die Beziehungen zwischen Geschwistern und zu Freunden (wenn sie nach Hause eingeladen werden) viel besser beobachtet und „moderiert“ werden. Die Gegenwart und das Beispiel der Eltern haben mehr Gewicht, und das Kind hat ein Vorbild, an dem es sich orientieren kann.

Natürlich ist Kindererziehung nicht einfach. Es ist eine Arbeit, die Zeit und Vorbereitung erfordert. Aber Eltern, die ihre Kinder lieben, werden ohne weiteres zu diesem „Opfer“ bereit sein, zum Wohl ihrer Kinder. (In Wirklichkeit bereichert dieses „Opfer“ die Eltern selber: an Erfahrung, Reife, und mit einer besseren Beziehung zu ihren Kindern.) Ich kann wirklich nicht verstehen, warum so viele Eltern ihre Kinder vom Babyalter an und möglichst ganztags fremden Personen zur Betreuung überlassen wollen, und sich damit zufriedengeben, sie einige wenige Minuten pro Tag zu sehen. Verwundert es uns da, dass die Familienstreitigkeiten zunehmen, die Trennungen und Scheidungen, die psychologischen Störungen bei Kindern? Und dass in der Folge die ganze Gesellschaft auseinanderzufallen beginnt?

Traurigerweise haben auch die christlichen Kirchen anscheinend nicht erkannt, was vorgeht. Im Gegenteil, soweit ich sehe, machen sie diese Demontierung der Familien fröhlich mit. Statt Familien zu vereinen, trennen sie sie noch mehr mit ihren Programmen von „Sonntagschule“, „Jugendgruppe“, „Männer-“ bzw. „Frauentreffen“, usw. Und in allem was ich oben beschrieben habe, sehe ich, dass die Kirchen den Strömungen der Welt folgen, ohne eine Alternative anzubieten. Gut, es gibt einige evangelische Schulen – aber leider haben auch diese keine christliche Sicht von Erziehung und Familie. Gibt es da überhaupt noch jemanden, der aufstehen würde zur Rettung dieser vom Aussterben bedrohten Art, der FAMILIE?

Vom Sinn oder Unsinn der Schulnoten – 6.Teil

17. Februar 2013

Noten u.ä. als diagnostisches Instrument – Wie wir es handhaben

Unseren eigenen Kindern musste ich nach dem System der Moore-Academy jeweils jährliche Noten erteilen; aber normalerweise bekamen sie diese gar nicht zu Gesicht. Und wenn, dann interessierten sie sich nicht besonders dafür. Diese Noten haben auch nichts mit Selektion zu tun; sie stellen lediglich eine grobe Beurteilung der Qualität der schriftlichen Arbeiten dar, sowie des persönlichen Fleisses und Interesses für ein bestimmtes Thema. (Dr. Raymond Moore rät aufgrund seiner Forschungen über die Entwicklung des Kindes, wenn immer möglich Kinder unter zehn bis zwölf Jahren keinen formellen Prüfungen auszusetzen.)
Was unsere Kinder zum Lernen motiviert, ist weitgehend ihre eigene Neugier und ihr Interesse an verschiedensten Themen, sowie die sicht- und spürbaren Ergebnisse ihrer Arbeit. Z.B. wenn mein Sohn sein Flugzeugmodell in der Hand hält, das er selber konstruiert und zusammengebaut hat. Oder wenn er seinen deutschsprachigen Verwandten einen Brief auf Deutsch geschrieben hat und tatsächlich verstanden wird und eine Antwort erhält. (Unsere Kinder wachsen ja spanischprachig auf; Deutsch ist für sie eine Fremdsprache.)

Natürlich erhalten unsere Kinder Fehler-Feedback nach den im 5.Teil beschriebenen Prinzipien. Manchmal geschieht dies in Form von schriftlichen Korrekturen; häufiger aber in Form einer kurzen persönlichen Besprechung und nachfolgender Nachholarbeit. Das heisst: Ich bewerte nicht einen „momentanen Leistungsstand“, wie das Schulnoten tun; sondern ich gebe von Anfang an ein (erreichbares) Ziel vor, bzw. mein Sohn steckt sich selbst ein solches Ziel, und dann arbeitet er, bis das Ziel erreicht ist – ob das nun im ersten Anlauf geschieht oder mehrere Wochen dauert. (Das gilt für jetzt, wo meine Kinder in die Pubertät eintreten. Jüngere Schüler haben normalerweise nicht die Ausdauer, länger als eine Woche auf ein bestimmtes Lernziel hinzuarbeiten.) Ein solches Ziel kann z.B. darin bestehen, ein bestimmtes Buch zu lesen und eine Zusammenfassung davon zu schreiben; oder in der Lage zu sein, Multiplikationen und Divisionen mit Dezimalbrüchen richtig zu lösen; oder einen Bumerang zu bauen, der beim Werfen wirklich zurückkommt. (Das letztgenannte Ziel trägt übrigens sein Feedback in sich selbst – das ist meistens noch wirksamer als die Fremdbeurteilung durch den Vater bzw. Lehrer.)

Unseren Nachhilfeschülern geben wir überhaupt keine Noten – sie haben in der Schule schon zuviel davon. Mit Ausnahme einer Schülerin, die eines Tages wünschte, Rechnungen zu üben und dafür benotet zu werden. Ich gab ihr Rechnungen von der Art, wie sie sie gerade gelernt hatte – was nicht identisch ist mit dem, was nach dem unflexiblen schulischen Lehrplan von ihr verlangt wurde. Sie erzielte gute bis sehr gute Noten und freute sich sehr darüber, weil sie in der Schule höchst selten so gute Noten erhielt. Dennoch waren das keine „guten Noten aus Mitleid“, sondern streng nach einer linearen Skala errechnete „wahre“ Noten. Nur war die Aufgabenstellung – im Gegensatz zu den schulischen Aufgaben – dem tatsächlichen Lernen des Mädchens angemessen, sodass die Noten ihren tatsächlich eingetretenen Lernerfolg massen.

Was wir hingegen mit den meisten unserer Nachhilfeschüler tun, ist eine Beurteilung mit Hilfe einiger der von Jean Piaget vorgeschlagenen Experimente zur Einschätzung des mentalen Entwicklungsstandes. Also eine „diagnostische“ Beurteilung wie oben beschrieben. Die Ergebnisse helfen uns zu verstehen, was und wieviel wir von jedem Schüler verlangen können, und erklären manchmal auch, woher die schulischen Probleme der Kinder kommen. Normalerweise sprechen wir auch mit den Eltern über unsere Beobachtungen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Z.B. kommt es oft vor, dass Kinder zu uns kommen, die bereits in der zweiten Klasse sind, aber dann stellt sich heraus, dass die mit „konkreten Operationen“ verbundenen Fähigkeiten bei ihnen noch gar nicht entwickelt sind und sie demnach noch gar nicht in der Schule sein sollten. Leider haben aber unsere Elterngespräche meistens keine weiteren Konsequenzen, weil wir keinen „offiziellen“ Status haben und deshalb keinerlei Massnahmen anordnen können, und die Eltern von sich aus selten etwas unternehmen. Die Lehrer interessieren sich in der Regel nicht für eine gesunde Entwicklung der Kinder, und die Schulbürokratie erst recht nicht. Das ist eine der grössten Frustrationen in unserer Arbeit: Wir wissen aus Erfahrung, dass diese Kinder mit viel weniger Stress, Druck und Schulstunden dasselbe (oder mehr) lernen könnten, wenn man ihnen nur zuerst genügend Zeit liesse, sich kindgemäss zu entwickeln. Aber da man ihnen diese Zeit nicht lässt, verbringen sie ihre gesamte Freizeit sinnlos hinter Aufgaben, die ihnen gar nicht angemessen sind, und werden erst noch als „faul“ oder „dumm“ etikettiert.

Für die Zeit, wo die Kinder bei uns sind, hilft uns aber eine solche „Diagnose“, ihnen Tätigkeiten vorzuschlagen, die ihrem Entwicklungsstand und Können angemessen sind. Als Bestätigung sehen wir dann meistens, dass sie zu diesen Tätigkeiten viel motivierter sind als zu den Schularbeiten – und dabei tatsächlich etwas lernen.

Vom Sinn oder Unsinn der Schulnoten – 5.Teil

13. Februar 2013

Noten u.ä. als diagnostisches Instrument

In den vorhergehenden Folgen dieser Artikelserie haben wir gesehen, dass Schulnoten
– jahrtausendelang an den Schulen unnötig waren und erst in neuester Zeit erfunden wurden,
– verschiedene institutionelle und persönliche Folgen haben, die das Lernen nicht fördern, sondern es im Gegenteil behindern,
– weder objektiv noch angemessen sind zur Beurteilung der effektiven „Leistung“ und/oder Intelligenz,
– in keinerlei Korrelation stehen zum effektiven beruflichen Erfolg einer Person.

Sollen dann Schüler überhaupt nicht beurteilt werden? – Ich zitiere meinen kritischen Kommentator weiter:

„…dass es für einen Schüler mit einer schlechten Note zunächst einmal wertvoll sein kann, zu akzeptieren, dass er selbst etwas falsch gemacht hat. Heutzutage wird ja oft der Fehler bei den Anderen gesucht. Wenn man also eine schlechte Note bekommt, dann ist nach dieser Logik in irgendeiner Form der Lehrer schuld. Dies hindert den Schüler jedoch daran, sich mit seinem Leistungsdefizit (nicht charakterlichen Defizit) auseinanderzusetzen und es abzustellen. „

Richtig daran ist, dass ein Feedback für den Schüler nötig und hilfreich ist (übrigens nicht nur über die Fehler, die er begeht, sondern erst recht über das, was er gut und richtig macht!) In diesem Kommentar werden aber zwei Dinge durcheinandergeworfen, die auf ganz verschiedenen Ebenen liegen, nämlich 1) das Korrigieren eines Fehlers und 2) die Beurteilung bzw. Klassifizierung aufgrund eines „Leistungsdefizits“.

Fehler zu korrigieren, ist ein normaler Teil des Lernprozesses. Dieser sollte aber nicht verwechselt werden mit einer Beurteilung. Schüler machen Fehler, entweder aus Unwissenheit (z.B. Rechtschreibefehler), oder weil sie von ihrem Entwicklungsstand her noch nicht in der Lage sind, einen Sachverhalt zu verstehen (z.B. Denkfehler bei mathematischen Problemen, bzw. Unvermögen, die Problemstellung überhaupt zu verstehen).
In ersterem Fall kann der Fehler behoben werden, indem man dem Schüler die nötige Information verschafft und ihm genügend Zeit gibt, diese zu assimilieren. In letzterem Fall ist der Fehler ein Anzeichen von Überforderung: die Aufgabenstellung war dem Entwicklungsstand des Schülers nicht angemessen und hat deshalb keinerlei Lerneffekt, sondern verwirrt nur. Ein Fehler dieser zweiten Art kann nicht unmittelbar „behoben“ werden, weil die zur Lösung der Aufgabe erforderlichen mentalen Strukturen beim Schüler schlicht noch nicht vorhanden sind. Wenn dies als „Leistungsdefizit“ bezeichnet wird, das der Schüler „abstellen“ soll, dann bürdet ihm der Lehrer damit eine unerträgliche Last auf, die er selber mit keinem Finger anzurühren bereit ist (Matthäus 23,4) – ebenso wie wenn ich unbedingt darauf bestehen würde, an einen Motor von 10 PS eine Maschine anzuschliessen, die eine Leistung von 25 PS erfordert. An einem solchen „Leistungsdefizit“ ist nicht der Motor (bzw. der Schüler) schuld, sondern tatsächlich der Lehrer, der einen solchen Motor (bzw. Schüler) auf unsachgemässe Weise überfordert. Was geschehen kann, wenn ein Schüler gezwungen wird, dennoch solche ihm unmöglichen „Leistungen“ zu erbringen, habe ich an anderer Stelle schon ein wenig ausgeführt.

Was nun die Fehler der „ersten Art“ betrifft, so braucht der Schüler zweifellos ein Feedback darüber, damit er die Fehler korrigieren kann. Seine „Leistung“ (wenn man das Wort hier unbedingt verwenden will) besteht in diesem Fall darin, dass er eine bestimmte Anzahl Fehler (z.B. Rechtschreibefehler) korrigiert und diese in Zukunft nicht mehr begeht. Wenn wir also eine solche „Leistung“ messen wollten, dann müssten wir den Fortschritt des Schülers im Vergleich zu seinem eigenen vorherigen Stand messen – d.h. nachdem er den Lernprozess des Fehler-Korrigierens durchlaufen hat.
Es ist ein wichtiges pädagogisches Prinzip, dass man ein Kind nie mit anderen Kindern vergleichen soll, sondern immer nur mit sich selber. Dieses Prinzip wird aber in der schulischen Notengebung und Beurteilung systematisch verletzt. Die Schulnoten messen nicht den persönlichen Fortschritt jedes Kindes, sondern lediglich (wenn überhaupt) dessen aktuellen Stand im Vergleich zum Klassenverband. Damit sagen die Noten überhaupt nichts darüber aus, ob das Kind tatsächlich einen Fortschritt erzielt (d.h. dazugelernt) hat, oder ob es schon vorher schon alles wusste, oder ob es sogar einfach ein bisschen weniger verdummt wurde als seine Klassenkameraden.

Wenn Kinder schon nach einer Art normierter Skala beurteilt werden sollen, dann würde ich das eher als Diagnose ihres momentanen Entwicklungsstandes verstehen, nicht als „Leistungsbeurteilung“. Als Skala würde ich auch nicht das Beherrschen von „Schulstoff“ nach Lehrplan benützen, denn damit wird (wie erwähnt) meistens nur die Fähigkeit gemessen, Daten „auf Zeit“ auswendig zu lernen. Als eine viel sinnvollere Skala betrachte ich die von Jean Piaget beschriebenen Fähigkeiten des logischen Schlussfolgerns (z.B. das Verständnis der Gesetze der Erhaltung der Anzahl und der Masse; oder die Fähigkeit zur „Umkehrung“ einer gegebenen Operation); oder die von Raymond Moore beschriebenen Indikatoren des „integralen Reifegrades“. (Letztere erfordern jedoch z.T. medizinische Diagnosen, die wir nicht stellen können; somit sind Piagets Experimente für unsere Zwecke praktischer.)

Es ist nun wichtig zu verstehen, dass diese grundlegenden mentalen Fähigkeiten nicht das Ergebnis eines Lehr- oder Lernprozesses sind, sondern der natürlichen Reifung des Kindes. Diese natürliche Reifung kann zwar durch bestimmte Umweltfaktoren in gewissem Mass begünstigt oder behindert werden (z.B. das Mass an mitmenschlicher Kommunikation und Verständnis in der Familie); es handelt sich aber dabei keinesfalls um eine „Leistung“ des Kindes. Wenn die entsprechenden Fähigkeiten einmal vorhanden sind, können sie pädagogisch gefördert werden; aber was noch nicht vorhanden ist, kann auch nicht gefördert werden.

Eine solche „diagnostische“ Beurteilung der mentalen Fähigkeiten eines Kindes misst also nicht dessen „Leistung“, sondern gibt darüber Aufschluss, was für Lernleistungen diesem Kind von seinem gegenwärtigen Entwicklungsstand her möglich sind bzw. von ihm erwartet werden können. Es geht also in erster Linie darum, dem Lehrer ein Werkzeug in die Hand zu geben, um zu verstehen, was für Arten des Lernens und was für Anforderungen jedem Kind angemessen sind von seinem Entwicklungsstand und Intelligenzprofil her. Das Ziel ist dabei, das Lehren und Lernen den Bedürfnissen des Kindes anzupassen – statt, wie es im Schulsystem geschieht, die Kinder dazu zu zwingen, sich einem unpersönlichen Einheitslehrplan mit Einheitsmethoden anzupassen.

Wenn „Schulnoten“ in diesem Sinne verstanden werden könnten, dann wären sie sogar sinnvoll und nützlich. (Ich ziehe es aber vor, in diesem Zusammenhang nicht den Begriff „Noten“ zu gebrauchen.) Auch über das Genannte hinausgehende Messungen der gegenwärtigen Kenntnisse und Fähigkeiten der Kinder könnten dann als eine Art „Landkarte“ dienen, die dem Kind (sowie seinen Eltern und Lehrern) zeigt, wo in der „Lernlandschaft“ es sich momentan befindet, und was für nächste Schritte ihm demnach anzuraten seien. Wenn der Bezug auf einen starren und jahrgangsweise vorgeschriebenen Lehrplan wegfällt, dann hat eine solche Beurteilung auch nicht mehr den Effekt einer (oft ungerechtfertigten) institutionellen Disqualifizierung der Hälfte der Schüler. Es ist dann einfach normal, dass sich nicht alle Kinder in ihrem Lernen auf derselben Stufe befinden – Hauptsache, sie schreiten von da her vorwärts.

Auf eine solche diagnostische Beurteilung muss sich der Schüler auch nicht mit viel Stress vorbereiten. Oder bereitet sich etwa ein Patient auf seinen nächsten Arztbesuch angestrengt vor, indem er z.B. vorher ausgiebig kalt badet, damit er dann etwas weniger Fieber hat und so die Diagnose etwas besser ausfällt? Der Arzt wäre kaum erfreut darüber!

Raymond und Dorothy Moore schreiben über diese schulischen Prüfungsvorbereitungen:

„Zuallererst ist die Standardisierung der Prüfungen zweifelhaft, nicht nur vom statistischen Standpunkt her, sondern auch weil so viele Schulsysteme in ihrem Bemühen, ‚die Prüfung zu knacken‘, von ihren Lehrern verlangen, auf die Prüfung hin zu lehren, d.h. Aufgaben aus früheren Prüfungen (und manchmal sogar aus aktuellen) zu behandeln, um die Kinder auf die richtigen Antworten hin zu konditionieren. Vor Jahren hätte man dies ‚Mogeln‘ genannt. Aber in vielen Schulen ist das heute die empfohlene Praktik. Solche Praktiken verfälschen die Prozesse der Standardisierung, und die Breite und Tiefe der Ausbildung wird verengt auf die Themen, die in der Prüfung abgefragt werden.“
(In „The Successful Homeschool Family Handbook“, 1994.)

Eine „Diagnose“ im genannten Sinn sollte nicht nur den quantitativen Aspekt von „Leistung“ in Betracht ziehen, sondern vor allem auch den qualitativen. Neuere Modelle (Guilford, Gardner, u.a.) zeigen, dass „Intelligenz“ mehrdimensional ist. Wenn wir verstehen, welche dieser Dimensionen bei einem Schüler stärker ausgeprägt sind und welche weniger, dann kann das nicht nur zur besseren Selbstkenntnis des Schülers beitragen (z.B. im Hinblick auf eine spätere Berufswahl). Es gibt auch Aufschluss darüber, welches die besten Lern- und Lehrmethoden sind für diesen Schüler. So könnte (wenn die Freiheit dazu gegeben wäre) die optimale Lernform für diesen Schüler gefunden werden – statt dass wie bisher einfach jene Schüler disqualifiziert werden, deren Intelligenzprofil nicht exakt zur einzigen vom Schulsystem praktizierten Lehr- und Lernmethode passt.

Erfahrungen aus der Pädagogik der „aktiven Schule“ haben übrigens gezeigt, dass Kinder in der Regel selber diese Optimierung vornehmen, wenn man ihnen die Möglichkeit und Freiheit dazu gibt: Sie wählen dann von selber jene Inhalte und Methoden bzw. Materialien aus, die ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand und ihrer persönlichen Lernweise am besten entsprechen.

(Fortsetzung folgt)

Vom Sinn oder Unsinn der Schulnoten – 4.Teil

5. Februar 2013

Wir haben in den früheren Artikeln dieser Serie bereits gesehen, dass Schulnoten als „Intelligenz-“ oder „Leistungsmassstab“ denkbar ungeeignet sind. Dennoch glauben immer noch allzu viele Menschen, der Erfolg eines Menschen hänge von dessen Schulnoten ab. Betrachten wir deshalb das Thema noch aus einem etwas anderen Blickwinkel:

Besteht irgendein Zusammenhang zwischen Schulnoten und späterem Erfolg im Leben?

Als Christ muss ich hier zuallererst bemerken, dass „Erfolg“ aus Gottes Sicht nichts zu tun hat mit einer guten Arbeitsstelle, Reichtum, Macht oder Einfluss. Wie einmal einer meiner Lehrer sagte: „Erfolg in Gottes Augen besteht darin, seinen Willen getan zu haben.“ Darauf wird man in der Schule jedenfalls nicht vorbereitet! Im Gegenteil, man wird darauf trainiert, den obengenannten Götzen dieser Welt nachzujagen.

Aber sogar von den weltlichen Massstäben ausgehend, kann keine Korrelation zwischen Schulnoten und „Erfolg im Leben“ nachgewiesen werden. John Taylor Gatto ist in seinem letzten Buch (u.a.) diesem Thema nachgegangen, und ich möchte hier ausführlich daraus zitieren bzw. übersetzen:

„Das gegenwärtige Hauptziel der Schulzeit, ein Ziel, auf das sich viele selbstzufriedene Menschen etwas einbilden, ist die Produktion von guten Noten in standardisierten Prüfungen – Noten, die mit kaum einem Bereich von Wert eine Korrelation haben. Jeder Präsident der Vereinigten Staaten, seit solche Prüfungen eingeführt wurden, hatte eine mittelmässige oder schwache Note; dasselbe gilt für die meisten Führungskräfte grosser Firmen.
Wenn diese Noten irgendeine Bedeutung hätten, würden dann nicht die Konsumenten ihre öffentliche Bekanntgabe fordern? Würden Sie auf ein Pferd setzen, ohne dessen vorangegangene Leistungen zu konsultieren? Aber Sie sind gezwungen, täglich auf Lehrer, Schuldirektoren, Universitätsprofessoren usw. zu setzen, ohne zu dieser „wertvollen“ Information Zugang zu haben. Was ist das für ein Irrsinn?
„Hohe Leistungsstandards“ und „Standardisierung“ sind zwei sehr verschiedene Dinge, aber die Regeln der Neusprache* haben Sie absichtlich dazu verleitet, die beiden Dinge als dasselbe anzusehen, ebenso wie Sie dazu konditioniert wurden, „Bildung“ und „Schulung“ miteinander zu verwechseln.“
(John Taylor Gatto, „Weapons of Mass Instruction“)

* Neusprache (Newspeak) ist in George Orwells Roman „1984“ die von einer Weltdiktatur neu geschaffene Sprache, die es unmöglich macht, „politisch inkorrekte“ Gedanken auszudrücken.

Gatto begründet seine These ausführlich, dass Schulnoten keinerlei Korrelation zu persönlichem, beruflichem oder finanziellem Erfolg aufweisen. U.a. bringt er die folgenden konkreten Beispiele:

„Wie kommt es dann, dass Washington und Lincoln, unsere zwei besten Präsidenten, beide kaum je zur Schule gingen? Wie können wir die Laufbahn der zwei legendären Industriellen, Carnegie und Rockefeller, erklären, die beide schon auf der Primarstufe von der Schule flogen? Warum wird Schule nur heute als wichtig angesehen, aber zu der Zeit jener Männer nicht?
Wie kam es, dass uns die Auflistung des menschlichen Genoms von einem fürchterlichen Schüler namens Craig Venter gegeben wurde, und von einem zuhause ausgebildeten wiedergeborenen Christen namens Frances Collins, der lernen konnte, was immer er wollte und wie lange er wollte? (…) Collins sagte in einem Interview mit der „New York Times“ vor ein paar Jahren, dass die Regierung des Staates Virginia seine Mutter ins Gefängnis geworfen hätte, wenn sie gewusst hätten, wie „Schule“ bei ihm zuhause aussah. (…) Craig Venter fand die Schule schrecklich langweilig und rächte sich, indem er seine Lehrer bis zum Wahnsinn ärgerte. Oft blieb er der Schule fern, und in den ersten Highschool-(Sekundarschul-)Jahren wurde er die Schule los, weil ein Lehrer eine seiner „F“-Noten in „0-“ abänderte, damit die Schule seiner ledig wurde. (Im amerikanischen System ist „A“ die beste Note.)
Auch Franklin Roosevelts Erfolg wäre kaum vorhergesagt worden aufgrund seines Notendurchschnitts von „C“ in der Sekundarschule und im College. George W.Bush hatte ebenfalls einen Durchschnitt von „C“, aber es war immerhin ein höheres „C“ als jenes von John Kerry, dem Senator von Massachusetts. Al Gore flog von seinem ersten College und schlüpfte gerade knapp durch das zweite mit einem Durchschnitt von „C-„. Dick Cheney, Vizepräsident zu der Zeit, wo ich das schreibe, flog ebenfalls von der Schule. (…)
Die weltweite Dominanz der USA auf dem Computermarkt beruht auf Männern ohne höhere Schulbildung: Bill Gates und Paul Allen von Microsoft – kein College-Abschluss. Steve Jobs und Steve Wozniak von Apple – kein College-Abschluss. (Nachdem Wozniak bereits ein Multimilliardär war, studierte er für ein Diplom, um in Kalifornien Primarschüler unterrichten zu dürfen, wie ich hörte. Keinesfalls aber verdankt er seinen Erfolg seiner Schulbildung.) Michael Dell ist ein weiterer Unsterblicher der Computerwelt ohne höheren Schulabschluss; ebenso Larry Ellison von Oracle.
Ted Turner, der Gründer von CNN, flog im ersten Jahr vom College.
William Faulkner hatte zu schlechte Schulnoten, um an die Universität von Mississippi zugelassen zu werden. Nachdem er im ersten Weltkrieg als Offizier gedient hatte, erhielt er die Zulassung; aber in seinem ersten Semester erhielt er ein „D“ in Englisch und verliess die Universität mit Abscheu, um nie mehr zurückzukehren.
Warren Avis, der Pionier der Autovermietung an Flughäfen, hielt eine höhere Schulbildung für Zeitverschwendung und bewarb sich gar nie darum.
Edward Hamilton, Amerikas grösster unabhängiger Versandbuchhändler, schrieb mir, sein grösster Anfangsvorteil über die Konkurrenz hätte darin bestanden, dass er kein Geld und keine Zeit an einem College verschwendet hätte.
Paul Orfalea, der hochintelligente Gründer von Kinko’s, wurde an seiner Sekundarschule als nicht gerade begabt angesehen, wie er in seinen Memoiren schreibt.
Shawn Fanning, dessen Erfindung von Napster im Alter von 18 Jahren beinahe die Musikindustrie ruinierte, wurde 2007 von dieser selben Industrie für Millionen von Dollars angeheuert, um einen Rettungsplan für sie zu entwerfen. Shawn hatte keinen höheren Schulabschluss und plant gegenwärtig auch keinen zu erlangen.
Warren Buffet begann seine Karriere als Geschäftsmann im Alter von sechs Jahren, indem er in einem heissen Sommer während der Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre in Omaha, Nebraska, eisgekühltes Coca-Cola verkaufte. Ständig fügte er weitere Geschäfte dazu: er verkaufte verlorene Golfbälle; durchsuchte bei Pferderennen weggeworfene Wettscheine nach zufällig fortgeworfenen Gewinnern; erfand ein System, wie er auf einer einzigen Route 1500 Zeitungen verteilen konnte (…) Vom Alter von 13 Jahren an war er finanziell unabhängig, und mit 18 Jahren hatte er ein Bankguthaben von hunderttausend Dollar. Dann bewarb er sich an der Wharton Business School und wurde abgewiesen. Was Warren Buffet selbständig lernte, durch aktives Eingehen von Risiken, Phantasie und wirkliche Arbeit, das können oder wollen Schulen nie lehren.“
(John Taylor Gatto, a.a.O.)

Umgekehrt sind gute Schulnoten keineswegs ein Vorzeichen späteren Erfolgs. Ein trauriges Extrembeispiel ist James Holmes, der Mörder, der im Juli 2012 an der Premiere des neusten „Batman“-Films zwölf Menschen erschoss und 58 verletzte. Ein Zeitungsbericht sagt über ihn: „Holmes war ein hervorragender Student sowohl am Institut von San Diego wie an der Riverside-Universität in Kalifornien, wo er als einer der Besten seiner Klasse in Neurologie abschloss.“ Auch Adam Lanza, der im Dezember desselben Jahres in einer Schule in Connecticut 27 Personen und dann sich selbst tötete, war ein Schüler mit Bestnoten gewesen.

Es scheint übrigens, dass sich das politische und schulische Establishment durch solche Enthüllungen aufs Äusserste bedroht fühlt. Gatto berichtet den folgenden Vorfall:

„Am 5.März 2004 fuhr ich zur Highland High School im reichen Rockland-Bezirk im Norden von New York City, aufgrund einer Einladung eines Mitglieds der Schulleitung, John Janciewicz. (…)
Ich war gewappnet mit Informationen aus der New York Times, wonach die standardisierten Prüfungsnoten von Lehrern, Schuldirektoren und -superintendenten sich fast zuunterst auf einer Rangliste von zwanzig Berufsgruppen befanden, mit den Superintendenten auf dem allerletzten Platz. Ich sagte den Schülern (ganz ruhig, ich schwöre es!), ihre Eltern sollten fordern, dass jedermann, der an einer Schule ihres Bezirkes angestellt sei, seine eigenen Schulzeugnisse gut sichtbar an seiner Tür veröffentlichen müsste; und das würde das ganze traurige Kartenhaus zum Einsturz bringen.
(…) Die wichtigste Information, die ich vermittelte, war über die Zulassungspolitik an den Universitäten von Harvard, Stanford, Yale, Princeton, und ähnlich angesehenen Institutionen. Diese weisen viele Schüler ab, die an ihrer Schule Bestnoten erzielten. Stattdessen bevorzugen sie Bewerber, die sich in einer speziellen Sache hervorgetan haben (wie die Zulassungsdirektorin von Harvard, Marlyn McGrath, vor einigen Jahren sagte): Hast Du ein erfolgreiches Geschäft begonnen? Hast Du eine wohltätige Organisation gegründet? Hast Du allein die Welt umsegelt, oder bist Du zu Fuss von Feuerland bis nach Alaska gewandert? Kannst Du einen Traktor in Einzelteile zerlegen und ihn allein wieder zusammensetzen? (Tatsächlich haben Teenager schon alle die genannten Dinge getan.)
(…) Und dann geschah es.
Plötzlich stiess ein Polizeidetachement die Türen des Hörsaals mit einem lauten Krachen auf und stürmte in den Raum! Der verantwortliche Offizier rief durch ein Megaphon: „Diese Versammlung ist aufgelöst! Verlasst den Saal sofort! Bleibt ruhig! Kehrt zurück in eure Schulzimmer! Folgt euren Lehrern!“
Das war der merkwürdigste Moment in meinem ganzen Leben. Jedermann im Saal war schon die ganze Zeit ruhig, mit Ausnahme der Polizisten!
Der verantwortliche Offizier rief weiter: „Diese Versammlung ist aufgelöst! Verlasst den Saal sofort!“, und dabei marschierte er mit doppelter Geschwindigkeit auf mich zu und fixierte mich mit den Augen, wie ein Falke einen Sperling ins Auge fasst. Er rief: „Verlassen Sie den Raum sofort. Diese Lektion ist beendet!“ Zweifellos wäre ich verhaftet worden, wenn ich ihm nicht Folge geleistet hätte.
Hatte die Schule eine Bombendrohung erhalten? Nein. Ich war die Bombe. Während ich das Gebäude verliess, holte mich Jankiewicz ein und informierte mich, dass der Superintendent der Schule meine Rede derart aufrührerisch gefunden hatte, dass er die Polizei alarmiert hatte, um mich zum Schweigen zu bringen. Denke darüber nach. Ich hatte ständig in normalem Gesprächston gesprochen. Ich gebrauchte keinerlei Gassensprache. Ich hatte weder aufgeregt noch demagogisch noch verurteilend gesprochen.
Diese Schule hatte zwar keinen derart unverhältnismässigen Polizeieinsatz angefordert wie die Stadt Nürnberg, als sie Melissa Busekros* verhafteten, es waren nur drei Polizisten; aber das Prinzip – wie Du hoffentlich sehen kannst – war dasselbe.“
(John Taylor Gatto, a.a.O.)

* Melissa Busekros wurde im Jahre 2008 als Sechzehnjährige mit Polizeigewalt aus ihrer Wohnung entführt und zwangspsychiatriert. Der einzige Grund dafür: sie war von ihren Eltern zuhause ausgebildet worden, statt zur Schule zu gehen. In jedem anderen Land wäre das Vorgehen der Behörden als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung verurteilt worden.

.In einer nächsten Folge möchte ich skizzieren, wie dann eine sinnvollere Alternative zu Schulnoten aussehen könnte.

(Fortsetzung folgt)