Archive for September 2019

Die neutestamentliche Gemeinde als "Familie Gottes" – Teil 4

24. September 2019

Plurale Ältestenschaft

Soweit wir Informationen über Gemeindestrukturen haben, wurde keine im Neuen Testament beschriebene Gemeinde von einer einzigen Person geleitet. Überall finden wir ein Team von mehreren Personen, die gemeinsam die Verantwortung für die Gemeinde wahrnahmen:
– Jerusalem: die elf Apostel.
– Antiochien: fünf „Propheten und Lehrer“ (Apg.13,1)
– Die ersten von Paulus gegründeten Gemeinden: Älteste (Apg. 14:23)
– Ephesus: Älteste (Apg. 20,17)
– Die Gemeinden im allgemeinen: „Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer“ (Epheser 4,11)
– Philippi: „Aufseher und Diener“ (Philipper 1,1)
– Die Gemeinden im allgemeinen: „Leiter“ oder „Vorsteher“ (Hebräer 13,7.17.24)
– Die Gemeinden im allgemeinen: Älteste (Titus 1,5, Jakobus 5,14, 1.Petrus 5,1)

Ein evangelikaler „Pastor“ antwortete mir einmal, in 1.Timotheus 3,2 stehe „der Bischof“ im Singular: „Der Aufseher („Bischof“) soll untadelig sein, Mann einer einzigen Frau, …“ (usw.) Ja, aber hier wird die Einzahl repräsentativ für alle Aufseher verwendet. Das ist so, wie wenn eine Anweisung lautet: „Der Feuerwehrmann hält sich ständig bereit“; damit soll auch nicht ausgesagt werden, die Feuerwehr bestünde nur aus einem einzigen Feuerwehrmann.

Die Verantwortung mit mehreren Ältesten zu teilen, hat verschiedene Vorteile:

  • Ein Ältestenteam wird eher die Notwendigkeit verspüren, Gott ernsthaft zu suchen, um zu einmütigen Entscheidungen nach dem Willen Gottes zu kommen. „Wo viele Ratgeber sind, herrscht Sicherheit“ (Sprüche 11,14).
  • Die Gefahr ist geringer, dass einer der Ältesten anfängt, seine Macht auf autoritäre Weise zu missbrauchen.
  • In einem Team gibt es eine grössere Vielfalt an geistlichen Gaben. Das ist nötig für die gesunde Auferbauung der Gemeinde.

Man vergleiche die folgenden Stellen miteinander: Apg.20,17.28, 1.Petrus 5,1-3, Titus 1,5-7. Wir stellen fest, dass die „Aufseher“ („Bischöfe“) mit den Ältesten identisch sind, und dass auch das „Weiden“ (Hirtendienst, „Pfarramt“) eine Funktion der Ältesten ist. In der neutestamentlichen Gemeinde gibt es also keine „Pastoren über Ältesten“, keine „Bischöfe über Pastoren“, und keine „Bischöfe über Ältesten“. Verantwortlich für die örtliche Gemeinde waren die Ältesten (im Plural). Punkt.

Schwierige Zeiten für Schweizer Homeschooler?

18. September 2019

Betrübt stelle ich bei einem Blick auf meine ehemalige Heimat fest, dass auch dort offenbar das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, immer stärker unter Beschuss gerät. Gemäss einer kürzlichen Pressemitteilung (Basler Zeitung vom 16.September) hat das Schweizer Bundesgericht dem Kanton Basel-Stadt recht gegeben, der einem Elternpaar verboten hatte, ihr Kind zuhause zu unterrichten. Dies offenbar nicht, weil die Eltern dazu nicht in der Lage wären, sondern lediglich aus bürokratischer Prinzipienreiterei.
Nun urteilte das Bundesgericht, „weder internationales noch Bundesrecht begründen einen Anspruch auf Unterricht in den eigenen vier Wänden“. Dies in klarem Widerspruch gegen die Universelle Erklärung der Menschenrechte, welche in Art.26.3 den Eltern das Recht zuspricht, über die Art der Erziehung und Bildung zu entscheiden, die ihren Kindern zuteil werden soll. Der Artikel in der „Basler Zeitung“ zitiert dazu Willi Villiger, den Präsidenten des Vereins „Bildung zu Hause“. Dieser erklärt, das Bundesgericht setze sich mit diesem Urteil auch über den Geist der Bundesverfassung hinweg. „Bei der Totalrevision von 1874 habe der Verfassungsgeber bewusst nur den Unterricht für obligatorisch erklärt, nicht den Volksschulunterricht – dies mit Rücksicht auf die konservativen Kantone, die eine unbotmässige Beeinflussung ihrer Kinder in der staatlichen Schule befürchteten. ‚Deshalb gibt es bei uns in der Schweiz keinen Schulbesuchszwang wie etwa in Deutschland‘, sagt Villiger.“

Entgegen dieser klaren Rechtslage möchten nun anscheinend auch die Schweizer Bundesrichter, ebenso wie die deutschen, einen rechtlich nicht existierenden Schulbesuchszwang auf juristischem Weg konstruieren. Besonders befremdlich daran ist, dass das Bundesgericht dabei mit dem „Kindeswohl“ argumentiert: „Das elterliche Erziehungsrecht ist ohnehin ein fremdnütziges, durch das Kindeswohl begründetes und begrenztes Pflichtrecht (…)“ (Was ist ein „Pflichtrecht“? Der Ausdruck könnte direkt aus Orwells „1984“ stammen.) Die Schule sei „nicht Selbstzweck, sondern im Interesse der Kinder“, sodass „der Schulbesuch deshalb auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt werden könne.“
Befremdlich ist diese Argumentation, weil im vorliegenden Fall gerade das Kindeswohl den Ausschlag gegeben hat zur Entscheidung der Eltern, ihr Kind aus der Schule zu nehmen. Wie der Presseartikel informiert, hat das zehnjährige Kind bereits in zwei Schulen Probleme gehabt. „Schule und Behörden seien nicht richtig mit der Hochbegabung ihres Sohnes umgegangen, kritisierte die Mutter“; ein neuerlicher Schulwechsel sei nicht zumutbar. Wer ist besser in der Lage zu entscheiden, was dem Kindeswohl nützt: die Eltern, die ihm nahestehen und es persönlich kennen, oder ein unpersönliches, institutionalisiertes Schulsystem, das notorischerweise schlecht zurechtkommt mit Kindern, die in irgendeiner Art von der „Norm“ abweichen? Die Behauptung, Menschen müssten „zu ihrem eigenen Wohl“ einschneidenden Zwangsmassnahmen unterworfen werden, ist Ausdruck einer totalitären und diktatorischen Gesinnung, wie sie ansonsten in der Schweiz verpönt ist.

Eine wichtige Information habe ich vergebens in dem Artikel gesucht: Was sagt das betroffene Kind selber dazu? Anscheinend ist es nicht um seine Meinung gefragt worden. Wie kann ein Gericht sich anmassen, über das angebliche „Wohl“ eines Kindes zu bestimmen, ohne dessen eigene Meinung überhaupt zu berücksichtigen?
Das wenigstens ist in einigen Teilen Deutschlands inzwischen erkannt worden. Das neuerliche Verfahren gegen die Familie Wunderlich ist von der zuständigen Richterin eingestellt worden, nachdem sie bei einer getrennten Anhörung sowohl der Eltern als auch der Kinder keinerlei Anzeichen einer Gefährdung des Kindeswohls feststellte.

Die Art und Weise, wie ein Land mit seinen „Homeschoolern“ umgeht, ist immer auch ein Indikator für das allgemeine Mass an Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in dem betreffenden Land. Gemäss diesem Indikator hat nun anscheinend auch in der Schweiz eine Abkehr von einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Grundordnung begonnen. Schule wird jeweils dort mit Zwang durchgesetzt, wo man sie als ein Instrument zur ideologischen Indoktrinierung und obrigkeitlichen Bevormundung eines Volkes sieht. Das ist schon bei den ersten Zwangsschulsystemen zu beobachten, von denen die Geschichte berichtet:
– Nebukadnezar, der König von Babylonien, liess die jugendlichen Adligen der eroberten Völker an seinen Hof bringen, wo sie zur babylonischen Kultur und Religion umerzogen wurden. So zu abhängigen Gefolgsleuten gemacht, wurden sie als Regierungsbeamte in ihre Heimat zurückgeschickt, wo sie ihre eigenen Landsleute nun im babylonischen Sinn und Geist regierten. Anscheinend eine effektive Art und Weise, sich andere Völker zu unterwerfen und unter dem Deckmantel der Eigenverwaltung eine Fremdherrschaft zu errichten.
– Im alten Sparta wurden Jungen im Alter von sieben Jahren den Eltern weggenommen und in eine Art militärisches Erziehungslager gesteckt. Das Ziel der spartanischen Schule bestand darin, starke, unerschrockene und gehorsame Soldaten für den Krieg heranzubilden. (Dasselbe Ziel lag dem deutschen Schulsystem zugrunde, das auf die preussische Militärdiktatur des 18.Jahrhunderts zurückgeht, und das im wesentlichen bis heute die Grundlage der meisten staatlichen Schulsysteme weltweit bildet, wie John Taylor Gatto in einer gründlichen historischen Untersuchung festgestellt hat.) Das spartanische Ziel ist aber anscheinend nicht erreicht worden: Trotz (oder wegen?) dieses Zwangssystems war Sparta dem – damals noch freiheitlichen – Athen unterlegen.

Schweizer Homeschooler haben in der gegenwärtigen Situation zum Glück noch eine Chance: Das Schulwesen unterliegt voll und ganz der Hoheit der Kantone. Das Bundesgericht kann deshalb nicht direkt Kinder zum Schulbesuch verpflichten. Auch im vorliegenden Fall hat es lediglich das Recht des Kantons Basel-Stadt gestützt, eine solche Verpflichtung auszusprechen. Eine Instanz des Bundes kann aber nicht z.B. die Regierung eines freiheitlicheren Kantons zwingen, das Homeschooling einer strengeren Regelung zu unterwerfen. Bleibt zu hoffen, dass es weiterhin solche freiheitlichen Kantone geben wird, wohin bedrängte Homeschooler ausweichen können. Dennoch ist die kürzlich zum Ausdruck gebrachte Haltung des Bundesgerichts ein sehr bedenkliches Zeichen.

Demokratieverständnis in Perú und in Europa

13. September 2019

Letztes Jahr ist bei einer Volksabstimmung in Perú eine Verfassungsreform gutgeheissen worden, die v.a. für mehr Transparenz und Gerechtigkeit bei Wahlen sorgen soll. Eingeführt worden ist diese Reform aber bisher nicht, weil das Parlament zuerst darüber befinden muss, ob und wie diese Reform verwirklicht werden soll. Dabei sind alle möglichen Änderungs- bzw. Verwässerungsvorschläge eingebracht worden, und die Debatten darüber sind immer wieder verschleppt worden. Der politischen Elite ist anscheinend viel daran gelegen, diese Reformen zunichte zu machen, oder sie zumindest so weit hinauszuzögern, dass die nächsten Parlamentswahlen noch unter der alten Gesetzgebung abgehalten werden müssen.

Für mich als Schweizer ist ein solches System nicht so leicht nachvollziehbar. Nach dem schweizerischen Verständnis bedeutet Demokratie („Volksherrschaft“), dass das Volk das letzte Wort hat. Ergebnisse einer Volksabstimmung werden ohne Wenn und Aber umgesetzt, da hat das Parlament nichts mehr zu sagen. Ausser eine Abstimmung sei durch falsche Informationen behördlicherseits manipuliert worden, wie in einem nicht so lange zurückliegeden Fall (meines Wissens erstmals) in der Schweiz gerichtlich entschieden wurde.

Ein möglicher Ausweg bleibt der peruanischen Regierung noch: Wenn erwiesenermassen das Parlament den Auftrag der Exekutive sabotiert, dann kann unter gewissen Umständen der Staatspräsident das Parlament auflösen. Doch die Verfassung macht ihm das nicht leicht; es müssen dazu eine ganze Menge Bedingungen erfüllt sein. Andererseits haben Umfragen ergeben, dass in der gegenwärtigen Situation eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung eine solche Massnahme gutheissen würde. Immer wieder finden Streiks und Protestaktionen statt, bei denen zur Auflösung des Parlaments aufgerufen wird.

An all das musste ich denken, als ich kürzlich von den Entrüstungsstürmen las, die Boris Johnson ausgelöst haben soll mit seiner Entscheidung, das britische Parlament – nicht aufzulösen, nur für ein paar Wochen zu schliessen. Die Situation ist durchaus mit der peruanischen vergleichbar. Der Brexit ist nach demokratischen Massstäben eine beschlossene Sache; das Volk hat entschieden. Doch das Parlament hat bisher die Inkraftsetzung dieses Beschlusses erfolgreich verhindert. Auch wenn einige Snobs wie Richard Dawkins verlauten liessen, man hätte das tumbe Volk gar nicht über eine so hochwichtige Sache abstimmen lassen dürfen – so weit ist England noch nicht, dass selbsternannte Wissenschaftspäpste die Regierung in der Tasche hätten wie im Mittelalter die Päpste von Rom. (Deutschland scheint in dieser Hinsicht „weiter“ zu sein. Wann gab es dort zum letzten Mal eine Volksabstimmung?)

Man mag manche Einwände gegen demokratische Regierungsformen an sich vorbringen. Aber wenn ein Land einmal entschieden hat, sich demokratisch zu regieren, dann müssen die Regierenden sich an diese Spielregeln halten. Auch gewählte „Volksvertreter“ können einen Volksbeschluss nicht einfach annullieren. Und die Exekutive hat in einer Demokratie den Auftrag, den Willen des Volkes in die Tat umzusetzen, gegen alle Widerstände – selbst wenn diese Widerstände vom Parlament kommen. Deshalb ist „Demokratie“ gerade dasjenige Argument, das man nicht gegen Boris Johnson ins Feld führen kann. Im Gegenteil, er hat das Demokratischste getan, was er in seiner Situation tun konnte: nämlich dem Volkswillen Geltung zu verschaffen (oder es zumindest zu versuchen). Die Reaktion von Parlament und Presse zeigt, dass Europa anscheinend noch (oder wieder) weiter entfernt ist von einem echten Demokratieverständnis als Perú.