Auszug aus: John Taylor Gatto, „Underground History of American Education“, Kapitel 15.4.
John Taylor Gatto wurde mehrfach vom Staat New York als „Lehrer des Jahres“ ausgezeichnet. Dann verliess er unter Protest das Schulsystem und ist heute einer der bekanntesten Schulkritiker in den USA. Die folgenden Punkte sind auf seiner über 30-jährigen Erfahrung als Lehrer begründet.
Die Schule zerstört die menschlichen Fundamente auf mindestens acht wesentliche Arten, die so verborgen wirken, dass wenige Menschen sie wahrnehmen; und noch weniger können sich irgendeine andere Art vorstellen, wie Kinder aufwachsen sollten:
1) Die erste Lektion, die in der Schule gelehrt wird, ist Vergesslichkeit.
Kinder werden gezwungen zu vergessen, auf welche Weise sie einst selber wichtige Dinge wie Gehen und Sprechen gelernt haben. Das geschieht auf so angenehme und schmerzlose Weise, dass die meisten von uns darin übereinstimmen würden, dass die Primarschule jener Bereich der Schule ist, der die wenigsten Probleme hat. Und doch ist es gerade da, wo der Sprachbildung ein massiver Schaden zugefügt wird. (…) Würden wir Kinder dazu zwingen, auf dieselbe Weise das Gehen zu lernen, wie wir sie zum Lesenlernen zwingen, dann würden einige wenige gut gehen lernen, trotz unserer Methoden; die meisten würden gleichgültig und freudlos gehen; und einige der übrigen könnten sich überhaupt nie fortbewegen. Der Druck, die „Tagesbetreuung“ immer mehr zu verlängern und die schulfreie Zeit immer mehr einzuschränken, trägt zu der formellen Zwölfjahres-Sequenz bei, die eine äusserste Lenkbarkeit der Erstklässler sicherstellt.
2) Die zweite Lektion, die in der Schule gelehrt wird, ist Verwirrung.
Praktisch nichts von dem, was Schulen als grundlegenden Stoff auswählen, ist grundlegend. Alle Lehrinhalte sind den Normen untergeordnet, die von der Verhaltenspsychologie vorgeschrieben werden, und in einem geringeren Mass von Freudschen Rezepten, die mit Psychologie der „dritten Strömung“ (Carl Rogers, Abraham Maslow) zusammengebündelt werden. Keines dieser Systeme beschreibt die menschliche Realität angemessen. Aber da sie in den Mythologien der „sieben Schritte“ in Universität und Geschäftswelt angesiedelt sind, sind diese Systeme gefährlich immun gegenüber der Kritik des gesunden Menschenverstandes.
Keine der angeblich wissenschaftlichen Schulsequenzen lässt sich empirisch verteidigen. Es gibt keine Beweise dafür. Sie sind nicht mehr als Aberglaube, der schlau mit geliehenen Daten gekreuzt wurde. Die grundlegende Formel Pestalozzis z.B, „vom Einfachen zum Komplizierten“, ist ein Rezept für Katastrophen im Klassenzimmer, da keine zwei Gehirne denselben „einfachen“ Ausgangspunkt haben. Und in den fortgeschritteneren Klassen wissen die Kinder oft mehr als ihre Überwacher. Davon zeugen die jämmerlichen Ergebnisse der Computerausbildung an Staatsschulen, verglichen mit informellen Programmen des Selber-Entdeckens. Ganz ähnlich die endlosen Abfolgen von sogenannten „Themen“, vorgetragen von gutmeinenden Männern und Frauen, die aber nur oberflächliche Kenntnis der Dinge haben, von denen sie sprechen – das ist die Einführung, die die meisten Kinder erhalten in die lügnerische Welt des institutionellen Lebens. Unwissende Mentoren können keine wirklichen Bedeutungen handhaben, nur Daten. Auf diese Weise lehren Schulen die Trennung alles von allem.
3) Die dritte Lektion, die in der Schule gelehrt wird, ist, dass Kinder von Experten einer sozialen Klasse zugeteilt werden und in der Klasse bleiben müssen, der sie zugeteilt wurden.
Das ist eine ägyptische Perspektive, aber wir haben erst gerade angefangen zu entdecken, wie schlecht sie in Amerika hineinpasst. Die natürliche Mentalität der Vereinigten Staaten, wie sie in den ersten zwei Dritteln unserer Geschichte entdeckt und in Verträgen festgelegt wurde, ist jetzt radikal degradiert und über den Haufen geworfen worden. Die Schulbildung hat das Klassensystem wiederbelebt. Die amerikanischen Klassifikationen sind so starr geworden, dass unsere Gesellschaft einem Kastensystem gleicht, das unberechtigten Selbstwert lehrt, sowie dessen Gegenteil: Neid, Selbsthass und Kapitulation. In Klassensystemen teilt der Staat deinen Platz in einer Klasse zu, und wenn du weisst, was gut für dich ist, dann wirst du dich daran halten.
4) Die vierte Lektion, die in Schulen gelehrt wird, ist Gleichgültigkeit.
Mit Pausenglocken und anderen konzentrationsstörenden Technologien lehren Schulen, dass nichts es wert ist, zu Ende geführt zu werden, weil sowohl regelmässig wie unregelmässig irgendeine willkürliche Macht eingreift. Wenn nichts es wert ist, zu Ende geführt zu werden, dann ist auch nichts es wert, angefangen zu werden. Siehst du, wie das eine aus dem anderen folgt? Die Liebe zum Lernen kann diesen ständigen Drill nicht überleben. Schüler werden gelehrt, für kleine Gefälligkeiten zu arbeiten und für zeremonielle Noten, die nur sehr entfernt etwas mit ihren wirklichen Fähigkeiten zu tun haben. Indem Kinder nach äusserlicher Anerkennung und sinnlosen Belohnungen süchtig gemacht werden, machen die Schulen sie gleichgültig gegenüber der wirklichen Kraft und dem Potential, das in eigenen Entdeckungen liegt. Schulen entfremden sowohl die Gewinner wie die Verlierer.
5) Die fünfte Lektion, die in Schulen gelehrt wird, ist emotionelle Abhängigkeit.
Mit Hilfe von Sternchen, Abhaklisten, Lächeln, Stirnrunzeln, Auszeichnungen, Ehrungen und Schande, werden Kinder in der Schule zu einer lebenslangen emotionellen Abhängigkeit konditioniert. Es ist wie ein Hundetraining. Der Kreislauf von Belohnung und Strafe, der Tiertrainern seit alters bekannt ist, bildet den Kern einer psychologischen Schule, die im Leipzig des späten 19.Jahrhunderts entworfen wurde, und im frühen 20.Jahrhundert vollständig in die wissenschaftliche Managementsrevolution in Amerika integriert wurde. Ein halbes Jahrhundert später, um 1968, hatte diese Verhaltenspsychologie das ganze Schulsystem der Vereinigten Staaten infiziert; und bis zum Ende des Jahrhunderts derart durchgehend, dass wenige Menschen sich eine andere Form des Managements vorstellen können. Und es gibt tatsächlich keine bessere, wenn man das Ziel verfolgt, verwaltete Leben in einer verwalteten Wirtschaft und einem verwalteten Gesellschaftssystem zu bekommen.
Jeden Tag stellen die Schulen von neuem sicher, dass die Macht absolut und willkürlich ist, indem sie den Zugang zu grundlegenden Notwendigkeiten wie WCs, Wasser, Privatsphäre und Bewegungsfreiheit willkürlich gestatten bzw. verweigern. Auf diese Weise werden grundlegende Menschenrechte, die normalerweise nur den Willen der betroffenen Person erfordern, in Vorrechte verwandelt, die keineswegs garantiert sind.
6) Die sechste Lektion, die in Schulen gelehrt wird, ist intellektuelle Abhängigkeit.
Gute Menschen warten darauf, dass ein Lehrer ihnen sagt, was sie tun sollen. Gute Menschen tun es auf die Weise, wie der Lehrer es getan haben will. Gute Lehrer warten ihrerseits darauf, dass der Lehrplanaufseher oder das Schulbuch ihnen sagt, was sie tun sollen. Schuldirektoren werden danach beurteilt, ob sie fähig sind, diese Menschengruppen den Erwartungen anzupassen; Schulaufsichtsbehörden danach, ob sie fähig sind, die Schuldirektoren anzupassen; und staatliche Erziehungsdepartemente werden danach beurteilt, ob sie fähig sind, das Denken der Schulaufseher zu lenken gemäss Anweisungen, die von Stiftungen, Universitäten und Politikern kommen, die sensibel sind für die ruhig ausgedrückten Wünsche mächtiger Konzerne und anderer Interessen.
Bei all ihrer schwerfälligen Ausführung ist die Schule ein Musterbeispiel dafür, wie der bürokratische Dienstweg funktionieren soll. Wenn das Ding einmal läuft, kann praktisch niemand seine Richtung ändern, ausser er versteht den komplizierten Code, der es zum Laufen bringt – ein Code, der sich ständig selber weiter verkompliziert, um die menschliche Kontrolle zu verunmöglichen. Die sechste Lektion der Verschulung lehrt, dass Experten alle wichtigen Entscheidungen treffen; aber dass es sinnlos ist, beim nächstliegenden Experten zu protestieren, weil er ebenso hilflos ist wie du bei dem Versuch, das System zu ändern.
7) Die siebente Lektion, die in der Schule gelehrt wird, ist vorläufiger Selbstwert.
Der Selbstwert von Kindern muss von der Beurteilung von Experten abhängig gemacht werden, mittels Ritualen von Zahlenmagie. Der Selbstwert darf nicht von sich aus generiert werden, wie es bei Benjamin Franklin, den Brüdern Wright, Thomas Edison oder Henry Ford der Fall war. Die Rolle von Noten, Zeugnissen, Prüfungen, Auszeichnungen, Stipendien und anderen Belohnungen im Laufe dieses Prozesses ist so offensichtlich, dass sie nicht weiter ausgeführt werden muss. Zusätzlich ist es die tägliche Begegnung mit Hunderten von verbalen und nonverbalen Beurteilungen von seiten der Lehrer, die den Selbstzweifel am effektivsten fördert.
8) Die letzte Lektion, die in der Schule gelehrt wird, nenne ich den Glashauseffekt: Du wirst gelehrt, dass jeder Widerstand zwecklos ist, weil du ständig beobachtet wirst.
Es gibt keinen Ort, wo man sich verstecken könnte. Du solltest das auch nicht wünschen. Dein Ausweichverhalten ist ein Zeichen, dass du noch genauer beobachtet werden sollst als die anderen. Privatsphäre ist ein Gedankenverbrechen. Die Schule sorgt dafür, dass es keine private Zeit und keinen Privatraum gibt, keine unbeaufsichtigte Minute, keinen Arbeitstisch, der nicht durchsucht würde, keine Schramme, die nicht von der medizinischen Kontrolle oder vom beratenden Arm der Gedankenpatrouillen untersucht würde.
Die sensibelsten Kinder, die ich jeweils in der Klasse hatte, verstanden in gewissem Mass, was wirklich vorging. Aber wir würgten den verräterischen Atem in ihnen ab, bis sie anerkannten, dass ihre Zukunft von uns abhing. Hartnäckige Fälle wurden an Umerziehungsanstalten überwiesen, wo sie in lenkbare Zyniker verwandelt wurden.