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Steht fest in der Freiheit, für die uns Christus frei gemacht hat! – Teil 2

25. Februar 2019

Galater 5,1

Eine Untersuchung autoritärer Lehren und Praktiken in evangelikalen Kirchen und Organisationen

Was ist so schlimm an der Lehre von „Abdeckung“ und „Unterordnung“?

Sie ist unbiblisch.

Der erste Test für jede Lehre und Praktik ist immer: Entspricht es der Heiligen Schrift; insbesondere dem Neuen Testament?

Die Vertreter des Autoritarismus zitieren einige Bibelstellen als Begründungen. Aber bei näherer Untersuchung findet man meistens, dass diese Stellen aus dem Zusammenhang gerissen wurden, falsch angewandt werden, und/oder nicht wirklich das aussagen, was die Lehrer des Autoritarismus behaupten. In einem späteren Artikel werden wir einige dieser Stellen untersuchen. Zuerst aber sehen wir kurz, was Jesus und die Apostel über die Struktur der Gemeinde sagen, und über christliche Leiterschaft:

„Aber ihr sollt euch nicht Rabbi (Meister) nennen lassen; denn einer ist euer Meister, Christus; und ihr alle seid Brüder. Und nennt niemanden auf der Erde euren Vater, denn einer ist euer Vater, der in den Himmeln ist.“ (Mat.23,8-9)

„Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe. Aber der Angestellte, der nicht der Hirte ist und dem die Schafe nicht gehören, schaut zu, wie der Wolf kommt, und verlässt die Schafe und flieht …“ (Joh.10,11-12)

Die neutestamentliche Gemeinde ist eine Bruderschaft unter einem einzigen Vater; eine Herde unter einem einzigen Hirten. In diesen Bibelstellen gibt es keine hierarchischen Unterschiede zwischen einem Bruder und dem anderen, oder zwischen einem Schaf und dem anderen. Auch der berühmteste Apostel ist nicht mehr als ein Kind in der Familie des himmlischen Vaters; nicht mehr als ein Schaf in der Herde des guten Hirten. Im Leib Christi gibt es unterschiedliche Funktionen; aber diese Verschiedenheit begründet keine „Unterordnung“ unter eine Hierarchie, keine militärische „Befehlskette“.

„Und das Auge kann nicht zur Hand sagen: ‚Ich brauche dich nicht‘; noch der Kopf zu den Füssen: ‚Ich brauche euch nicht.‘ Im Gegenteil, jene Körperteile, die uns schwächer scheinen, sind viel notwendiger; und jene, die wir weniger wertschätzen, umgeben wir mit grösserer Wertschätzung (…) Aber Gott fügte den Körper (so) zusammen: er gab jenen grössere Wertschätzung, denen sie fehlt, damit der Körper einig sei, und damit die Glieder sich in gleicher Weise umeinander kümmern.“ (1.Kor.12,21-25)

Diese Worte stehen im Zusammenhang mit den verschiedenen „Gaben“ oder „Funktionen“, die Gott der Gemeinde gegeben hat: Apostel, Propheten, Lehrer, usw.

Jesus sprach zu seinen Jüngern sehr klar über die Gefahr, Strukturen der „Autorität und Unterordnung“ errichten zu wollen:

„Die Könige der Nationen machen sich zu Herren über sie [d.h. verlangen Unterordnung], und jene, die Autorität ausüben über sie, lassen sich Wohltäter nennen. Aber unter euch soll es nicht so sein; sondern der Grösste unter euch soll wie der Jüngste werden, und der Führende wie der Dienende. Denn wer ist wichtiger: der zu Tisch sitzt, oder der Dienende? Nicht der, der zu Tisch sitzt? Aber ich bin mitten unter euch wie der Dienende.“ (Luk.22,25-27, siehe auch Mat.20,25-28, 23,12, Joh.13,13-15, 1.Petrus 5,3.)

In dieser Hinsicht drücken sich die Schreiber des Neuen Testaments sehr genau aus. In einem säkularen Zusammenhang haben sie kein Problem damit, zu sagen, ein Leiter stehe „über“ anderen. Aber nie brauchen sie dieses Wort „über“, wenn sie von einem Leiter von Christen sprechen. Z.B. Mat.20,25-27: „Ihr wisst, dass die Regierenden der Nationen sich zu Herren über sie machen (wörtlich: „hinunter-herrschen“), und die Grossen üben Autorität über sie aus (wörtlich: „hinunter-Autorität ausüben“). Unter euch soll es nicht so sein; sondern wer gross sein möchte unter („en“ = wörtlich „in“) euch … und wer der Wichtigste sein möchte unter euch …“ – Diese Stelle macht deutlich, dass Autoritätsstrukturen, wie sie in den weltlichen Regierungen bestehen, nicht in die christliche Gemeinschaft hineingetragen werden sollen.

Von Christus sagt die Schrift, er sei „zum Haupt über alles“ erhoben worden (Eph.1,22). Aber von den christlichen Leitern heisst es: „… die unter euch arbeiten und euch vorstehen im Herrn …“ (1.Thess.5,12). Es heisst nicht „die über euch stehen“. Die Idee von „Oberen“ und „Untergebenen“ findet keine Anwendung in der neutestamentlichen Gemeinde. (Siehe auch 1.Petrus 5,2-3.)

Anstelle einer „vertikalen“ Struktur betont das Neue Testament viel stärker die „horizontalen“ Beziehungen, die „Einander-„Beziehungen im Leib Christi:

„Wir sind … Glieder voneinander“ (Röm.12,5, Eph.4,25)
„Liebt
einander.“ (Joh.13,34-35, Röm.12,10, 1.Petrus 1,22, 1.Joh. 3,11.23, u.a.)
„Tragt
einer des anderen Last …“ (Gal. 6,2)
„Und vergesst nicht Gutes zu tun, und die Gemeinschaft [untereinander] …“ (Hebr. 13,16)
„Beherbergt
einander ohne Murren.“ (1.Petrus 4,9)
„Legt die Lüge ab, und sprecht Wahrheit
jeder zu seinem Nächsten …“ (Eph.4,25)
„Ihr selber
[alle Gemeindeglieder] seid voll Tugend, voll aller Erkenntnis, fähig, auch andere zu ermahnen.“ (Röm.15,14)
„… lehrt und ermahnt
einander in aller Weisheit …“ (Kol.3,16)
„Ermutigt einander, und erbaut
einander“ (1.Thess.5,11)
„… um
einander anzuspornen zur Liebe und zu guten Taten …“ (Hebr.10,24)
„… indem ihr
zueinander sprecht mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern …“ (Eph.5,19)
„Bekennt
einander eure Übertretungen und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.“ (Jak.5,16)
„Seid gütig
zueinander, barmherzig, vergebt einander …“ (Eph.4,32)
„Ordnet euch
einander unter in der Furcht Gottes.“ (Eph.5,21)
„… und alle,
einander untergeordnet, zieht Demut an …“ (1.Petrus 5,5)

Die zwei letzten Stellen sind besonders wichtig, weil sie den Begriff der „Unterordnung“ enthalten, den der Autoritarismus so sehr betont. In der neutestamentlichen Gemeinde ist auch die „Unterordnung“ gegenseitig, sie geht in beide Richtungen. Es gibt keine „Oberen“, die von ihren „Untergebenen“ „Unterordnung“ verlangen könnten; der Herr ruft uns auf, uns einander unterzuordnen.

Was die Gemeindeleitung betrifft, so finden wir, dass alle neutestamentlichen Gemeinden, soweit wir darüber informiert sind, von einem Team von mehreren Leitern gemeinsam geleitet wurden. Das ist wichtig, weil so auch innerhalb des Leitungsteams die gegenseitige Unterordnung praktiziert wurde, nicht eine Unterordnung aller unter einen einzigen „Hauptleiter“.

Sie unterwirft das Volk Gottes einer unangemessenen Form von Autorität.

Die Vertreter des Autoritarismus stützen sich auf eine einzige Form von Autorität ab: die delegierte Autorität bzw. Autorität aufgrund einer Position. Das ist die Art von Autorität, die wir in den weltlichen Regierungen finden, oder in der Armee: Die Leiter kommen zu ihrer Position, weil sie von ihren Vorgesetzten dahin befördert wurden. Ihre Pflicht besteht darin, die Befehle ihrer Vorgesetzten an ihre Untergebenen weiterzuleiten. Die Untergebenen müssen jedem gehorchen, der eine „übergeordnete“ Position innehat, unabhängig vom Charakter dieser Person, und unabhängig davon, ob sie ihre Leiterschaft gut oder schlecht ausübt.

Jesus erklärte in Lukas 22,25-27 und Parallelstellen, dass in seinem Volk eine andere Art von Autorität gilt: die beziehungsmässige Autorität, bzw. Autorität aufgrund von Anerkennung. Das ist z.B. die Autorität eines älteren Freundes, dessen Ratschläge ich respektiere, weil ich ihn als einen reifen und weisen Christen kenne. Diese Art von Autorität zwingt sich nicht auf, und hat nichts zu tun mit einer „Position“ oder einem „Amt“, das mein Freund innehätte. Sie beruht darauf, wer er ist, und auf meiner Anerkennung seiner Qualitäten. (Einige Autoren nennen diese Art von Autorität eine moralische Autorität.)

In den folgenden Zitaten finden wir weitere Hinweise darauf, dass dies die Art von Autorität ist, die in der neutestamentlichen Gemeinde ausgeübt wurde:

„Sucht also, Brüder, sieben Männer unter euch mit gutem Zeugnis, voll des Heiligen Geistes und Weisheit, die wir über diese Notwendigkeit einsetzen können…“ (Apg.6,3)

Das war keine „Delegation“ oder „Beförderung“ gewisser Personen von seiten der Apostel, um die neuen Verantwortungen wahrzunehmen. Stattdessen wurde die ganze Gemeinde gebeten, Personen zu suchen mit den nötigen Qualifikationen. Mit anderen Worten, die Sieben wurden ausgewählt aufgrund ihrer Anerkennung durch die Gesamtgemeinde.

„Aber von jenen, die als etwas gelten (…), mir haben jene, die etwas gelten, nichts auferlegt (…) Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen gelten…“ (Gal.2,6.9)

Jakobus, Kephas (Petrus) und Johannes galten als „Säulen“, nicht aufgrund einer „Position“, die sie innegehabt hätten, sondern wegen ihrer hohen Wertschätzung in der Gemeinde. Das mit „gelten“ übersetzte Wort (dreimal dokéo) bedeutet „denken, meinen, [jemandem] scheinen, ansehen [als]“, manchmal auch „wertschätzen“. Die Autorität dieser drei Leiter gründete sich auf der Anerkennung ihrer Qualitäten durch die ganze Gemeinde.

1.Tim.3 zählt einige Anforderungen an Leiter auf. Diese Anforderungen zeigen, dass die Autorität der Ältesten nicht darauf beruhte, in ein „Amt“ eingesetzt worden zu sein (delegierte Autorität), sondern auf dem Erweis ihrer persönlichen Qualitäten und Integrität (moralische Autorität).
Das entspricht auch der Art und Weise, wie die Ältesten in Israel gewählt wurden: Die Stämme oder Sippen wählten die reifsten und weisesten Familienväter zu Ältesten. Ihre eigenen Familienmitglieder und nächsten Bekannten konnten diese Qualitäten bezeugen, und so entscheiden, welche Personen Älteste sein sollten.

In einigen Bibelübersetzungen scheint Apg.14,23 dieser Ansicht zu widersprechen: „Und sie [Paulus und Barnabas] setzten in jeder Gemeinde Älteste ein…“ Das kann den Eindruck vermitteln, die Apostel hätten bestimmte Gemeindeglieder zu Ältesten „ernannt“ oder „befördert“. Aber das mit „einsetzen“ übersetzte Wort ist cheirotonéo, „durch Handaufheben bestätigen“. Die Apostel entschieden also nicht allein. Wir können annehmen, dass ihre Meinung grosses Gewicht hatte, da sie als erste das Evangelium gebracht hatten. Aber die Anerkennung von seiten der Gemeinde hatte mindestens dasselbe Gewicht.

Hierarchische Strukturen in der Form einer „Befehlskette“ mögen in einer weltlichen Regierung oder in der Armee angebracht sein. Aber wenn sie in die Gemeinde Gottes eingeführt werden, dann wird der Gemeinde eine fremde Art von Autorität aufgezwungen, die weltlich und nicht biblisch ist.

Sie hält das Volk Gottes in der Unreife fest.

Die Mitglieder einer autoritären Gruppe sind vom Leiter abhängig. Der Leiter muss für sie die Bibel auslegen; muss für sie beten; muss ihnen sagen, was sie tun und lassen sollen, sogar in ihrem Privatleben… Dieser Lebensstil mag vielen Menschen anziehend erscheinen, die nicht gerne für ihr Leben Verantwortung übernehmen. Sie können dann in der Illusion leben, ihre Leiter seien für alles verantwortlich. Wo es keine Entscheidungsfreiheit gibt, da ist auch keine Gelegenheit, Verantwortlichkeit zu lernen und auszuüben.

Aber Gott möchte nicht, dass wir einen solchen sklavischen Geist haben. Er möchte uns den Geist von Söhnen geben, freien und verantwortlichen Söhnen, die in der Liebe des Vaters Sicherheit finden. „Denn ihr habt nicht einen Geist der Sklaverei empfangen, um wiederum Angst zu haben. Sondern ihr habt einen Geist der Adoption empfangen, in dem wir rufen: ‚Abba („Papi“), Vater!‘ Der Geist selber bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ (Röm.8,15-16). Wer als Kind Gottes adoptiert worden ist, der wird sich nicht wieder in eine sklavische Abhängigkeit von menschlichen Leitern begeben.

„Steht also fest in der Freiheit, für die uns Christus frei gemacht hat, und lasst euch nicht wieder einem Joch der Sklaverei unterwerfen.“ (Gal.5,1)

„Er (Christus) hat euch mit einem Preis erkauft; werdet nicht Sklaven von Menschen.“ (1.Kor.7,23)

Der direkte Zugang zu Gott ist ein äusserst wichtiger Aspekt des christlichen Lebens:

„Da wir also einen grossen Hohenpriester haben, der durch die Himmel hindurchgegangen ist, Jesus, den Sohn Gottes, lasst uns am Bekenntnis festhalten. (…) Treten wir also mit Freimut zum Gnadenthron hinzu, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade von Gott finden zur rechtzeitigen Hilfe.“ (Hebr.4,14-16)

„Also, Brüder, da wir Freimut haben, in das Allerheiligste einzutreten durch das Blut Jesu, welches ein neuer und lebendiger Weg ist, den er für uns eingeweiht hat durch den Vorhang hindurch, das ist sein Fleisch, und einen grossen Priester über das Heim Gottes, lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in der Fülle des Glaubens, die Herzen besprengt [zur Reinigung] vom schlechten Gewissen, und den Körper gewaschen mit reinem Wasser.“ (Hebr.10,19-22)

Dieser Zugang geschieht durch Jesus Christus. Wir brauchen keine Vermittlung durch einen Leiter, Priester, Pastor, oder irgendeinen anderen Menschen auf Erden.

„Denn Gott ist einer, und einer ist Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus.“ (1 Tim.2,5)

Der Herr möchte auch jedes Glied seines Volkes direkt und persönlich führen und lehren:

„Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir.“ (Joh.10,27)

„Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass jemand euch lehrt, sondern wie die Salbung selber euch über alles belehrt …“ (1.Joh.2,27)

Diese direkte Beziehung zu Gott geht verloren, wenn Christen sich angewöhnen, in allen Aspekten des christlichen Lebens von ihren Leitern abhängig zu sein. Sie wissen dann nicht, wie sie selber die Bibel verstehen können; sie sind sich nicht gewohnt, selber zu beten; sie wissen nicht, wie sie selber Gottes Führung für ihr Leben suchen können; sie wissen nicht, wie sie den Versuchungen widerstehen können, oder wie sie sich gegen Angriffe und gegen falsche Lehren wehren können.

Steht fest in der Freiheit, für die uns Christus frei gemacht hat! – Teil 1

21. Februar 2019

Galater 5,1

Eine Untersuchung autoritärer Lehren und Praktiken in evangelikalen Kirchen und Organisationen

Historische Einleitung

Ich lebe im peruanischen Hochland. Diese Gegenden haben das Christentum in einer schrecklich verzerrten Form kennengelernt. Es kam im 16. Jahrhundert in Form eines Priesters, der nach Darlegung einiger biblischer Lehren den König, Inka Atahuallpa, mit folgender Forderung konfrontierte:
„Die Päpste, Nachfolger des heiligen Petrus, regieren über das ganze Menschengeschlecht. Alle Völker (…) müssen ihnen gehorchen. Ein Papst hat den Königen von Spanien alle diese Länder gegeben, um die Ungläubigen zu befrieden und sie unter die Herrschaft der katholischen Kirche zu bringen. (…) Deshalb müssen Sie, Herr, dem Kaiser tributpflichtig werden, die Verehrung der Sonne aufgeben und allen Götzendienst, der euch in die Hölle bringt, und müssen die wahre Religion annehmen.“

Statt ein Evangelium der Erlösung und Freiheit zu verkünden, wurde das Christentum als „Unterwerfung unter die Autorität“ des Königs und des Papstes vorgestellt. Hinter dem Priester Valverde stand der Eroberer Pizarro mit seiner Armee, um dieser Forderung mit Waffengewalt Nachdruck zu verleihen. Es folgten dreihundert Jahre der gewalttätigen Unterdrückung und Ausbeutung.

Das war auch das Jahrhundert des Ignatius von Loyola, der sich vorgenommen hatte, die Reformation zu bekämpfen, indem er eine „geistliche Armee“ ausbildete, die ihm, und dem Papst, in unbedingtem Gehorsam folgen würde. Ignatius verlangte Folgendes von seinen Jüngern:
„Um in allem richtigzugehen, sollen wir immer dafürhalten und glauben, dass das Weisse, was ich sehe, schwarz sei, wenn die hierarchische Kirche es so bestimmt.“ (Ignatius von Loyola, „Geistliche Übungen“)
Ignatius lehrte also, die „Autoritäten“ der Kirche hätten das Recht, die Wahrheit zu verdrehen, und die Gläubigen müssten ihnen gehorsam in ihrer Lüge folgen, selbst wenn die Lüge vor aller Augen offensichtlich sei. Das ist ein direkter Widerspruch gegen das Wort Gottes, welches sagt: „Wehe denen, die das Böse gut nennen und das Gute böse; die aus Licht Finsternis machen und aus Finsternis Licht; die das Bittere als süss darstellen und das Süsse als bitter!“ (Jesaja 5,20)

Ignatius sagte auch: „Wir sollen wie ein Kadaver sein, der von sich aus unfähig ist sich zu bewegen, oder wie der Stock eines Blinden[, in der Hand unserer Oberen].“ (Von daher kommt unser Wort „Kadavergehorsam“.) – Schon die mittelalterlichen Mönchsgelübde verlangten unbedingten Gehorsam den Oberen gegenüber; aber Ignatius zog diesen Gedanken ins Extrem.

Vergleichen wir damit die Auswirkungen des Wortes Gottes in den Ländern, die von der Reformation beeinflusst wurden. Das Grundprinzip der Reformation war, dass die Heilige Schrift oberste Autorität über die Lehre und Praxis der Christen ist. Nach diesem Prinzip konnte auch der einfachste Christ, wenn er biblische Gründe dazu hatte, jeden Leiter und jede „Autorität“ – selbst den Papst – zurechtweisen, wenn dieser entgegen dem Wort Gottes lehrte oder handelte. Obwohl die Reformatoren selber oft diesem Prinzip zuwiderhandelten, gab dies doch den „Laien“ eine nie dagewesene Macht, gegen jede unrechte Tyrannei aufzustehen. Ein Jahrhundert nach dem Sieg der Reformation begann man dieses Prinzip in den Bereich der Politik zu tragen; zuerst in England. Es wurde gelehrt (aufgrund von Bibelstellen wie 5.Mose 17,16-20 und Apg.5,29), dass selbst der König nicht nach Gutdünken regieren kann; er muss sich dem Gesetz unterwerfen. So entstand der moderne Rechtsstaat. Das neutestamentliche Modell einer Gemeinde, die von einem Ältestenkollegium geleitet wird (nicht von einem einzelnen Mann an der Spitze), welches seine Entscheidungen in Einmütigkeit trifft (siehe z.B. Apg.15), wurde zum Vorbild für die Einrichtung von Parlamenten. Anfangs des 19.Jahrhunderts kämpfte William Wilberforce auf biblischen Grundlagen für die Abschaffung der Sklaverei in England; Abraham Lincoln tat dasselbe in den USA.

In den reformierten Ländern führte also das allgemeine freie Erforschen der Bibel zu mehr Freiheit und Gerechtigkeit und zu einer besseren Ethik. In den spanischen Kolonien dagegen wurde die Bibel in der Hand eines autoritären Klerus dazu missbraucht, ganze Nationen zu versklaven. Dieser Autoritarismus prägt die peruanische Gesellschaft bis heute in allen ihren Bereichen. Selbst in den peruanischen evangelischen Kirchen wird das Christentum vorwiegend als „Unterwerfung unter die Autorität des Pfarrers“ verstanden. Der grundlegende Unterschied zwischen den Reformationsländern und den spanischen Kolonien besteht in den grundverschiedenen Auffassungen von „Autorität“.

Im vorliegenden Artikel (und den folgenden) habe ich hauptsächlich die evangelikalen Kirchen im Auge. Es ist meine Beobachtung, dass ein beträchtlicher Teil der Evangelikalen – auch in den Reformationsländern – den Boden der Reformation verlassen hat und zum römisch-katholischen Konzept zurückgekehrt ist, was die Auffassung von „Autorität“ betrifft.

Ansätze zu autoritären Lehren und Praktiken im evangelikalen Raum finden sich bereits in den Schriften von Watchman Nee. Meines Wissens war er es, der den Begriff der „geistlichen Abdeckung“ prägte. Weite Verbreitung fand der evangelikale Autoritarismus aber erst ungefähr ab den 1970er-Jahren. Auf der pfingstlich-charismatischen Seite war der Einfluss der amerikanischen „Shepherding“-Bewegung gross (deren Leiter, u.a. Derek Prince, aber bereits 1986 ihre Lehren und Praktiken widerriefen). Auf der „konservativen“ oder „Mainstream-„Seite beeinflussten Bill Gothard und seine Anhänger Zehntausende von Pastoren und Millionen von Gemeindegliedern mit ihren hyper-autoritären Lehren. Weitere verwandte Strömungen sind u.a. der calvinistische „Rekonstruktionismus“ oder „Dominionismus“; die charismatische „G12“; und eine neue „Königreichs-Lehre“ in gewissen Hausgemeinde-Kreisen.

Einige Autoren sehen im Autoritarismus der 1970er-Jahre eine Reaktion auf die 68er-Bewegung mit ihrer Ablehnung aller Autorität, welche die Evangelikalen zutiefst verunsicherte. Ein Kommentator sagte: „Wenn dein Haus brennt, dann fragst du den Feuerwehrmann nicht nach seinen Lehrüberzeugungen.“ Die Lehrer des Autoritarismus waren anscheinend solche „Feuerwehrmänner“, deren Lehren und Praktiken angesichts einer Notsituation unkritisch übernommen wurden. Erst später wurden die unheilvollen Folgen sichtbar: Tausende, vielleicht Millionen von Gemeindegliedern wurden bevormundet, psychisch zerstört, und in ihrem Glauben zutiefst verunsichert (man spricht von „geistlichem Missbrauch“). Und viele evangelikale Christen prüfen nicht mehr anhand der Schrift, was ihre Leiter lehren und praktizieren.

Was ist Autoritarismus?

Es gibt unterschiedliche Strömungen und Färbungen des evangelikalen Autoritarismus. Aber im wesentlichen kann er so zusammengefasst werden:

„Ein Christ muss sich seinen Leitern unterordnen und gehorchen, nicht nur in Angelegenheiten direkter biblischer Gebote, sondern in allem. Wenn ein Christ einen Leiter kritisiert oder ihm widerspricht, begeht er die Sünde der ‚Rebellion‘.“

Einige gehen noch weiter und sagen ausdrücklich, ein Christ müsse sich auch dann unterordnen und gehorchen, wenn seine Leiter in Sünde leben, oder wenn ihre Befehle unsinnig, schädlich, oder im Widerspruch zur Bibel sind.

Einige lehren zudem, die Unterordnung unter einen autoritären Leiter sei eine „Abdeckung“, die einen beschützt vor Versuchungen, teuflischen Angriffen, und Strafen Gottes.

In der Praxis führt das zu Situationen wie die folgenden:

– Eine Frau lässt sich von ihren Gemeindeleitern überzeugen, eine gutbezahlte Arbeitsstelle zu kündigen, um als Sekretärin der Kirche zu arbeiten, zu einem niedrigeren Lohn und ohne formellen Arbeitsvertrag. Nach mehreren Monaten wartet sie immer noch auf ihren ersten Lohn. Sie reklamiert bei den Leitern, aber diese sagen ihr nur, sie solle Geduld haben. Später stellt sie die Leiter wiederum zur Rede, zusammen mit zwei anderen Personen (nach Mat.18,16). Die Leiter machen ihr Vorwürfe, weil sie mit anderen Personen über die Angelegenheit gesprochen hat. Einige Zeit später wird sie wegen „Klatsch“ und „Rebellion“ entlassen.

– Der Kassier einer Kirche erhält Anweisungen von seinem Pastor, bestimmte Änderungen in der Buchhaltung durchzuführen. Bei der Überprüfung findet der Kassier Beweise für unrechtmässige Bereicherungen von seiten des Pastors, und versteht, dass die verlangten Änderungen dazu dienen sollen, diese Tatsachen zu verbergen, angesichts einer bevorstehenden Revision. Der Kassier getraut sich nicht, die Anweisungen in Frage zu stellen, da er weiss, dass er sonst als „ungehorsam“ unter „Gemeindezucht“ gestellt würde. Er erwägt zurückzutreten und zu einer anderen Gemeinde zu wechseln. Aber der Pastor droht ihm: „Wenn du das tust, dann verlierst du deine ganze geistliche Abdeckung, und fällst unter einen Fluch und unter den Einfluss des Teufels.“ Dadurch lässt sich der Kassier zwingen, sich zum Komplizen des Pastors zu machen, wenn auch mit einer riesigen Last auf seinem Gewissen.

– Die Leiter einer gewissen Kirche glauben sich dazu berufen, über allen Liebesbeziehungen und Heiraten der Mitglieder streng zu „wachen“. Sie verbieten ihnen, eine Paarbeziehung anzufangen oder zu heiraten ohne die Erlaubnis der Leiter. Sie trennen Dutzende von Liebes- und Brautpaaren, und zwingen sie, jemand anderen zu heiraten. Einige der betroffenen Personen verlassen die Kirche und verlieren ihren Glauben. Andere fügen sich den Leitern und erleiden später Schiffbruch in ihrer Ehe.

– In einer gewissen Kirche weiss jedermann, dass der Pastor eine Geliebte hat. Aber niemand getraut sich darüber zu sprechen, weil sie wissen, dass sie sonst unter „Gemeindezucht“ gestellt würden; denn es gilt als Sünde, den Pastor zu kritisieren. Die Kirche hat einen regionalen Rat, der gemäss dem offiziellen Organigramm über die örtlichen Pastoren wachen soll. Eines Tages konfrontiert der Regionalpräsident den Pastor mit seiner Sünde. Der Pastor berät sich mit einigen Leitern, die ihn unterstützen; beklagt sich über „Rebellion“ von seiten eines Mitarbeiters (womit der Regionalpräsident gemeint ist), und sie intrigieren gegen den Regionalpräsidenten, um ihn seines Amtes zu entheben.

In autoritären Organisationen kommt es oft vor, dass ein „Vorstand“ eingesetzt wird, um den Anschein einer Gewaltenteilung zu erwecken, während in Wirklichkeit der Vorstand keinerlei Macht hat, sondern vollständig vom autoritären Leiter abhängig ist.

(Die Beispiele beruhen auf mir bekannten authentischen Fällen, nur mit Änderungen einiger Details. Ich habe Kenntnis von noch schwerwiegenderen Fällen.)

In Familien, die von einer autoritären Strömung beeinflusst sind, kommen oft Kindsmisshandlungen und sexueller Missbrauch vor. Zudem wird eine „Schweigekultur“ gepflegt, um die Taten zu verheimlichen und zu verhindern, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. – In dieser Schrift ist nicht Raum, um auf diese Problematik einzugehen; ich beschränke mich im folgenden auf die Aspekte, die die Kirche betreffen.

Die erwähnten Beispiele zeigen bereits, dass der Autoritarismus schlechte Frucht bringt. In den folgenden Artikeln werden wir das auf etwas systematischere Weise untersuchen.

Die neutestamentliche Gemeinde als „Leib Christi“ – Teil 4

14. Februar 2019

„Einander“ (Fortsetzung)

In der vorherigen Betrachtung haben wir gesehen, wie wichtig die „Einander“-Beziehungen in der neutestamentlichen Gemeinde sind – viel wichtiger als die Beziehungen vom Typ „Leiter-Nachfolger“. Wir haben einige der Anweisungen in den apostolischen Briefen angesehen, die darüber sprechen; aber es gibt noch weitere:

„Und beteiligt euch nicht an den unfruchtbaren Werken der Finsternis, sondern konfrontiert sie.“ (Epheser 5,11)
„… Lehrt einander und weist einander zurecht in aller Weisheit…“ (Kolosser 3,16)
„Verfolgt den Frieden mit allen und die Heiligung … und achtet darauf, dass niemand hinter der Gnade Gottes zurückbleibe …“ (Hebäer 12,15)
(Vgl. auch Römer 15,14, 1.Thessalonicher 5,14)
Gott gab jedem Glied am Leib Christi die Fähigkeit – im Rahmen des individuellen Masses an Weisheit eines jeden -, andere zu ermahnen und böses Handeln zu konfrontieren. Die Glieder am Leib Christi sollen „aufeinander achten“. Das griechische Wort, das hierfür in Hebräer 12,15 verwendet wird, ist „episkopeo“, verwandt mit „epískopos“ (Aufseher; von da kommt das Wort „Bischof“). Damit der Leib Christi funktioniert, darf also die „Aufsichtsfunktion“ nicht das Privileg einiger weniger Leiter sein; sie soll von allen Gliedern geteilt werden. Nur dass die Ältesten diese Funktion mit grösserer Intensität und Verantwortung ausüben werden.
Aber bei diesem „Ermahnen“ und „Zurechtweisen“ ist es äusserst wichtig, dass es aus Liebe geschieht. Wenn ein Glaubensbruder „zurechtgewiesen“ werden muss, dann immer mit dem Ziel, seine Beziehung zum Herrn wiederherzustellen; nicht um ihn blosszustellen oder zu entmutigen. In 1.Thessalonicher 5,14 sehen wir, dass die Anweisung zum „Ermahnen“ kompensiert wird mit „ermutigen“ oder „trösten“, „unterstützen“ und „geduldig sein“.

In Kolosser 3,16 sehen wir, dass Lehren eine weitere Funktion ist, die jedes Glied ausüben kann. Das sehen wir auch in 1.Korinther 14,26, wo „Lehre“ als eines der Dinge erwähnt wird, die „jeder hat“. In der neutestamentlichen Gemeinde ist Lehren nicht das Vorrecht einiger weniger „Leiter“ oder „Theologen“. Der Neue Bund besteht darin, dass Gott sein Gesetz in den Sinn und in die Herzen der Wiedergeborenen schreibt, so dass sie „nicht nötig haben, dass jemand euch lehrt“, denn „alle werden von Gott gelehrt sein“. (Jeremia 31,33-34, Jesaja 54,13, Johannes 6,45, 1.Johannes 2,27.) Also kann jeder Wiedergeborene auch seinen Bruder etwas lehren, worüber Gott ihm Verständnis gegeben hat – wiederum im Rahmen des individuellen Masses an Weisheit, das Gott einem jeden gegeben hat.

„Ermutigt einander, und erbaut einander“ (1.Thessalonicher 5,11)
„…sondern ermutigt einander täglich, solange es ‚Heute‘ heisst, damit nicht einer unter euch verhärtet werde durch den Betrug der Sünde.“ (Hebräer 3,13)
„… um einander zur Liebe und zu guten Werken anzuspornen…“ (Hebräer 10,24)
Die positive Seite des „Ermahnens“ ist das „Ermutigen“ oder „Anspornen“. Einander zu ermutigen und aufzuerbauen ist eine der wichtigsten Funktionen im Leib Christi.
Hebräer 10,24 fährt im folgenden Vers fort: „… und nicht unsere Versammlungen zu verlassen, nach der Gewohnheit einiger…“. Dieser Vers ist von vielen „Pastoren“ dazu missbraucht worden, ihre Geschwister unter Druck zu setzen, damit sie alle Predigtversammlungen (sog. „Gottesdienste“) besuchen. Aber wenn wir diesen Vers im Zusammenhang von Vers 24 lesen, dann sehen wir, dass dieser Vers nicht von Predigtversammlungen spricht. Vers 24 sagt uns nämlich, was der Zweck christlicher Versammlungen sein sollte: „einander zur Liebe und zu guten Werken anzuspornen“. Wenn aber eine einzige Person „predigt“ und alle anderen zuhören, dann wird dieser Zweck des „Einander“ nicht erfüllt. Eine Predigtversammlung ist also keine „Versammlung“ im Sinn von Hebräer 10,25. Um diesen Vers anwenden zu können, müsste in den Versammlungen das geschehen, was Vers 24 sagt: Jeder sollte seine Nächsten „zur Liebe und zu guten Werken anspornen“.

„…indem ihr untereinander sprecht mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern…“ (Epheser 5,19)
„Wenn ihr zusammenkommt, hat jeder von euch ein Lied, hat eine Lehre, hat eine Offenbarung, hat eine [Botschaft in einer] Sprache, hat eine Auslegung; alles soll zur Auferbauung geschehen.“ (1.Korinther 14,26)
Diese Verse geben einige detaillierte Beispiele, wie die „gegenseitige Auferbauung“ in christlichen Zusammenkünften geschehen kann. Die Liste ist sicher nicht vollständig. „Jeder hat“ etwas, was Gott ihm gegeben hat zur Auferbauung der anderen Glieder. In der neutestamentlichen Gemeinde trugen alle Glieder zur gegenseitigen Auferbauung bei mit den Gaben, die der Heilige Geist ihnen gegeben hatte.

„Propheten sollen zwei oder drei sprechen, und die übrigen unterscheiden.“ (1.Korinther 14,29)
„Verachtet das prophetische Reden nicht. Prüft alles, behaltet das Gute.“ (1.Thessalonicher 5,20-21)
Bei so viel Freiheit in den Versammlungen zum Mitteilen von Worten, Lehren, Prophezeiungen, usw, konnte die Gefahr falscher Lehren und falscher Prophezeiungen auftauchen – sei es aus Unkenntnis, oder vorsätzlich von seiten falscher Brüder, um die Gläubigen vom Weg abzubringen. Deshalb sollten Lehren und Prophezeiungen nicht ohne weiteres akzeptiert werden. Jedes Glied war dafür verantwortlich, sein Unterscheidungsvermögen anzuwenden und das Gesagte zu „prüfen“. Die Ältesten übten zweifellos einen grösseren Teil dieser Verantwortung aus; aber die zitierten Verse richten sich an die gesamte Gemeinde.
Wenn also eine Gruppierung verlangt, das Wort eines „Pastors“, Lehrers, Propheten oder Predigers solle ohne nachzufragen akzeptiert werden, dann ist das keine neutestamentliche Gemeinde, denn sie beraubt ihre Mitglieder dieser Verantwortung des Prüfens und Unterscheidens. Falsche Lehren werden selten von „gewöhnlichen Mitgliedern“ erfunden. Ihre Urheber sind meistens Personen, die einen Ruf als Leiter, Prediger oder Theologen haben. Deshalb sind es gerade die Lehren der Leiter, die im Licht der Heiligen Schrift geprüft werden sollen.

„Seid gütig zueinander, barmherzig, vergebt einander …“ (Epheser 4,32)
„Ertragt einander [ständig] und vergebt einander, wenn jemand eine Klage hat gegen jemanden.“ (Kolosser 3,13)
Diese Stellen sprechen vom Umgang mit Konflikten zwischen Gliedern des Leibes Christi. Hier sehen wir wiederum, dass die Glieder der neutestamentlichen Gemeinde ihr tägliches Leben weitgehend miteinander teilten; denn das ist normalerweise der Ort, wo Konflikte entstehen, und das ist auch der Ort, wo sie gelöst werden sollen. Das „Einander vergeben“ ist also nicht ein „Ritual“, das man in einer besonderen Versammlung der Gemeinde durchführt (wie es in einigen Kreisen Brauch ist). Es ist etwas, was im täglichen Leben getan wird; und da, im täglichen Zusammenleben, muss sich zeigen, ob die Umkehr und die Vergebung echt waren.

„Ordnet euch einander unter in der Furcht Gottes.“ (Epheser 5,21)
„… und alle, einander untergeordnet, kleidet euch mit Demut…“ (1.Petrus 5,5)
Fast alle neutestamentlichen Stellen, die über Unterordnung sprechen, betonen im selben Zusammenhang, dass Unterordnung gegenseitig ist: Nicht nur soll sich die Frau dem Mann unterordnen oder die Jungen den Älteren, sondern alle „einander“. Das stimmt überein mit der Aussage Jesu, dass in seinem Reich die „Leiterschaft“ im wesentlichen Dienst ist. Also auch das „hierarchischste“ Konzept des Neuen Testamentes, die Unterordnung, muss im Zusammenhang des „Einander“ verstanden werden.

Damit der Leib Christi so funktioniert, wie es von Gott vorgesehen ist, müssen diese verschiedenen Aspekte der „Einander“-Beziehungen funktionieren. Wo das „Einander“ nicht funktioniert, wo alles sich auf einige wenige Personen konzentriert, da ist nicht neutestamentliche Gemeinde.
Praktizieren die Mitglieder deiner Gemeinde ständig diese verschiedenen Aspekte des „Einander“? Werden sie von den Leitern dazu ermutigt? Kannst du mindestens drei oder vier Personen ausserhalb deines Familienkreises nennen, mit denen du im täglichen Leben in einer nahen „Einander“-Beziehung
stehst?

Die neutestamentliche Gemeinde als „Leib Christi“ – Teil 3

8. Februar 2019

„Einander“

In den meisten neutestamentlichen Stellen, die das Zusammenwirken der Glieder am Leib Christi beschreiben, erscheinen die Worte „einander“, „gegenseitig“, oder ähnliche. Die Beziehungen zwischen den Gliedern sind gegenseitig: alle geben und erhalten gleichzeitig. Nur in sehr wenigen Stellen (die wir bei anderer Gelegenheit betrachten werden) erscheinen Beziehungen, die in irgendeiner Weise asymmetrisch oder „hierarchisch“ sind.

Viele heutige christliche Gruppierungen sind dagegen auf eine „besondere Person“ (oder auf einige wenige „besondere Personen“) ausgerichtet. Dort herrschen Beziehungen von „einem zu vielen“ und „vielen zu einem“ vor: Einer predigt vielen, und die vielen hören einem zu. Einer berät viele, und die vielen folgen den Ratschlägen dieses einen. Sie nehmen jene Art von Beziehungen am wichtigsten, die im Neuen Testament die geringste Bedeutung haben. So kann der Leib Christi nicht funktionieren, denn die meisten Glieder sind passiv, üben ihre Funktion nicht aus, und die meisten von ihnen wissen nicht einmal, was ihre Funktion im Leib ist.
Es gibt sogar Gruppierungen, wo die Leiter die Glieder davon abhalten oder ihnen gar verbieten, das „Einander“ zu praktizieren: Sie wollen nicht, dass die Mitglieder einander besuchen oder dass sie miteinander beten, ohne dass ein „Pastor“ zugegen ist; auch nicht, dass sie einander praktisch oder finanziell helfen. So verhindern sie, dass ihre Gruppierung als Leib Christi funktioniert.

In den Zusammenkünften der ersten Christen wirkten alle Mitglieder mit zur gegenseitigen Auferbauung. „Jeder hat …“ etwas, was er mit den anderen teilen kann (1.Korinther 14,26). Im Leib Christi gibt es keine Passivmitglieder. Die Zusammenkünfte in den Häusern waren der bevorzugte Ort, wo jeder seine besondere Funktion im Leib ausübte. Das war zugleich ihre Ausbildung zum Dienst jedes einzelnen in der Welt, wo sie vor Nachbarn, Verwandten, Arbeitskollegen, usw, mit ihren Worten und mit ihrem Leben ihren Glauben bezeugten.

Wir werden auch sehen, dass einige der biblischen „Einander“-Anweisungen nicht einmal im Rahmen von wöchentlichen (oder häufigeren) Zusammenkünften erfüllt werden können. Einige dieser Anweisungen wurden offenbar für Personen geschrieben, die ihr tägliches Leben miteinander teilen.

„Wir sind … Glieder voneinander.“ (Römer 12,5, Epheser 4,25)
Wir sind nicht nur Glieder Christi; ich bin auch ein Glied meines Bruders, und er ist eines meiner Glieder. – Andererseits erscheint im Neuen Testament nirgends der Ausdruck „Mitglied einer Gemeinde“. Ein neutestamentlicher Christ hat keine Beziehung der „Mitgliedschaft“ zu einer Institution, die sich „Kirche“ oder „Gemeinde“ nennt. Er hat aber eine persönliche Beziehung zu Christus, und er hat persönliche Beziehungen zu den anderen Gliedern des Leibes Christi.

„Liebt einander.“ (Johannes 13,34-35, 3.Mose 19,18, Römer12,10, 13,8-10, 1.Petrus 1,22, 1.Johannes 3,11.23, 2.Johannes 5, u.a.)
Das ist die Grundlage für alles andere, was wir für „einander“ tun können. Wenn der Beweggrund nicht die Liebe ist, dann erfüllen wir höchstens eine routinemässige Prozedur.
Zu lieben schliesst ein, einander persönlich zu kennen. Es ist kaum möglich, jemanden zu lieben, den wir nur ein- oder zweimal wöchentlich in einer formellen Versammlung treffen. Deshalb rief Jesus seine Jünger dazu, ihr ganzes Leben mit ihm und miteinander zu teilen. Nur so konnten sie einander wirklich kennenlernen und einander wirklich lieben – und auch zur Einsicht kommen, wie viel ihnen noch an Liebe fehlte.

„Und wenn ein Glied leidet, dann leiden alle Glieder mit ihm; und wenn ein Glied geehrt wird, dann freuen sich alle Glieder mit ihm.“ (1.Korinther 12,26)
„Freut euch mit den Freudigen, weint mit den Weinenden.“ (Römer 12,15)
Meinen Bruder zu lieben bedeutet auch, mit ihm mitzufühlen. Echte Liebe drückt sich darin aus, Freuden und Leiden miteinander zu teilen. Auch das ist fast unmöglich im Rahmen einer formellen Versammlung. Der Apostel spricht zu Menschen, die daran gewöhnt sind, ihr tägliches Leben miteinander zu teilen, zuhause, in der Gemeinschaft, und möglicherweise auch am Arbeitsplatz.

„Und vergesst nicht, Gutes zu tun und Gemeinschaft (koinonía) zu haben …“ (Hebräer 13,16)
„Was ihr übrig habt, soll ihren Mangel ausfüllen, damit auch das, was sie übrig haben, ausfüllt, was euch fehlt, damit ein Ausgleich stattfindet …“ (2.Korinther 8,14)
„Beherbergt einander ohne Murren.“ (1.Petrus 4,9)
(Siehe auch Galater 6,2, 1.Korinther 12,25)
In all diesen Stellen sehen wir, dass die Bruderliebe sich in praktischen Taten der Hilfe und Unterstützung zeigt. Jedes Glied am Leib Christi half seinen Glaubensgeschwistern, wie es das (normalerweise) auch mit seinen eigenen Geschwistern „nach dem Fleisch“ tun würde.

„… Legt die Lüge ab und sprecht die Wahrheit, jeder mit seinem Nächsten …“ (Epheser 4,25)
Damit die Gemeinschaft im Leib Christi funktioniert, müssen seine Glieder wahrhaftig und transparent miteinander umgehen. Wir haben in Apostelgeschichte 5 gesehen, wie Gott selber die Sünde der Lüge in der Urgemeinde aufs schwerste richtete.

„Bekennt einander eure Vergehen, und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.“ (Jakobus 5,16)
„…wenn jemand von einer Übertretung überrascht wird, sollt ihr, die Geistlichen, den Betreffenden wieder zurechtbringen in demütigem Geist…“ (Galater 6,1)
In der kirchlichen Tradition wurde die Anweisung in Jakobus 5,16 zum Sakrament der Beichte. Deshalb haben auch einige Evangelische noch die Idee, Sünden müssten vor einer speziellen Person bekannt werden, einem „Priester“ oder „Pastor“. Andere evangelische Gruppierungen dagegen haben das Sündenbekenntnis überhaupt abgeschafft. Beide Gruppen vergessen, dass im Neuen Testament die Sünden „einander“ bekannt werden. Wenn also mein Gewissen mit einer Sünde belastet ist und ich keinen Frieden mit Gott finde, dann kann ich irgendeinen Bruder suchen, dem ich vertraue, und ihm meine Sünde bekennen. Dann kann der Bruder für mich beten, und ich werde geheilt werden – geheilt von der Krankheit meines Gewissens, aber das kann auch die Heilung körperlicher Krankheiten einschliessen, wie der Zusammenhang nahelegt (Verse 14-15).
Etwas Ähnliches sehen wir in Galater 6,1; nur geht hier die Initiative nicht von dem aus, der gesündigt hat, sondern von anderen „geistlichen“ Geschwistern, die seine Sünde beobachteten und auf ihn zugehen, um ihm zu helfen, seine Beziehung zum Herrn in Ordnung zu bringen. (Natürlich handelt es sich hier nicht um „Geistliche“ im kirchlichen Sinn von „Pfarrern“. Im Leib Christi sollte wenn möglich jedes Glied „geistlich“ sein!)

Das sind einige der apostolischen Anweisungen über die „Einander“-Beziehungen. Es gibt noch mehr…