Galater 5,1
Eine Untersuchung autoritärer Lehren und Praktiken in evangelikalen Kirchen und Organisationen
Was ist so schlimm an der Lehre von „Abdeckung“ und „Unterordnung“?
Sie ist unbiblisch.
Der erste Test für jede Lehre und Praktik ist immer: Entspricht es der Heiligen Schrift; insbesondere dem Neuen Testament?
Die Vertreter des Autoritarismus zitieren einige Bibelstellen als Begründungen. Aber bei näherer Untersuchung findet man meistens, dass diese Stellen aus dem Zusammenhang gerissen wurden, falsch angewandt werden, und/oder nicht wirklich das aussagen, was die Lehrer des Autoritarismus behaupten. In einem späteren Artikel werden wir einige dieser Stellen untersuchen. Zuerst aber sehen wir kurz, was Jesus und die Apostel über die Struktur der Gemeinde sagen, und über christliche Leiterschaft:
„Aber ihr sollt euch nicht Rabbi (Meister) nennen lassen; denn einer ist euer Meister, Christus; und ihr alle seid Brüder. Und nennt niemanden auf der Erde euren Vater, denn einer ist euer Vater, der in den Himmeln ist.“ (Mat.23,8-9)
„Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe. Aber der Angestellte, der nicht der Hirte ist und dem die Schafe nicht gehören, schaut zu, wie der Wolf kommt, und verlässt die Schafe und flieht …“ (Joh.10,11-12)
Die neutestamentliche Gemeinde ist eine Bruderschaft unter einem einzigen Vater; eine Herde unter einem einzigen Hirten. In diesen Bibelstellen gibt es keine hierarchischen Unterschiede zwischen einem Bruder und dem anderen, oder zwischen einem Schaf und dem anderen. Auch der berühmteste Apostel ist nicht mehr als ein Kind in der Familie des himmlischen Vaters; nicht mehr als ein Schaf in der Herde des guten Hirten. Im Leib Christi gibt es unterschiedliche Funktionen; aber diese Verschiedenheit begründet keine „Unterordnung“ unter eine Hierarchie, keine militärische „Befehlskette“.
„Und das Auge kann nicht zur Hand sagen: ‚Ich brauche dich nicht‘; noch der Kopf zu den Füssen: ‚Ich brauche euch nicht.‘ Im Gegenteil, jene Körperteile, die uns schwächer scheinen, sind viel notwendiger; und jene, die wir weniger wertschätzen, umgeben wir mit grösserer Wertschätzung (…) Aber Gott fügte den Körper (so) zusammen: er gab jenen grössere Wertschätzung, denen sie fehlt, damit der Körper einig sei, und damit die Glieder sich in gleicher Weise umeinander kümmern.“ (1.Kor.12,21-25)
Diese Worte stehen im Zusammenhang mit den verschiedenen „Gaben“ oder „Funktionen“, die Gott der Gemeinde gegeben hat: Apostel, Propheten, Lehrer, usw.
Jesus sprach zu seinen Jüngern sehr klar über die Gefahr, Strukturen der „Autorität und Unterordnung“ errichten zu wollen:
„Die Könige der Nationen machen sich zu Herren über sie [d.h. verlangen Unterordnung], und jene, die Autorität ausüben über sie, lassen sich Wohltäter nennen. Aber unter euch soll es nicht so sein; sondern der Grösste unter euch soll wie der Jüngste werden, und der Führende wie der Dienende. Denn wer ist wichtiger: der zu Tisch sitzt, oder der Dienende? Nicht der, der zu Tisch sitzt? Aber ich bin mitten unter euch wie der Dienende.“ (Luk.22,25-27, siehe auch Mat.20,25-28, 23,12, Joh.13,13-15, 1.Petrus 5,3.)
In dieser Hinsicht drücken sich die Schreiber des Neuen Testaments sehr genau aus. In einem säkularen Zusammenhang haben sie kein Problem damit, zu sagen, ein Leiter stehe „über“ anderen. Aber nie brauchen sie dieses Wort „über“, wenn sie von einem Leiter von Christen sprechen. Z.B. Mat.20,25-27: „Ihr wisst, dass die Regierenden der Nationen sich zu Herren über sie machen (wörtlich: „hinunter-herrschen“), und die Grossen üben Autorität über sie aus (wörtlich: „hinunter-Autorität ausüben“). Unter euch soll es nicht so sein; sondern wer gross sein möchte unter („en“ = wörtlich „in“) euch … und wer der Wichtigste sein möchte unter euch …“ – Diese Stelle macht deutlich, dass Autoritätsstrukturen, wie sie in den weltlichen Regierungen bestehen, nicht in die christliche Gemeinschaft hineingetragen werden sollen.
Von Christus sagt die Schrift, er sei „zum Haupt über alles“ erhoben worden (Eph.1,22). Aber von den christlichen Leitern heisst es: „… die unter euch arbeiten und euch vorstehen im Herrn …“ (1.Thess.5,12). Es heisst nicht „die über euch stehen“. Die Idee von „Oberen“ und „Untergebenen“ findet keine Anwendung in der neutestamentlichen Gemeinde. (Siehe auch 1.Petrus 5,2-3.)
Anstelle einer „vertikalen“ Struktur betont das Neue Testament viel stärker die „horizontalen“ Beziehungen, die „Einander-„Beziehungen im Leib Christi:
„Wir sind … Glieder voneinander“ (Röm.12,5, Eph.4,25)
„Liebt einander.“ (Joh.13,34-35, Röm.12,10, 1.Petrus 1,22, 1.Joh. 3,11.23, u.a.)
„Tragt einer des anderen Last …“ (Gal. 6,2)
„Und vergesst nicht Gutes zu tun, und die Gemeinschaft [untereinander] …“ (Hebr. 13,16)
„Beherbergt einander ohne Murren.“ (1.Petrus 4,9)
„Legt die Lüge ab, und sprecht Wahrheit jeder zu seinem Nächsten …“ (Eph.4,25)
„Ihr selber [alle Gemeindeglieder] seid voll Tugend, voll aller Erkenntnis, fähig, auch andere zu ermahnen.“ (Röm.15,14)
„… lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit …“ (Kol.3,16)
„Ermutigt einander, und erbaut einander“ (1.Thess.5,11)
„… um einander anzuspornen zur Liebe und zu guten Taten …“ (Hebr.10,24)
„… indem ihr zueinander sprecht mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern …“ (Eph.5,19)
„Bekennt einander eure Übertretungen und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.“ (Jak.5,16)
„Seid gütig zueinander, barmherzig, vergebt einander …“ (Eph.4,32)
„Ordnet euch einander unter in der Furcht Gottes.“ (Eph.5,21)
„… und alle, einander untergeordnet, zieht Demut an …“ (1.Petrus 5,5)
Die zwei letzten Stellen sind besonders wichtig, weil sie den Begriff der „Unterordnung“ enthalten, den der Autoritarismus so sehr betont. In der neutestamentlichen Gemeinde ist auch die „Unterordnung“ gegenseitig, sie geht in beide Richtungen. Es gibt keine „Oberen“, die von ihren „Untergebenen“ „Unterordnung“ verlangen könnten; der Herr ruft uns auf, uns einander unterzuordnen.
Was die Gemeindeleitung betrifft, so finden wir, dass alle neutestamentlichen Gemeinden, soweit wir darüber informiert sind, von einem Team von mehreren Leitern gemeinsam geleitet wurden. Das ist wichtig, weil so auch innerhalb des Leitungsteams die gegenseitige Unterordnung praktiziert wurde, nicht eine Unterordnung aller unter einen einzigen „Hauptleiter“.
Sie unterwirft das Volk Gottes einer unangemessenen Form von Autorität.
Die Vertreter des Autoritarismus stützen sich auf eine einzige Form von Autorität ab: die delegierte Autorität bzw. Autorität aufgrund einer Position. Das ist die Art von Autorität, die wir in den weltlichen Regierungen finden, oder in der Armee: Die Leiter kommen zu ihrer Position, weil sie von ihren Vorgesetzten dahin befördert wurden. Ihre Pflicht besteht darin, die Befehle ihrer Vorgesetzten an ihre Untergebenen weiterzuleiten. Die Untergebenen müssen jedem gehorchen, der eine „übergeordnete“ Position innehat, unabhängig vom Charakter dieser Person, und unabhängig davon, ob sie ihre Leiterschaft gut oder schlecht ausübt.
Jesus erklärte in Lukas 22,25-27 und Parallelstellen, dass in seinem Volk eine andere Art von Autorität gilt: die beziehungsmässige Autorität, bzw. Autorität aufgrund von Anerkennung. Das ist z.B. die Autorität eines älteren Freundes, dessen Ratschläge ich respektiere, weil ich ihn als einen reifen und weisen Christen kenne. Diese Art von Autorität zwingt sich nicht auf, und hat nichts zu tun mit einer „Position“ oder einem „Amt“, das mein Freund innehätte. Sie beruht darauf, wer er ist, und auf meiner Anerkennung seiner Qualitäten. (Einige Autoren nennen diese Art von Autorität eine moralische Autorität.)
In den folgenden Zitaten finden wir weitere Hinweise darauf, dass dies die Art von Autorität ist, die in der neutestamentlichen Gemeinde ausgeübt wurde:
„Sucht also, Brüder, sieben Männer unter euch mit gutem Zeugnis, voll des Heiligen Geistes und Weisheit, die wir über diese Notwendigkeit einsetzen können…“ (Apg.6,3)
Das war keine „Delegation“ oder „Beförderung“ gewisser Personen von seiten der Apostel, um die neuen Verantwortungen wahrzunehmen. Stattdessen wurde die ganze Gemeinde gebeten, Personen zu suchen mit den nötigen Qualifikationen. Mit anderen Worten, die Sieben wurden ausgewählt aufgrund ihrer Anerkennung durch die Gesamtgemeinde.
„Aber von jenen, die als etwas gelten (…), mir haben jene, die etwas gelten, nichts auferlegt (…) Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen gelten…“ (Gal.2,6.9)
Jakobus, Kephas (Petrus) und Johannes galten als „Säulen“, nicht aufgrund einer „Position“, die sie innegehabt hätten, sondern wegen ihrer hohen Wertschätzung in der Gemeinde. Das mit „gelten“ übersetzte Wort (dreimal dokéo) bedeutet „denken, meinen, [jemandem] scheinen, ansehen [als]“, manchmal auch „wertschätzen“. Die Autorität dieser drei Leiter gründete sich auf der Anerkennung ihrer Qualitäten durch die ganze Gemeinde.
1.Tim.3 zählt einige Anforderungen an Leiter auf. Diese Anforderungen zeigen, dass die Autorität der Ältesten nicht darauf beruhte, in ein „Amt“ eingesetzt worden zu sein (delegierte Autorität), sondern auf dem Erweis ihrer persönlichen Qualitäten und Integrität (moralische Autorität).
Das entspricht auch der Art und Weise, wie die Ältesten in Israel gewählt wurden: Die Stämme oder Sippen wählten die reifsten und weisesten Familienväter zu Ältesten. Ihre eigenen Familienmitglieder und nächsten Bekannten konnten diese Qualitäten bezeugen, und so entscheiden, welche Personen Älteste sein sollten.
In einigen Bibelübersetzungen scheint Apg.14,23 dieser Ansicht zu widersprechen: „Und sie [Paulus und Barnabas] setzten in jeder Gemeinde Älteste ein…“ Das kann den Eindruck vermitteln, die Apostel hätten bestimmte Gemeindeglieder zu Ältesten „ernannt“ oder „befördert“. Aber das mit „einsetzen“ übersetzte Wort ist cheirotonéo, „durch Handaufheben bestätigen“. Die Apostel entschieden also nicht allein. Wir können annehmen, dass ihre Meinung grosses Gewicht hatte, da sie als erste das Evangelium gebracht hatten. Aber die Anerkennung von seiten der Gemeinde hatte mindestens dasselbe Gewicht.
Hierarchische Strukturen in der Form einer „Befehlskette“ mögen in einer weltlichen Regierung oder in der Armee angebracht sein. Aber wenn sie in die Gemeinde Gottes eingeführt werden, dann wird der Gemeinde eine fremde Art von Autorität aufgezwungen, die weltlich und nicht biblisch ist.
Sie hält das Volk Gottes in der Unreife fest.
Die Mitglieder einer autoritären Gruppe sind vom Leiter abhängig. Der Leiter muss für sie die Bibel auslegen; muss für sie beten; muss ihnen sagen, was sie tun und lassen sollen, sogar in ihrem Privatleben… Dieser Lebensstil mag vielen Menschen anziehend erscheinen, die nicht gerne für ihr Leben Verantwortung übernehmen. Sie können dann in der Illusion leben, ihre Leiter seien für alles verantwortlich. Wo es keine Entscheidungsfreiheit gibt, da ist auch keine Gelegenheit, Verantwortlichkeit zu lernen und auszuüben.
Aber Gott möchte nicht, dass wir einen solchen sklavischen Geist haben. Er möchte uns den Geist von Söhnen geben, freien und verantwortlichen Söhnen, die in der Liebe des Vaters Sicherheit finden. „Denn ihr habt nicht einen Geist der Sklaverei empfangen, um wiederum Angst zu haben. Sondern ihr habt einen Geist der Adoption empfangen, in dem wir rufen: ‚Abba („Papi“), Vater!‘ Der Geist selber bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ (Röm.8,15-16). Wer als Kind Gottes adoptiert worden ist, der wird sich nicht wieder in eine sklavische Abhängigkeit von menschlichen Leitern begeben.
„Steht also fest in der Freiheit, für die uns Christus frei gemacht hat, und lasst euch nicht wieder einem Joch der Sklaverei unterwerfen.“ (Gal.5,1)
„Er (Christus) hat euch mit einem Preis erkauft; werdet nicht Sklaven von Menschen.“ (1.Kor.7,23)
Der direkte Zugang zu Gott ist ein äusserst wichtiger Aspekt des christlichen Lebens:
„Da wir also einen grossen Hohenpriester haben, der durch die Himmel hindurchgegangen ist, Jesus, den Sohn Gottes, lasst uns am Bekenntnis festhalten. (…) Treten wir also mit Freimut zum Gnadenthron hinzu, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade von Gott finden zur rechtzeitigen Hilfe.“ (Hebr.4,14-16)
„Also, Brüder, da wir Freimut haben, in das Allerheiligste einzutreten durch das Blut Jesu, welches ein neuer und lebendiger Weg ist, den er für uns eingeweiht hat durch den Vorhang hindurch, das ist sein Fleisch, und einen grossen Priester über das Heim Gottes, lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in der Fülle des Glaubens, die Herzen besprengt [zur Reinigung] vom schlechten Gewissen, und den Körper gewaschen mit reinem Wasser.“ (Hebr.10,19-22)
Dieser Zugang geschieht durch Jesus Christus. Wir brauchen keine Vermittlung durch einen Leiter, Priester, Pastor, oder irgendeinen anderen Menschen auf Erden.
„Denn Gott ist einer, und einer ist Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus.“ (1 Tim.2,5)
Der Herr möchte auch jedes Glied seines Volkes direkt und persönlich führen und lehren:
„Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir.“ (Joh.10,27)
„Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass jemand euch lehrt, sondern wie die Salbung selber euch über alles belehrt …“ (1.Joh.2,27)
Diese direkte Beziehung zu Gott geht verloren, wenn Christen sich angewöhnen, in allen Aspekten des christlichen Lebens von ihren Leitern abhängig zu sein. Sie wissen dann nicht, wie sie selber die Bibel verstehen können; sie sind sich nicht gewohnt, selber zu beten; sie wissen nicht, wie sie selber Gottes Führung für ihr Leben suchen können; sie wissen nicht, wie sie den Versuchungen widerstehen können, oder wie sie sich gegen Angriffe und gegen falsche Lehren wehren können.