Archive for März 2013

Die Täufer – Teil 3

27. März 2013

Die Extremisten

Wie die Lutheraner, so hatten auch die Täufer ihre Extremisten. Einer von ihnen, der Niederländer David Joris, wurde ein extremer Mystiker und sagte, die Bibel könne unmöglich richtig verstanden werden, es sei denn, man erhalte besondere Offenbarungen Gottes (und er sagte, er selber erhielte solche spezielle Offenbarungen). Aber Menno Simons, der Leiter der niederländischen Täufer, wies ihn zurecht und warnte vor ihm als einem falschen Propheten. Wenig später floh Joris in die Schweiz und wohnte dort unter einem falschen Namen, indem er sich als Reformierter ausgab. Erst nach seinem Tod wurde der Betrug aufgedeckt.

Besonders traurig war der Fall von Thomas Müntzer. Er und seine Anhänger lehrten, das Tausendjährige Reich sei im Anbruch, und sie seien dazu bestimmt, jetzt mit Christus zusammen zu regieren. Tatsächlich gelangten sie 1534 in Münster an die Macht. Einige unter ihnen liessen sich von ungeprüften persönlichen Eingebungen leiten, indem sie z.B. sagten, die Polygamie sei erlaubt, da sie im Alten Testament existierte. Einer von ihnen sagte sogar, er sei der neue König David, und liess sich als solcher krönen.
In dieser Situation schlossen sich Katholiken und Reformierte zusammen und vereinigten ihre Truppen, um die Stadt zu erobern. Daraufhin griffen die Anhänger Müntzers ebenfalls zu den Waffen. In einem schrecklichen Gemetzel wurden sie besiegt.
Durch diese Vorkommnisse verlor die Täuferbewegung ihr Ansehen in den Augen grosser Teile der Bevölkerung. Aber in Wirklichkeit waren die Anhänger Müntzers keine typischen Täufer. J.H.Yoder und Alan Kreider machen die folgenden Beobachtungen:

„Jahrhundertelang nahmen Kirchen und Regierungen die Ausschreitungen dieser Wochen vor dem Fall der Stadt (Juni 1535) zum Anlass, das Täufertum insgesamt mit Fanatismus und Anarchie gleichzusetzen. Es ist aber auffallend, dass viele Merkmale dieses Täuferreichs (etwa die Verbindung von staatlicher und kirchlicher Obrigkeit, die Gültigkeit alttestamentlicher Sozialordnungen oder die Anwendung von Gewalt durch Christen) eher typisch sind für die offiziellen Kirchen als für die übrigen Täufer.“
(John H.Yoder und Alan Kreider, „Die Täufer“, in Tim Dowley, „Handbuch Die Geschichte des Christentums“.)

Tatsächlich missachteten die Anhänger Müntzers die Prinzipien der Trennung von Kirche und Staat, und des Nicht-Widerstehens; beides wesentliche Prinzipien der Täuferbewegung. Sie waren somit keineswegs typische Vertreter dieser Bewegung. Es trifft hier dasselbe zu wie auf die lutherische Reformation: „Wenn der Teufel eine Erweckung nicht aufhalten kann, dann versucht er sie in Verruf zu bringen, indem er einige ihrer Anhänger zu Extremen und Exzessen verleitet.“

Luther und die Täufer

Martin Luther war es, der die Bezeichnung „Wiedertäufer“ populär machte. Aber er verstand diese Bewegung nicht wirklich, noch hatte er nähere Kontakte mit ihnen. Anfänglich ging er gegen sie auf dieselbe Weise vor wie gegen andere „Ketzer“ (d.h. die von ihm als solche wahrgenommen wurden):

„Die Ketzer müssen mit der Schrift überwunden werden, nicht mit dem Feuer. Wenn es eine Kunst wäre, die Ketzer mit Feuer zu besiegen, dann wären die Henker die gelehrtesten Doktoren der Welt.“
(in: „Sendschreiben an den christlichen Adel der deutschen Nation“, 1520)

Noch 1524 schrieb er:
„Lasst sie nur predigen, soviel sie wollen und mit aller Zuversicht; denn wie ich sagte, ist es nötig, dass Sekten auftreten, und das Wort Gottes muss auf das Schlachtfeld gehen und streiten.“
(In: „Sendschreiben an die sächsischen Fürsten über den aufrührerischen Geist“)

(Anm: Beide Zitate sind aus dem Englischen rückübersetzt und stimmen deshalb nicht wörtlich mit dem deutschen Original überein.)

Deshalb schrieb Luther mehrere Artikel gegen die „Wiedertäufer“ und predigte mehrmals gegen sie. Er hoffte, sie so zu überzeugen. Aber seine Enttäuschung war gross, als sie umso mehr an ihren Überzeugungen festhielten und seine Argumente widerlegten. (Es kam ihm nie in den Sinn, dass in dieser Sache er selber derjenige sein könnte, der sich der Schrift widersetzte. Seine biblischen Argumente zugunsten der Säuglingstaufe waren recht schwach, und widersprachen zudem den Argumenten Zwinglis und Calvins.) Deshalb begann sich seine Haltung den Täufern gegenüber zu verhärten.

Ausserdem begann Luther die Auseinandersetzung als eine mehr politische als geistliche Angelegenheit zu sehen. Nach der Schlacht von Münster war er davon überzeugt, alle Täufer seien Rebellen und Aufrührer. (Mangels richtiger Information unterschied er nicht zwischen den Anhängern Müntzers und den pazifistischen Täufern.) Deshalb ordnete er an – wie schon Zwingli vor ihm -, die „Wiedertäufer“ seien politisch zu verfolgen und zu töten.

Wenn wir den Weg Luthers betrachten, dann scheint es unglaublich, dass er zu einem Christenverfolger werden könnte. Er selber war während vielen Jahren seines Lebens um seines Glaubens willen verfolgt worden. Nachdem er selber so viel gelitten hatte, konnte er nicht mit den Täufern mitfühlen? Sie gingen denselben Weg wie er. Nur wagten sie, einige Schritte weiter zu gehen; Schritte, die Luther selber nicht zu tun wagte.

Tatsächlich ist diese Geschichte schwer zu verstehen; aber sie ist nicht die einzige ihrer Art. Im Gegenteil, es handelt sich um ein Muster, das in der Kirchengeschichte mehrmals wiederkehrt. Bei Calvin und Zwingli beobachten wir dasselbe: Ein Pionier des Glaubens wird von der traditionellen Kirche angegriffen, aber er bleibt seinen Überzeugungen treu, und mit der Zeit gibt Gott ihm Erfolg und Erweckung. Die Strömung, für die er steht, beginnt „angesehen“ und „offiziell“ zu werden. Aus dem verfolgten Pionier wird ein einflussreicher und mächtiger Leiter. In diesem Moment scheint er zu vergessen, was er in der Vergangenheit leiden musste, und verfolgt schliesslich andere Pioniere, die noch weiter gehen als er selber.

So geschieht es auch in der Gegenwart. Ich weiss von mehreren evangelikalen Leitern, die einen recht radikalen Glauben vertraten und deshalb von den Gemeinden abgelehnt wurden. Wegen ihres Bestrebens, dem Herrn nachzufolgen, auch entgegen allen Strömungen der Zeit, wurden sie „Rebellen“, „Kirchenspalter“, „konfliktiv“ und „lieblos“ genannt, und weitere Schimpfnamen, die die evangelikale Welt für solche Fälle auf Lager hat. Aber sie gingen vorwärts in den Überzeugungen, die Gott in ihr Herz gelegt hatte, trotz allen Angriffen. Mit der Zeit begann um sie herum eine kleine Erweckung, der Herr veränderte Leben, und sie wurden zu Leitern eines eigenen „Werkes“, von Gott gesegnet, von den einen bewundert und von den anderen beneidet. Aber gleichzeitig wurden ihre Besonderheiten, die einmal Ausdruck einer echten Erweckung gewesen waren, zu einer neuen Tradition. Einer Tradition, die nicht hinterfragt werden durfte, da sie doch in ihren Anfängen so von Gott gesegnet gewesen war. Einige Gottesmänner in diesen Bewegungen begannen das zu sehen, suchten authentischere Wege und begannen zu protestieren. Aber dann griff der Pionier-Leiter sie an und schloss sie aus, genau so, wie er selber in seinen Anfängen angegriffen worden war. Jetzt war er es, der „Unterordnung unter die Leiterschaft“ forderte, selbst wenn die Leiterschaft im Irrtum war. Er wollte den anderen nicht das Recht zugestehen, dasselbe zu tun wie er selber einige Jahrzehnte früher. (Tatsächlich sind die meisten gegenwärtig existierenden evangelikalen Denominationen unter so ähnlichen Umständen entstanden.)

Tatsächlich ist diese traurige Erscheinung so häufig, dass jemand sagte: „Die Erweckung von gestern verfolgt immer die Erweckung von morgen.“ Wie nötig ist es da, ständig Gott zu erlauben, uns zu prüfen und zurechtzuweisen, damit wir nicht in dieselbe Falle gehen, wenn wir einmal in diese Situation kommen!

– Es gibt hier noch einen weiteren beachtenswerten Punkt. Wir finden in dieser Geschichte auch die Wurzeln des gegenwärtigen Konfliktes zwischen der ökumenischen Bewegung und dem echten Christentum. Nicht zufällig begann die moderne ökumenische Bewegung gerade mit den reformierten Staatskirchen. Für die Reformatoren waren Kirche und Staat eins. Sie wollten, dass die Kirche alle einschlösse – deshalb zwang Zwingli alle Bürger, ihre Kleinkinder taufen zu lassen. Damit wurde angenommen, jedermann sei Christ, ob bekehrt oder nicht. Das war der grösste Skandal, den die Täufer verursachten: Sie wagten es, den getauften Kirchenmitgliedern zu sagen, sie seien noch gar keine Christen, und sie müssten sich erst bekehren. Wir werden sehen, dass John Wesley zweihundert Jahre später in der anglikanischen Kirche denselben Skandal verursachte – obwohl Wesley sich nicht gegen die Säuglingstaufe aussprach. Im Kern ging es nämlich nicht um die Säuglingstaufe, sondern um den Ruf zur Umkehr.
Die ökumenische Bewegung hat im Grunde dasselbe Kirchenverständnis wie Luther: Alle Getauften sind Christen, bekehrt oder nicht; und niemand hat das Recht, ihnen zu sagen, sie müssten sich bekehren. Daher die Politik des „Neins zum Proselytismus“ des Weltkirchenrates. Diese Politik verbietet jede Evangelisation unter Namenschristen. Inzwischen hat sich auch die grosse Mehrheit der Evangelikalen dieser ökumenischen Politik der Nicht-Evangelisation angeschlossen. (Siehe „Evangelische Allianz paktiert mit Ökumene und Vatikan“.) Heute ist der Zankapfel nicht mehr die Säuglingstaufe. Tausende und Millionen Erwachsener erhalten heutzutage ihre „Glaubenstaufe“ in evangelikalen Kirchen, ohne sich wirklich zu Christus bekehrt zu haben. Aber die heutigen evangelischen Kirchen, im Zuge der weltkirchenrätlichen Politik, reagieren sehr aggressiv, wenn jemand ihnen sagt, sie müssten zuerst von neuem geboren werden, oder eine „Bekehrung“ ohne Lebensumkehr sei keine Bekehrung. Das ist im Kern dieselbe Kontroverse wie zwischen den Reformatoren und den Täufern. Nur dass sich heute auch die „täuferischen“ Kirchen in dieser Sache mehrheitlich mit dem Standpunkt der Reformatoren identifizieren (welcher in diesem Punkt nicht wesentlich vom katholischen abweicht).

Die katholische Kirche und die Täufer

Die katholische Kirche unterschied nicht gross zwischen Reformierten und Täufern. Vom katholischen Standpunkt aus gesehen waren beide gleichermassen Ketzer und wurden gleichermassen verfolgt.
Doch selbst die erbittertsten Gegner der Täufer konnten nicht umhin, deren tugendhaftes Leben anzuerkennen. Nur argwöhnten die Katholiken dahinter ein teuflisches Täuschungsmanöver. Der katholische Priester von Feldsberg (Österreich) schrieb 1603:

„Von all den Ketzern und Sekten …, welche hatte je eine schönere Erscheinung und grössere äussere Heiligkeit als die Wiedertäufer? Andere Sekten, wie zum Beispiel die Calvinisten, Lutheraner und Zwinglianer, sind zum grössten Teil aufrührerisch, grausam, und fleischlichen Genüssen ergeben. Nicht so die Wiedertäufer. Sie nennen einander Brüder und Schwestern, sie gebrauchen keine profanen oder Schimpfworte, sie schwören nicht, sie gebrauchen keine Waffen, und anfänglich trugen sie nicht einmal Messer. Sie sind nicht unmässig im Essen und Trinken; sie tragen keine Gewänder zur weltlichen Zurschaustellung. Sie gehen nicht vor Gericht; sie ertragen alles mit Geduld und im Heiligen Geist, wie sie vorgeben. Wer würde glauben, dass sich unter diesen Schafskleidern lauter reissende Wölfe verbergen!“
(Christoph Andreas Fischer, „Von der Wiedertäufer verfluchten Ursprungs“)

Auch die reformierten Feinde der Täufer bezeugten, dass sie ein tugendhaftes Leben führten, doch machten sie ihnen gerade dieses zum Vorwurf: sie übten Werkgerechtigkeit und verleugneten die Rechtfertigung aus Glauben. (Wie wir oben schon sahen, beruht dieser Vorwurf auf dem Unverständnis der täuferischen Lehre, und auf einem grundlegenden Fehler in der reformierten Gnadenlehre.)

(Fortsetzung folgt)

DieTäufer – Teil 2: Der Glaube der Täufer

21. März 2013

Wie wir gesehen haben, waren die Täufer keine einheitliche Bewegung. Aufgrund ihres freiheitlichen Verständnisses hatten sie keine zentrale Organisation und kein einigendes Glaubensbekenntnis. (Sie formulierten zwar später verschiedene Glaubensartikel, die aber jeweils nur regionale Verbindlichkeit erhielten.) Deshalb konnten ihre Lehrüberzeugungen von einer Gruppe zur anderen variieren.

Natürlich hatten sie alle die reformierte Überzeugung gemeinsam, dass die Heilige Schrift die oberste Autorität im Leben eines Christen und in der Kirche ist. Einige Gruppen betonten zudem, dass Gott zu jedem Gläubigen persönlich spricht. Es gab einige Extremisten, die so weit gingen, dass sie ihre persönlichen Eingebungen wichtiger nahmen als die Bibel selbst. Aber die meisten Täufer lehnten diese Extreme ab und gründeten sich auf das geschriebene Wort Gottes.

Die Ablehnung der Staatskirche war eine gemeinsame Überzeugung der Täufer. Sie betonten, dass die Kirche die Gemeinschaft der wahren Gläubigen ist, die sich freiwillig dazu entschieden haben, Jesus nachzufolgen. Deshalb traten sie für eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat ein. Die weltliche Regierung hatte kein Recht, sich in die Angelegenheiten der Kirche einzumischen; und die Kirche hatte kein Recht, über den Staat zu herrschen. Deshalb verurteilten sie die Haltung der Reformatoren, die die weltliche Regierung dazu gebrauchten, die Sache der Reformation voranzutreiben. Nach einer Überlieferung antwortete der Täufer Michael Sattler auf die Idee, den Schutz eines wohlgesinnten Fürsten zu suchen: „Wenn ein Tuch einen einzigen falsch gewobenen Faden enthält, dann verdirbt dieser einzige Faden das ganze Tuch. Ebenso wird die ganze Kirche verdorben, wenn sie auch nur einem einzigen falschen Prinzip folgt.“ Eine weltliche Autorität über die Kirche zu setzen, wäre ein solcher „falsch gewobener Faden“.
In diesem Zusammenhang ist auch ihre Ablehnung der Säuglingstaufe zu sehen: Wenn ein Baby getauft wird, dann wird es ohne seine eigene Einwilligung und ohne eigenen Glauben zu einem Kirchenmitglied gemacht. In anderen Worten, es wird gezwungen, sich als Christ zu identifizieren, ohne persönlich Christ zu sein. Deshalb ist eine solche Taufe nicht die biblische Taufe.

Ein weiterer wichtiger Gegensatz zu den Reformatoren bestand darin, dass die Täufer den Missionbefehl Jesu (Matth.28,18-20 und Parallelen) als für alle Zeiten gültig verstanden. Deshalb stellten sie auch sich selber mit aller Selbstverständlichkeit unter diesen Auftrag. Die Reformatoren dagegen sagten, Jesus hätte diesen Auftrag nur den Aposteln persönlich erteilt, und es sei anmassend, den Missionsbefehl auf gegenwärtig lebende Christen anzuwenden. Diese reformatorische Auffassung sollte während langer Zeit als Hemmschuh der Weltmission nachwirken: Noch Jahrhunderte später musste der Missionspionier William Carey unter seinen Glaubensgeschwistern einen heftigen Kampf gegen ebendiese Auffassung führen, bis ihm schliesslich zugestanden wurde, es könnte tatsächlich der Wille Gottes sein, eine Missionsgesellschaft zur Evangelisierung Indiens zu gründen.

Die meisten Täufer waren Pazifisten und betonten das Prinzip des „Nicht-Widerstehens“. Sie gaben den Worten Jesu grosses Gewicht: „Widersteht dem Bösen nicht; sondern wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem biete auch die andere dar…“ (Matthäus 5,39-41). Deshalb lehrten sie, dass ein Christ keine Waffen tragen soll, nicht Soldat sein kann, und gegen niemanden gerichtlich vorgehen soll. Viele sagten auch, ein Christ könne kein Regierungsamt übernehmen. Das begründeten sie mit dem Gebot: „Du sollst nicht töten“ (da die weltliche Regierung nach Römer 13,4 „das Schwert trägt“), und auch mit der Trennung von Kirche und Staat.
Persönlich meine ich, dass in der gegenwärtigen Welt diese Haltung nicht mehr sehr sinnvoll wäre: Die meisten modernen Staaten haben die Todesstrafe abgeschafft, sodass ein Regierungsamt nicht mehr automatisch den Bruch des sechsten Gebots mit sich bringt. Auch haben die Kirchen im allgemeinen nicht mehr viel politische Macht. Ein Christ von entsprechender Integrität und Fähigkeit könnte in der Politik viel Gutes tun. – Andererseits besitzen leider nur wenige Christen diese Integrität, während viele christliche Politiker von den Versuchungen der Macht verdorben worden sind. Aber das begründet noch kein Prinzip, sondern ist eine Angelegenheit des persönliches Charakters.
In der Reformationszeit war die Situation ganz anders. In jener Zeit machten sich die Regierenden tatsächlich vieler Tötungen schuldig; und wer ein solches Amt übernahm, musste damit rechnen, an religiösen Verfolgungen mitwirken zu müssen. Deshalb ist es verständlich, dass viele Täufer jede Mitwirkung in der Politik und Regierung ablehnten.
Sie weigerten sich auch, Eide zu schwören, gemäss Matthäus 5,33-37. Somit wären sie zu vielen Regierungsstellen gar nicht zugelassen worden, selbst wenn sie es gewünscht hätten. Andererseits zeigte diese Haltung an sich in späteren Jahrhunderten einen politischen Einfluss: Viele Regierungsstellen in Gegenden mit starkem täuferischem Einfluss, z.B. in der Schweiz, akzeptieren heute ein Gelübde (Versprechen) anstelle eines Eides, und anerkennen damit die Freiheit, aus Gewissensgründen den Eid abzulehnen.

Fast alle täuferischen Gruppen lehrten auch die Notwendigkeit, sich von der Welt abzusondern und ein heiliges Leben zu führen, gemäss Hebräer 12:14-16: „Strebt nach dem Frieden mit allen, und nach der Heiligkeit, ohne die niemand den Herrn sehen wird…“ Dadurch unterschieden sie sich von den Reformierten – insbesondere von den Lutheranern -, welche die Erlösung „allein aus Glauben, ohne Werke“ betonten. (Diese reformierte Lehre ist an sich richtig; aber bald wurde sie in eine „billigen Gnade“ verkehrt, wie Jahrhunderte später der lutherische Theologe Dietrich Bonhoeffer klagte.) Deshalb warfen die Reformierten den Täufern manchmal vor, sie wollten zu einer katholischen Werkgerechtigkeit zurückkehren. Die Täufer antworteten, dass sie das heilige Leben nicht als ein Mittel zum Erwerb des Heils ansahen, sondern als eine notwendige Konsequenz und Frucht der Bekehrung; und da die Reformierten mehrheitlich diese Frucht nicht zeigten, müsse bezweifelt werden, ob sie wirkliche Christen seien. So schreibt z.B. Menno Simons:

„Alle die dies für gewiss und wahrhaftig in ihren Herzen glauben können, und sind durch Gottes Wort in ihren Herzen und Geist versiegelt, die werden an dem innerlichen Menschen verändert, empfangen die Furcht und Liebe des Herrn, gebären aus ihrem Glauben, Gerechtigkeit, Frucht, Kraft, ein unsträfliches Leben und ein neues Wesen, wie Paulus sagt, nämlich, mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit. Durch den Glauben, sagt Petrus, reinigt Gott unsere Herzen. Und also folgen die Früchte der Gerechtigkeit stets aus einem aufrichtigen, ungefälschten, frommen Christen Glauben. Habt darauf acht. (…)
Alle, sage ich, die dieses in ihrem Herzen mit Bestimmtheit glauben, werden sicherlich vor aller Ungerechtigkeit fliehen wie vor dem Zahn der Schlange, sie wenden sich von allen Sünden ab, und scheuen sie viel mehr als ein brennendes Feuer oder ein schneidendes Schwert (…)“
(In: „Von dem wahren christlichen Glauben“.)

Und:
„Die Lutherischen lehren und glauben, dass uns der Glaube allein selig mache, auch ohne irgend welches Zutun der Werke. Diese Lehren halten sie mit solcher Strenge aufrecht, als ob Werke ganz und gar unnötig wären; ja, als ob der Glaube von solcher Art und Natur sei, dass er keine Werke neben sich zulassen oder leiden könne. Und darum muss auch Jacobi hochwichtiger, ernster Brief (weil er eine solche leichtfertige, eitle Lehre und solchen Glauben straft) als strohern von ihnen angesehen und erachtet werden. O stolze Torheit! (Menno bezieht sich hier auf eine Bemerkung Luthers, der den Jakobusbrief eine „stroherne Epistel“ nannte.)
Ein jeder sehe wohl zu, wie und was er lehrt; denn gerade mit dieser Lehre haben sie das unbedachte, dumme Volk gross und klein, Bürger und gemeinen Mann, in ein solches fruchtloses, wildes Leben geführt und so weit den Zaum gelassen, dass man unter den Türken und Tartaren (vermute ich) kaum ein so gottloses, greuliches Leben, wie das ihre ist, finden könnte. Die offenbare Tat gibt Zeugnis; denn das überflüssige Essen und Trinken, die übermässige Pracht und Hoffart, das Huren, Lügen, Betrügen, Fluchen, Schwören bei des Herrn Wunden, Sakramenten und Leiden, das Blutvergiessen und Fechten etc., welches leider bei vielen von ihnen gefunden wird, hat weder Mass noch Ende. Lehrer und Jünger handeln in vielen fleischlichen Dingen einer wie der andere, wie man sehen kann.“
(In: „Von dem lutherischen Glauben“.)

Um das heilige Leben der Brüder zu bewahren, wandten viele Gemeinden eine strenge Gemeindezucht an. Aber im Unterschied zu den Katholischen und Reformierten, und aufgrund von Matthäus 18,15-17, wurde diese Gemeindezucht nicht durch eine autoritäre Leiterschaft auferlegt. Im Gegenteil, jeder Bruder hatte das Recht und die Pflicht, seine Mitbrüder zurechtzuweisen, wenn sie in Sünde lebten.

Die Hutterer pflegten auch die Gütergemeinschaft nach dem Vorbild der Urgemeinde (Apostelgeschichte 2,44), aber die übrigen Täufer hatten diese Praxis nicht.

In der Organisation der Gemeinde behielten die Täufer weiterhin das Pfarramt bei, in der Tradition der katholischen und reformierten Kirche. D.h. sie gelangten nicht zu einer pluralen Leiterschaft von Ältesten wie in der frühen Kirche, und auch nicht zu einer konsequenten Praxis des allgemeinen Priestertums in der gegenseitigen Auferbauung unter Mitwirkung aller Gemeindeglieder gemäss 1.Kor.14,26. Ihre „Pastoren“ waren vorwiegend „Prediger“, genau wie in den reformierten Kirchen. In diesem Punkt blieb auch die Reformation der Täufer unvollendet.

Aber in allen übrigen Belangen waren die Täufer die konsequenteste Gruppe ihrer Zeit, was die Rückkehr zur frühen Kirche angeht. Keine andere Gruppierung jener Zeit folgte so treu dem Wort Gottes als oberste Autorität der Kirche. Obwohl Luther, Zwingli und Calvin in der Theorie dieses selbe Prinzip lehrten, vermischten sie doch in der Praxis die Leiterschaft der Kirche mit der weltlichen Regierung. So sahen sie sich ständig gezwungen, mit den Mächten dieser Welt Kompromisse zu schliessen, und deshalb konnten sie in ihren Reformen nicht völlig konsequent sein.

Als Folge ihres Glaubens waren die Täufer auch die meistverfolgte Gruppierung jener Zeit. An ihnen erfüllten sich die Worte von Paulus:

„Denn wie ich denke, hat Gott uns, die Apostel, als die Geringsten hingestellt, wie zum Tod Verurteilte; denn wir sind ein Schauspiel geworden vor der Welt, den Engeln und den Menschen. (…) Bis zu dieser Stunde leiden wir Hunger und Durst und Blösse, werden wir geschlagen, und haben keine feste Wohnstatt. Wir mühen uns ab mit unserer eigenen Hände Arbeit; wir werden verflucht, und wir segnen; wir werden verfolgt, und ertragen es; wir werden verleumdet, und beten; wir sind bis jetzt wie der Kehricht der Welt geworden, ein Abschaum aller.“ (1. Korinther 4,9-13).

Die Täufer (1.Teil) – Die Anfänge

13. März 2013

Als Luther den ersten Anstoss zu einer Reformation der Kirche gab, da hatte er keine Ahnung von der geistlichen Lawine, die er auslösen würde. Aber er hatte bereits das wichtigste Prinzip proklamiert: Die Heilige Schrift ist die oberste Autorität der Kirche, über allen Traditionen und Kirchenführern. So begann das Volk, die Schrift zu erforschen und sie auf das eigene Leben anzuwenden. Und die Christen zogen ihre eigenen Schlussfolgerungen daraus. Einige kamen zu viel radikaleren Schlussfolgerungen als Luther selber.
Zum Beispiel hielten die Reformatoren immer noch wie die katholische Kirche an der Säuglingstaufe fest. Aber als die Christen selber die Bibel zu lesen begannen, fanden sie, dass es da kein Gebot gab, Säuglinge zu taufen. Im Gegenteil, sie fanden, dass jene getauft werden sollen, die an Jesus Christus gläubig wurden. Überall begannen Christen aufzustehen und den Reformatoren zu sagen, sie sollten radikaler sein und dem ganzen Wort Gottes gehorchen, nicht nur einigen Punkten daraus. Zum Beispiel sollten sie die erwachsenen Bekehrten taufen, und nicht die kleinen Babies. (Weiter unten werden wir sehen, dass dies nicht der entscheidende Punkt ihrer Lehre war. Aber es war der Punkt, der den grössten Zorn der Reformatoren auf sich zog.) Diese Bewegungen entstanden an verschiedenen Orten gleichzeitig, aber besonders in jenen Ländern, wo die reformatorische Botschaft am weitesten verbreitet war: in Deutschland, in der Schweiz und in den Niederlanden.

Einige Autoren behaupten, der Ursprung der Täufer sei von der Reformation unabhängig, und suchen ihre Wurzeln in den Waldensern oder in noch früheren Bewegungen; oder sie sagen, die Täuferbewegung hätte ganz unabhängig begonnen. Aber das ist schwer mit den Tatsachen zu vereinbaren: Die meisten Leiter der Täufer gingen durch drei Lebensphasen. Zuerst waren sie katholisch, dann folgten sie den Gedanken der Reformation, und schliesslich wurden sie Täufer. Der kritische Punkt war dieser: Folgen wir der Autorität der Bibel, oder der Autorität der Kirche? Das war der Grund, warum die Reformatoren sich von der katholischen Kirche distanziert hatten. Und aus diesem selben Grund distanzierten sich die Täufer von den Reformierten. Wir können also sagen, dass sie im Grunde „reformierter als die Reformierten“ waren.

Die radikale Reformation in Zürich

Wie Luther, hatte auch der Zürcher Reformator Zwingli verstanden, dass sich verschiedene Praktiken der katholischen Kirche nicht aus der Bibel begründen lassen, so z.B. die Messe, die Bilderverehrung und die Säuglingstaufe. Aber Zwingli sah sich einer politischen Notwendigkeit gegenüber: Um die Kirche reformieren zu können, musste er das Wohlwollen der Stadtregierung gewinnen. Vergessen wir nicht, dass in jenen ersten Jahren der Reformation noch die ganze politische Macht in den Händen der katholischen Kirche lag, und die Reformierten waren eine kleine Minderheit. Als Hauptpastor der Stadt Zürich wollte Zwingli die römische Messe abschaffen; aber er fürchtete Repressalien von seiten des Stadtrates. Deshalb wollte er vorsichtig sein und warten, bis sich die politische Situation zu seinen Gunsten änderte.
Einige Freunde Zwinglis dachten radikaler; unter ihnen Konrad Grebel, Felix Manz und Georg Blaurock. Sie begannen Zwingli Vorwürfe zu machen: Warum hielt er selber noch die Messe, wo er doch wusste, dass sie der Schrift widersprach? War es überhaupt richtig, dass der Stadtrat über die Angelegenheiten der Kirche zu entscheiden hatte? Die drei Freunde fühlten sich von Zwingli verraten. Mehrmals suchten sie ihn auf und versuchten ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, eine neue Kirche zu beginnen, eine Kirche von wahren Christen. Aber Zwingli widersetzte sich diesem Plan immer entschiedener. Er wollte die Kirche als ganze reformieren, aber unter der Autorität der staatlichen Regierung.

Das war also der Hauptunterschied zwischen den Reformatoren und den Täufern. Ja, die Reformatoren wollten die Kirche reformieren, aber mit Hilfe der Regierung und unter dem Schutz der politischen Autoritäten. Sie hielten an der katholischen Idee fest, die Religion sei eine Staatsangelegenheit, und es dürfte nur eine einzige, staatliche Kirche geben. – Die Täufer hingegen betonten, dass die Entscheidung zum Christsein freiwillig ist, und dass die wahre Kirche aus Bekehrten besteht. Die wahre Kirche sollte freiwillig sein, und unabhängig vom Staat.

Im Lauf des Jahres 1523 nahmen die Differenzen zwischen Zwingli und den Radikalen zu. Schliesslich trennten sich die Radikalen von Zwingli und begannen sich gesondert zu versammeln.
Im Jahre 1525 konnte Zwingli schliesslich den Stadtrat dazu bringen, einige Reformen in der Kirche durchzuführen. Aber gleichzeitig überzeugte er auch die Regierung davon, dass die Gruppe der „radikalen Reformation“ gefährlich sei und verboten werden solle. (Obwohl es sich zu der Zeit um nur fünfzehn Personen handelte!) Am 21.Januar 1525 verbot der Stadtrat die Versammlungen der Radikalen, und es wurde ihnen auch verboten, ihre Lehren zu verbreiten. Der Reformator Zwingli gebrauchte also gegen seine Gegner dieselben Mittel wie zuvor die katholische Kirche: Er gebrauchte die weltliche Regierung dazu, Andersdenkende zu verfolgen.
Dazu kam, dass die Radikalen ihre Kinder nicht taufen liessen. Sie sagten, sie müssten sich zuerst bekehren, bevor sie getauft werden könnten. (Markus 16,16, Apg.2,38, 8,37). Die Regierung befahl ihnen, ihre Kinder innerhalb von acht Tagen zur Taufe zu bringen; aber sie weigerten sich.
Am Abend desselben Tages versammelten sich die Radikalen in Zollikon bei Zürich, um zu beten und über ihr weiteres Vorgehen zu beraten. Ohne etwas Derartiges geplant zu haben, fühlte sich in dieser Versammlung Georg Blaurock von Gott geführt, zu Konrad Grebel zu sagen: „Um Gottes Willen, taufe mich mit der wahren Taufe des Glaubens.“ Grebel taufte ihn, und daraufhin tauften sich alle Anwesenden gegenseitig. Damit setzten sie ein öffentliches Zeichen, dass sie die Säuglingstaufe als ungültig ansahen und auf biblische Weise getauft werden mussten, aufgrund ihres eigenen Willens. Damit begann eine Erweckung, die sich über die ganze Schweiz und Süddeutschland ausbreitete, wo viele von ihren Sünden überführt wurden, zur Umkehr kamen, sich taufen liessen, und ein Leben im Gehorsam Jesus gegenüber begonnen.

Die Tauffrage bedeutete die endgültige Trennung zwischen Zwingli und den Radikalen. Zwingli erlaubte auf keinen Fall, dass im Säuglingsalter getaufte Erwachsene nochmals getauft würden. In früheren Jahren war er noch bereit gewesen, auf die Säuglingstaufe zu verzichten. Jetzt versteifte sich aber seine Position auch in dieser Frage, und er begann nicht nur jene zu verfolgen, die sich (seiner Auffassung nach) zum zweitenmal taufen liessen, sondern auch jene, die ihre Kleinkinder nicht taufen liessen.
Da die Taufe der Zankapfel zwischen den Reformierten und den Radikalen war, wurden letztere unter dem Namen „Täufer“ bekannt. Sie selber nannten sich einfach „Brüder“. Aber später wurden sie „Wiedertäufer“ genannt. Dieser Name blieb haften, obwohl sie unermüdlich zu erklären versuchten, dass die Säuglingstaufe nach der Bibel nicht gültig war, und dass deshalb ihre Erwachsenentaufe ihre erste und wahre Taufe war.

Nun begann eine blutige Verfolgung der Täufer. Zuerst wurden sie gebüsst und ins Gefängnis geworfen; dann bedroht, des Landes verwiesen zu werden. Grebel musste ins Exil gehen und starb 1526 an der körperlichen Schwächung aufgrund der Gefangenschaft.
Ausserdem wurden die hässlichsten Verleumdungen über sie verbreitet: sie lebten in Ausschweifung und Unmoral (genau das Gegenteil dessen, was sie lehrten und lebten); sie folgten ihren eigenen Eingebungen statt der Bibel (hier wurden sie anscheinend mit den „Zwickauer Propheten“ oder anderen Extremisten verwechselt); sie seien Staatsfeinde und planten eine Revolution (während sie in Wirklichkeit Pazifisten waren). Diese Verleumdungen wurden jahrhundertelang wiederholt und sogar noch in Geschichtsbüchern neuerer Zeit unkritisch wiedergegeben (so z.B. im 19.Jh. in J.A.Wylie (reformiert), „Geschichte des Protestantismus“).
Als nach alldem die Bewegung nicht ausgerottet werden konnte, wurde über die Täufer die Todesstrafe verhängt. Ihr erster Märtyrer war Felix Manz, der im Januar 1527 auf Befehl des Stadtrates im Zürichsee ertränkt wurde. Im Urteilsspruch hiess es:

„… weil er sagte, er wolle alle jene zusammenführen, die Christus annahmen und Ihm folgen wollten, und er selber sich durch die Taufe ihnen anschliessen wollte, während er die übrigen ihren eigenen Glauben leben lassen wolle; sodass er und seine Anhänger sich von der christlichen Kirche trennten und eine eigene Sekte gründeten unter dem Gewand einer christlichen Kirche und Versammlung; (…) was zum Anstoss, Aufruhr und Abtrünnigkeit gegen die Regierung führt …“

Wir sehen hier, dass die Reformatoren im Grunde an einem römisch-katholischen Konzept von Kirche festhielten: Die Kirche sollte eine einzige sein, sollte für alle Bürger obligatorisch sein, und die weltliche Regierung sollte über ihrer Einheit wachen, wenn nötig mit Gewalt. Wenn eine Gruppe von der Staatskirche abweichende Überzeugungen vertrat, wurden sie des „Aufruhrs“ bezichtigt. Deshalb gingen die Reformatoren gegen die Täufer mit denselben Mitteln vor wie die katholische Kirche gegen die Reformation. Bis zu einer echten Religions- und Gewissensfreiheit war es noch ein weiter Weg. Die Täufer hingegen waren echte Vorreiter dieser Freiheit. Sie zwangen niemanden, ihnen zu folgen. Im Gegenteil, sie wollten „alle übrigen ihren eigenen Glauben leben lassen“, wie der Urteilsspruch gegen Manz zugibt.
1529 starb auch Blaurock den Märtyrertod im katholischen Tirol, wohin er als Missionar gezogen war.

In den folgenden Jahrzehnten wurde viele Tausende Täufer in Seen und Flüssen ertränkt, „zum dritten Mal getauft“, wie die Reformierten spöttisch sagten. In den katholischen Ländern wurden sie als „Ketzer“ verbrannt. So fanden sie in ganz Europa keinen sicheren Ort. Während mehr als einem Jahrhundert mussten sie ständig von einem Ort zum anderen fliehen, oder sie lebten in Wäldern und Höhlen versteckt. Noch heute ist eine abgelegene Höhle im Zürcher Oberland als „Täuferhöhle“ bekannt, weil eine Gruppe von ihnen jahrelang dort versteckt lebte.

Aber wie es oft in der Kirchengeschichte geschah: „Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche.“ Je mehr die Täufer verfolgt wurden, desto stärker vermehrten sie sich. Ihre erste Versammlung in Zollikon löste sich zwar nach weniger als einem Jahr auf wegen der Verfolgung. Aber gleichzeitig reisten ihre Missionare im Geheimen durch die ganze Schweiz, Deutschland, die Niederlande, Österreich, und andere Länder; und überall entstanden Versammlungen. (Eine auffällige Parallele zu Apg.8,1-4!)

Mehrere täuferische Bewegungen entstanden an verschiedenen Orten unabhängig von der Bewegung in Zürich. Ausser diesen auch „Schweizer Brüder“ genannten Gruppen gab es u.a. die Hutterer in Böhmen, die Mennoniten in den Niederlanden, und verschiedene Gruppen in Deutschland. Da die Reformation die persönliche Lektüre der Bibel förderte, ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Personen und Gruppen an verschiedenen Orten unabhängig voneinander zu denselben Schlussfolgerungen kamen, aufgrund der Bibel.

Ferienprogramm 2013

7. März 2013

Wieder ist ein Kinder-Ferienprogramm zu Ende gegangen. Hier in Perú sind die grossen Schulferien im Januar und Februar. Viele Kinder haben aber gar keine Ferien: Wenn sie nicht von ihrer Schule zum Nachholunterricht aufgeboten werden, dann werden sie von ihren Eltern an eine der vielen existierenden „Ferien-Akademien“ geschickt. Diese sind im Grunde nichts anderes als eine Fortführung derselben geisttötenden Schulmethoden während der Ferien – nur dass damit erst noch ein Geschäft gemacht wird.

Manche Eltern suchen uns aus demselben Grund auf: sie möchten, dass ihr Kind schulisch „nicht zurückbleibt“ und deshalb auch in den Ferien weiter „lernt“. Wir müssen deshalb viele Gesprächsstunden und Elternabende darauf verwenden, den Eltern zu erklären, dass Kinder, wenn sie sich gesund entwickeln sollen, auch Zeiten der Erholung, des Spiels und der manuellen Arbeit nötig haben. Und dass sich die Intelligenz der Kinder kaum mit Schulbüchern und -heften entwickelt, sondern vielmehr mit praktischen Erfahrungen. (Siehe „Diese falsch verschalteten Gehirnzellen“ und „Wenn das Gehirn keine Hände hat“.) Es gibt einige wenige Eltern, die im Lauf der Jahre (!) dies allmählich zu verstehen beginnen. Andere jedoch entscheiden dann, ihre Kinder nicht zu uns zu schicken.
Interessanterweise ist es aber unsere Erfahrung, dass die Teilnehmer trotz der weniger „akademischen“ Natur unserer Programme deswegen in der Schule keinen Nachteil hatten, sondern im Gegenteil in der Regel in der Schule sogar besser mitkamen als ihre Kameraden, die ihre ganzen Ferien an einer „Akademie“ verbracht hatten.

Es gibt auch Eltern, die einfach jemanden suchen, der zu ihren Kindern schaut. Es scheint heutzutage kaum noch Eltern zu geben, die an ihre eigene Fähigkeit und Verantwortung glauben, ihre Kinder selber zu erziehen. Wie der spanische Kinderarzt Carlos González treffend sagte:

„Die Eltern denken anscheinend, ein Kind aufzuziehen sei eine professionelle Tätigkeit. D.h. dass ich, um mein eigenes Kind zu erziehen, eine Ausbildung machen müsse, mich anstrengen müsse, und da ich es schlussendlich wahrscheinlich doch nicht gut mache, so sehr ich mich auch anstrenge, so überlasse ich das Kind besser gleich einem Professionellen: einem Pädagogen, einem Kinderarzt, einem Psychologen, denn diese wissen, wie man Kinder hütet. Aber so ist es nicht. Die einzigen, die ihre Kinder gut erziehen können, sind die Eltern.
(Im Dokumentarfilm „La educación prohibida“ – vielleicht werde ich ein anderes Mal mehr darüber schreiben.)

Womit natürlich nicht gesagt werden soll, Kindererziehung sei „einfach“ oder benötige keinerlei „Vorbereitung“. Aber diese Vorbereitung besteht bestimmt nicht in der Art und Weise, wie heutzutage berufsmässige Lehrer trainiert werden.

Zurück zum Ferienprogramm. So sind wir also nicht einfach „Programm-Anbieter“, sondern für manche Kinder müssen wir regelrecht Ersatzeltern sein. (Was einschliesst, dass sie z.B. ab und zu bei uns zu Mittag essen oder auch nachmittags, ausserhalbs des Programms, bei uns sind.) – Noch trauriger sind die Fälle, wo Kinder ohne Wissen der Eltern von zuhause fortlaufen, um bei uns zu sein, weil sie sich zuhause nicht wie in einer Familie fühlen. Auch dieses Jahr hatten wir zwei solche Fälle. Im einen Fall hatten die Eltern ein Einsehen und liessen die Kinder „offiziell“ in unser Programm kommen; im anderen Fall leider nicht.

Nach mehreren Jahren solcher Ferienprogramme können wir inzwischen ein bestimmtes „Muster“ beobachten, wie sich Kinder in der Regel verhalten, wenn sie sich allmählich an eine Umgebung gewöhnen, die weitgehend frei von „Schulroutine“ ist. Während der ersten zwei Wochen fühlen sich die meisten Kinder ziemlich ratlos und verloren, wenn sie sich selber eine Tätigkeit, ein Arbeitsmaterial oder ein Spiel aussuchen sollen. (Besonders die grösseren, die schon mehr Schuljahre auf dem Buckel haben.) Sie stehen dann einfach herum und warten, bis jemand ihnen sagt, was sie zu tun haben. Oder sie sehen passiv anderen Kindern zu, die bereits eine Beschäftigung gefunden haben, die sie interessiert. Einige bringen auch von zuhause Schulaufgaben mit, die sie dann – offensichtlich lustlos – lösen. (In diesen Fällen sagen wir den Eltern, sie sollen den Kindern keine solchen Aufgaben mehr mitgeben.)
In dieser Phase sind es oft unsere eigenen Kinder, die irgendein Projekt „anreissen“ (Bastelarbeit, Experiment, Spiel, usw.), worauf die anderen Kinder auch mitmachen möchten. – Manchmal halte ich auch freiwillige anschauliche „Schulstunden“ (aber nur kurz, höchstens eine halbe Stunde) über ein Thema, bei dem viele Kinder in der Schule Mühe haben (meistens aus der Mathematik), und gebe ihnen dann eine praktische Tätigkeit oder eine Forschungsaufgabe im Zusammenhang damit.

Etwa nach zwei Wochen beginnen sich die meisten Kinder etwas freier zu fühlen. Meistens entdecken sie dann, dass sie auch spielen dürfen, und nützen dies nach Kräften aus. So verbringen sie den grössten Teil der freien Arbeitszeit (d.h. die ersten zwei bis drei Stunden des Morgens) mit Brett-, Karten- oder Würfelspielen, oder auch mit Spielen im Freien. (Dabei lernen sie mehr, als ihnen selber bewusst ist. Die meisten solchen Spiele wie Dame, Mühle, Schach, Quartett, usw, erfordern strategisches und mathematisches Denken in einer Art und Weise, wie sie bei Schulaufgaben kaum gefördert wird.)
Diese „Spielphase“ dauert bei den meisten Kindern zwischen zwei und vier Wochen. Dieses Jahr hatten wir zwei Schüler, die während den Ferien dreimal in der Woche zwei Stunden Nachholunterricht an ihrer Schule hatten, weil sie in einem Fach eine ungenügende Note gehabt hatten. Bezeichnenderweise kamen diese während des ganzen Ferienprogramms nicht aus der Spielphase heraus.

Wenn dann das Spielbedürfnis der Kinder gestillt ist, treten einige von ihnen in eine kreative Phase ein: Sie beginnen Experimente zu machen oder sogar eigene Experimente zu erfinden; zeichnen, malen und basteln; oder erfinden eigene Spiele. In dieser Phase beobachten wir auch bei einigen das, was Maria Montessori die „Normalisation“ nennt: Sie sind dann in der Lage, bis zu drei Stunden am Stück interessiert und konzentriert an einem Projekt zu arbeiten, benötigen nur wenig Anleitung und Hilfe von uns Erwachsenen, und so gut wie keine disziplinarische „Aufsicht“. In dieser Phase beginnen manche Kinder auch von sich aus und mit neuer Freude mit eher „schulischen“ Arbeitsblättern oder Materialien zu arbeiten.
Besonders der Ausdruck von Kreativität, etwas „Eigenes“ zu zeichnen oder zu basteln, ist für die Kinder ein sehr grosser Schritt. Sie sind sich derart an das sture Abschreiben und Abzeichnen von Vorlagen gewöhnt – und ausserdem daran, dass andere Kinder und auch die Lehrer ständig nur ihre Werke kritisieren und darüber lachen -, dass sie sich kaum getrauen, von sich aus etwas zu zeichnen. (Das wurde sehr treffend beschrieben von Helen E.Buckley in „Traurige Geschichte von einem kleinen Jungen“.) Wenn sie im Ferienprogramm so weit kommen, ihre diesbezüglichen Hemmungen zu überwinden, so betrachte ich das als einen grossen pädagogischen Erfolg.

Multiplikation und Division mit Flaschendeckeln.

Diese Schülerin – die in der Schule grosse Probleme hat in Mathematik – war nach der Herstellung ihres eigenen Brettspiels sehr erstaunt, als ich ihr erklärte, sie hätte dabei eine Menge Geometrie geübt.

Das wäre der Moment, wo wir gerne mit den Kindern so weiterarbeiten würden, und wo sie bestimmt vieles lernen könnten – auch „Schulstoff“, aber auf anregendere und praktischere Weise als in der Schule. Nur beginnt leider diese Phase bei den meisten Kindern erst kurz vor Ende der Ferien, und manche kommen gar nicht so weit – und dann müssen sie wieder zur Schule gehen. Wir suchen deshalb weiterhin nach Wegen, wie wir mit Kindern arbeiten können, die gar nicht zur Schule gehen: Kinder, die ein Zwischenjahr einschalten (letztes Jahr hatten wir ein solches, und dieses Jahr werden wir voraussichtlich auch wieder zwei solche haben); Förderung von Homeschooling; oder evtl. Gründung einer alternativen Schule.

Von den angebotenen Wahlkursen war wie letztes Jahr Kochen am beliebtesten. Nicht unbedingt, weil die Kinder so gerne kochen würden – aber sie geniessen das anschliessende gemeinsame Mittagessen. Die meisten von ihnen haben zuhause keine gemeinsamen Essenszeiten in der Familie: jeder isst, wann er will; oder die Eltern sind nicht zuhause und lassen den Kindern eine Mahlzeit zum Aufwärmen in der Küche, oder schicken sie in ein Restaurant.

Der zweit-beliebteste Wahlkurs war die Herstellung von Trickfilmen. Da konnte sich auch die Kreativität der Kinder entfalten. Zuerst lernten sie einige Arten kennen, wie man Trickfilme herstellen kann: auf Papier gezeichnete; mit Figuren gelegte; mit Plastillin geformte; am Computer entworfene. Am meisten gefiel ihnen das Material „Plastillin“. Sie stellten mehrere Kürzest-Trickfilme her sowie zwei etwas längere, sogar mit Ton. (Hier ein Link zu einem der Tonfilme – natürlich ist er auf Spanisch.) Hier ein paar Muster aus unserem völlig unprofessionellen Studio:

arbol

pelota

puente

Wir konnten auch einige interessante Ausflüge machen. Einige führten uns aufs Land, wo wir Blumen untersuchen oder einen Orientierungslauf machen konnten. Andere hatten interessante Arbeitsplätze zum Ziel: eine Textilfabrik; sowie die Werkstatt eines Kürschners, der Pelztiere und -mützen aus Lama- und Alpaca-Fellen herstellt, die er selber gerbt. Beide Ausflüge waren sehr interessant für die Kinder.

Leider stellten wir bei den Schülern nur wenig Offenheit für den christlichen Glauben fest. Nicht dass sie Glaubensinhalte direkt ablehnen würden – sie sind einfach gleichgültig. Die meisten hören gern biblische Geschichten, und „theoretisch“ sind sie auch damit einverstanden, dass Gottes Gebote gelten und dass das Opfer Jesu zu unserer Erlösung notwendig ist. Sie sehen einfach anscheinend keinen Anlass, dies mit ihrem eigenen Leben zu verbinden. Wir hatten dieses Jahr nur wenige persönliche Gespräche über Glaubensfragen.
Wir haben ständig einen „Fragebriefkasten“ aufgestellt, wo die Schüler anonym Fragen einwerfen können zu persönlichen oder familiären Problemen, zu Glaubensfragen, und zum Leben überhaupt. Dieses Jahr blieb der Briefkasten während der ganzen Ferien gähnend leer!

Auch die Teenager, bei denen man von ihrem Alter her noch eher eine Auseinandersetzung mit Fragen über die Zukunft, den Sinn des Lebens, Werte, usw. erwarten würde, scheinen mehrheitlich nur daran interessiert zu sein, den Übertritt ins nächste Schuljahr zu schaffen und später eine höhere Ausbildung machen zu können – irgendeine, egal welche, Hauptsache, es gibt ein Diplom dafür.

Die Situation erinnert mich stark an die Analyse Francis Schaeffers über die amerikanische Gesellschaft der siebziger Jahre. Diese Worte scheinen mir heute noch mehr zuzutreffen als damals, und auch hier in Perú:

„Allzuoft geschah es, dass Studenten der frühen sechziger Jahre, wenn sie ihre Eltern fragten, warum man sich ausbilden lassen solle, darauf – zwar nicht immer expressis verbis, aber doch recht verständlich – die Antwort erhielten: ‚Weil statistisch gesehen ein Akademiker ein höheres Jahreseinkommen hat.‘ Und wenn sie dann fragten, weshalb man mehr verdienen solle, sagte man ihnen: ‚Damit du deine Kinder auf die Universität schicken kannst.‘ Bei dieser Art von Antwort (…) hatte weder der Mensch noch die Ausbildung einen Sinn.
(…) Nach dem Tumult der sechziger Jahre dachten viele Leute am Anfang der siebziger Jahre, dass die Zeiten nun viel besser seien, nachdem die Universitäten sich beruhigt hatten. Ich dagegen hätte weinen können. Wenn die jungen Menschen (d.h.die Revolutionäre der 68er-Jahre) auch falsche Lösungen anboten, so hatten sie doch mit ihrer Analyse recht. Es war viel schlimmer, als viele nun die Hoffnung aufgaben und einfach die Werte ihrer Eltern übernahmen – persönlichen Frieden und Wohlstand. (…) In der Revolte gegen ihre Eltern kamen die Jugendlichen in einer Kreisbewegung an ihren Ausgangspunkt zurück und landeten oft auf einem tieferen Niveau mit genau denselben kümmerlichen Werten: ihrem eigenen persönlichen Frieden und ihrem eigenen Wohlstand.“
(Aus Francis Schaeffer, „Wie können wir denn leben?“)

Schaeffer sagt auch voraus, was eine solche Einstellung für gesamtgesellschaftliche Folgen haben wird, nämlich den Verlust der Freiheit. Diese Voraussage ist tatsächlich schon weitgehend eingetroffen, obwohl die wenigsten Menschen in der westlichen Welt sich dessen bewusst sind:

„Ich bin davon überzeugt, dass die Mehrheit der ’schweigenden Mehrheit‘, Junge und Alte, den Verlust von Freiheiten hinnehmen werden, ohne ihre Stimme zu erheben, solange ihr persönlicher Lebensstil nicht bedroht ist. Und da persönlicher Friede und Wohlstand die einzigen Werte sind, die für die Mehrheit zählen, wissen die Politiker, dass sie nur diese Dinge versprechen müssen, um gewählt zu werden. Politik ist heute weithin nicht mehr eine Angelegenheit von Idealen – Männer und Frauen werden in zunehmendem Masse nicht mehr von den Werten „Freiheit“ und „Wahrheit“ bewegt -, sondern man versucht sich eine Wählerschaft sicherzustellen, indem man den Leuten die ‚Sahnetorte‘ ‚persönlicher Friede‘ und ‚Wohlstand‘ anbietet. Die Politiker wissen, dass sich so lange kein Protest erheben wird, wie die Menschen diese Werte oder zumindest eine Fiktion dieser Werte oder eine Hoffnung darauf haben.“
(Schaeffer a.a.O.)

In unseren Ferienprogrammen möchten wir u.a. den Kindern zeigen, dass das Leben nicht darin bestehen muss, einfach ein „Rädchen im Getriebe“ zu sein. Wir möchten ihnen helfen, vor Gott richtige Entscheidungen zu treffen (das war das übergreifende Thema der „Bibelzeit“ mit der älteren Gruppe während diesen Ferien), und nicht einfach dem Strom der Zeit zu folgen. Aber wir müssen damit rechnen, dass schon dies in näherer Zukunft als „subversiv“ oder zumindest „politisch inkorrekt“ betrachtet werden wird …