Betrübt stelle ich bei einem Blick auf meine ehemalige Heimat fest, dass auch dort offenbar das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, immer stärker unter Beschuss gerät. Gemäss einer kürzlichen Pressemitteilung (Basler Zeitung vom 16.September) hat das Schweizer Bundesgericht dem Kanton Basel-Stadt recht gegeben, der einem Elternpaar verboten hatte, ihr Kind zuhause zu unterrichten. Dies offenbar nicht, weil die Eltern dazu nicht in der Lage wären, sondern lediglich aus bürokratischer Prinzipienreiterei.
Nun urteilte das Bundesgericht, „weder internationales noch Bundesrecht begründen einen Anspruch auf Unterricht in den eigenen vier Wänden“. Dies in klarem Widerspruch gegen die Universelle Erklärung der Menschenrechte, welche in Art.26.3 den Eltern das Recht zuspricht, über die Art der Erziehung und Bildung zu entscheiden, die ihren Kindern zuteil werden soll. Der Artikel in der „Basler Zeitung“ zitiert dazu Willi Villiger, den Präsidenten des Vereins „Bildung zu Hause“. Dieser erklärt, das Bundesgericht setze sich mit diesem Urteil auch über den Geist der Bundesverfassung hinweg. „Bei der Totalrevision von 1874 habe der Verfassungsgeber bewusst nur den Unterricht für obligatorisch erklärt, nicht den Volksschulunterricht – dies mit Rücksicht auf die konservativen Kantone, die eine unbotmässige Beeinflussung ihrer Kinder in der staatlichen Schule befürchteten. ‚Deshalb gibt es bei uns in der Schweiz keinen Schulbesuchszwang wie etwa in Deutschland‘, sagt Villiger.“
Entgegen dieser klaren Rechtslage möchten nun anscheinend auch die Schweizer Bundesrichter, ebenso wie die deutschen, einen rechtlich nicht existierenden Schulbesuchszwang auf juristischem Weg konstruieren. Besonders befremdlich daran ist, dass das Bundesgericht dabei mit dem „Kindeswohl“ argumentiert: „Das elterliche Erziehungsrecht ist ohnehin ein fremdnütziges, durch das Kindeswohl begründetes und begrenztes Pflichtrecht (…)“ (Was ist ein „Pflichtrecht“? Der Ausdruck könnte direkt aus Orwells „1984“ stammen.) Die Schule sei „nicht Selbstzweck, sondern im Interesse der Kinder“, sodass „der Schulbesuch deshalb auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt werden könne.“
Befremdlich ist diese Argumentation, weil im vorliegenden Fall gerade das Kindeswohl den Ausschlag gegeben hat zur Entscheidung der Eltern, ihr Kind aus der Schule zu nehmen. Wie der Presseartikel informiert, hat das zehnjährige Kind bereits in zwei Schulen Probleme gehabt. „Schule und Behörden seien nicht richtig mit der Hochbegabung ihres Sohnes umgegangen, kritisierte die Mutter“; ein neuerlicher Schulwechsel sei nicht zumutbar. Wer ist besser in der Lage zu entscheiden, was dem Kindeswohl nützt: die Eltern, die ihm nahestehen und es persönlich kennen, oder ein unpersönliches, institutionalisiertes Schulsystem, das notorischerweise schlecht zurechtkommt mit Kindern, die in irgendeiner Art von der „Norm“ abweichen? Die Behauptung, Menschen müssten „zu ihrem eigenen Wohl“ einschneidenden Zwangsmassnahmen unterworfen werden, ist Ausdruck einer totalitären und diktatorischen Gesinnung, wie sie ansonsten in der Schweiz verpönt ist.
Eine wichtige Information habe ich vergebens in dem Artikel gesucht: Was sagt das betroffene Kind selber dazu? Anscheinend ist es nicht um seine Meinung gefragt worden. Wie kann ein Gericht sich anmassen, über das angebliche „Wohl“ eines Kindes zu bestimmen, ohne dessen eigene Meinung überhaupt zu berücksichtigen?
Das wenigstens ist in einigen Teilen Deutschlands inzwischen erkannt worden. Das neuerliche Verfahren gegen die Familie Wunderlich ist von der zuständigen Richterin eingestellt worden, nachdem sie bei einer getrennten Anhörung sowohl der Eltern als auch der Kinder keinerlei Anzeichen einer Gefährdung des Kindeswohls feststellte.
Die Art und Weise, wie ein Land mit seinen „Homeschoolern“ umgeht, ist immer auch ein Indikator für das allgemeine Mass an Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in dem betreffenden Land. Gemäss diesem Indikator hat nun anscheinend auch in der Schweiz eine Abkehr von einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Grundordnung begonnen. Schule wird jeweils dort mit Zwang durchgesetzt, wo man sie als ein Instrument zur ideologischen Indoktrinierung und obrigkeitlichen Bevormundung eines Volkes sieht. Das ist schon bei den ersten Zwangsschulsystemen zu beobachten, von denen die Geschichte berichtet:
– Nebukadnezar, der König von Babylonien, liess die jugendlichen Adligen der eroberten Völker an seinen Hof bringen, wo sie zur babylonischen Kultur und Religion umerzogen wurden. So zu abhängigen Gefolgsleuten gemacht, wurden sie als Regierungsbeamte in ihre Heimat zurückgeschickt, wo sie ihre eigenen Landsleute nun im babylonischen Sinn und Geist regierten. Anscheinend eine effektive Art und Weise, sich andere Völker zu unterwerfen und unter dem Deckmantel der Eigenverwaltung eine Fremdherrschaft zu errichten.
– Im alten Sparta wurden Jungen im Alter von sieben Jahren den Eltern weggenommen und in eine Art militärisches Erziehungslager gesteckt. Das Ziel der spartanischen Schule bestand darin, starke, unerschrockene und gehorsame Soldaten für den Krieg heranzubilden. (Dasselbe Ziel lag dem deutschen Schulsystem zugrunde, das auf die preussische Militärdiktatur des 18.Jahrhunderts zurückgeht, und das im wesentlichen bis heute die Grundlage der meisten staatlichen Schulsysteme weltweit bildet, wie John Taylor Gatto in einer gründlichen historischen Untersuchung festgestellt hat.) Das spartanische Ziel ist aber anscheinend nicht erreicht worden: Trotz (oder wegen?) dieses Zwangssystems war Sparta dem – damals noch freiheitlichen – Athen unterlegen.
Schweizer Homeschooler haben in der gegenwärtigen Situation zum Glück noch eine Chance: Das Schulwesen unterliegt voll und ganz der Hoheit der Kantone. Das Bundesgericht kann deshalb nicht direkt Kinder zum Schulbesuch verpflichten. Auch im vorliegenden Fall hat es lediglich das Recht des Kantons Basel-Stadt gestützt, eine solche Verpflichtung auszusprechen. Eine Instanz des Bundes kann aber nicht z.B. die Regierung eines freiheitlicheren Kantons zwingen, das Homeschooling einer strengeren Regelung zu unterwerfen. Bleibt zu hoffen, dass es weiterhin solche freiheitlichen Kantone geben wird, wohin bedrängte Homeschooler ausweichen können. Dennoch ist die kürzlich zum Ausdruck gebrachte Haltung des Bundesgerichts ein sehr bedenkliches Zeichen.