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Die neutestamentliche Gemeinde in Matthäus 23 (3.Teil)

3. Dezember 2016

In der neutestamentlichen Gemeinde wird „Leiterschaft“ durch Dienst ersetzt.

Das sehen wir in Vers 12 unseres Kapitels Matthäus 23:

„Aber der grösste von euch sei euer Diener. Und jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und jeder, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“

Wir können mehrere Parallelstellen zitieren:

„Ihr wisst, dass die Machthaber der Völker über sie herrschen, und die Grossen missbrauchen ihre Macht über sie. Unter euch soll es nicht so sein; sondern wer unter euch gross sein will, der sei euer Diener, und wer unter euch wichtiger sein will, sei euer Sklave; wie auch der Menschensohn nicht gekommen ist, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld zu geben für viele.“ (Matthäus 20,25-28)

„Die Könige der Völker knechten sie, und die über sie herrschen, lassen sich Wohltäter nennen. Aber ihr sollt nicht so sein; sondern der Grösste unter euch soll werden wie der Jüngste, und der Leitende wie der Dienende. Denn wer ist wichtiger, der am Tisch sitzt oder der bedient? Nicht der, der am Tisch sitzt? Aber ich bin mitten unter euch wie der, der bedient.“ (Lukas 22,25-27)

„Ihr nennt mich ‚Meister‘ und ‚Herr‘, und das sagt ihr gut; denn ich bin es. Wenn also ich, der Herr und Meister, eure Füsse gewaschen habe, dann sollt auch ihr einander die Füsse waschen; denn ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit auch ihr so tut, wie ich euch getan habe.“ (Johannes 13,13-15)

Ein „Leiter“ in der neutestamentlichen Gemeinde hat keine Privilegien. Jesus beanspruchte keine Privilegien vor seinen Jüngern und behandelte sie auch nicht autoritär. Sie anerkannten ihn als ihren Meister, weil sie in ihm eine echte Weisheit, Geistlichkeit und Autorität sahen, die sich in seinen Worten und in seinem Beispiel manifestierte. Deshalb war er es würdig, dass sie ihm nachfolgten. Und deshalb konnte er seinen Jüngern dienen, ohne seine Autorität zu verlieren.
Das ist das Beispiel, das Jesus allen Leitern unter seinen Jüngern nach ihm hinterliess. Ein echter christlicher Leiter sucht nicht ein „Amt“, eine „höhere Stellung“, oder Privilegien. Er knechtet seine Glaubensgeschwister nicht. Im Gegenteil, er übt seine Verantwortung zum Wohlergehen seiner Glaubensgeschwister aus. Ein echter christlicher Leiter wird immer ein Beispiel dieser Haltung geben, die auch im Herrn selber war: „Wir sollen (…) nicht uns selber zu Gefallen leben. Jeder von uns lebe dem andern zu Gefallen, indem er das Gute tut und ihn auferbaut. Denn auch der Christus hat nicht sich selber zu Gefallen gelebt …“ (Römer 15,1-3)

Aus der nichtchristlichen Welt sind wir es gewohnt, dass „Leiterschaft“ gleichbedeutend ist mit „herrschen“ oder „andere knechten“. Deshalb musste Jesus sehr klar sagen, dass in seinem Reich die Dinge anders sind. Ja, es gibt eine Vielfalt von Gaben und Funktionen in der Gemeinde (Römer 12,4-5, 1.Korinther 12,4-6); und einige dieser Funktionen schliessen das ein, was wir gemeinhin „Leiterschaft“ nennen. Aber in der christlichen Gemeinde begründet diese Vielfalt der Funktionen keine hierarchische Struktur und keine Unterscheidung zwischen „Geistlichen“ und „Laien“ (Siehe die vorhergehenden Betrachtungen.) Wer eine „Leiterschaftsfunktion“ innehat, steht deswegen nicht „über“ seinen Glaubensgeschwistern.

Es ist interessant zu beobachten, wie sorgfältig sich die Schreiber des Neuen Testaments in dieser Hinsicht ausdrücken: In einem weltlichen Kontext haben sie kein Problem zu sagen, ein Leiter sei „über“ anderen. Aber sie gebrauchen dieses Wort „über“ nicht, wenn sie sich auf einen christlichen Leiter beziehen. Betrachten wir nochmals genau Matthäus 20,25-27: „… die Grossen missbrauchen ihre Macht über sie. Unter euch soll es nicht so sein; sondern wer unter euch gross sein will, (…) und wer unter euch wichtiger sein will …“

In vielen gegenwärtigen Kirchen ist „Leiterschaft“ zu einer Machtposition geworden, verbunden mit viel Einfluss und manchmal auch finanziellem Gewinn. Infolgedessen fühlen sich jene Personen zu diesen Positionen hingezogen, die genau das suchen: Macht, Einfluss, und Reichtum. Das heisst, die Leiterschaftsstellungen werden allmählich von den ungeistlichsten Menschen eingenommen; von jenen, die in Bibelstellen wie den folgenden beschrieben werden:
„… Menschen mit verdorbenem Sinn, die die Wahrheit nicht haben, die fälschlich denken, die Gottesfurcht sei ein Mittel, Geld zu gewinnen …“ (1.Timotheus 6,5)
„… Feinde des Kreuzes Christi, deren Bestimmung das Verderben ist, deren Gott der Bauch ist, und deren Ehre in ihre Schande ist; die [nur] an das Irdische denken.“ (Philipper 3,18-19)
(Über die falschen Apostel): „… wenn jemand euch knechtet, wenn jemand euch aufzehrt, wenn jemand das Eure nimmt, wenn jemand sich selbst erhöht, wenn euch jemand ins Gesicht schlägt.“ (2.Korinther 11,20)
„… der es liebt, der Erste von ihnen zu sein, Diotrephes, nimmt uns nicht auf. (…) und nicht zufrieden damit, nimmt er auch die Brüder nicht auf; und jene, die [sie aufnehmen] wollen, hindert er daran und schliesst sie aus der Versammlung aus.“ (3.Johannes 9-10)

So entstehen Kirchen, die dem Anschein nach aufblühen, aber in geistlichem Elend leben; die voll von Habsucht, Intrigen, Lügen, Betrug, und weltlichem Ehrgeiz sind. Wo solche Dinge zu beobachten sind, und die Versammlung ergreift keine Massnahmen, um diese schlechten Leiter zu korrigieren und sie durch echte geistliche Leiter zu ersetzen, da können wir wissen, dass es sich nicht um neutestamentliche Gemeinde handelt.

Die Situation ist ganz anders an Orten wie China, wo die echte Gemeinde unter ständiger Bedrohung lebt. In China muss ein Gemeindeleiter damit rechnen, in Armut zu leben, und er geht ein erhöhtes Risiko ein, Verfolgung und Tod zu erleiden. Einige der wichtigsten christlichen Leiter in China können nicht einmal einer Gemeinde vorstehen, weil sie sich versteckt halten müssen; ihr ganzer Dienst besteht aus Fasten und Gebet, und Beratung anderer Leiter, die aktiv das Evangelium verkünden.
Dieselbe Situation – oder sogar noch schlimmer – besteht in vielen islamischen Ländern.
In solchen Umständen ist es viel wahrscheinlicher, dass tatsächlich die geistlicheren Christen Leiterschaft anstreben. Sie werden auf dieser Erde nicht belohnt werden dafür; deshalb wird ihre Belohnung vom Herrn umso grösser sein.

Es wäre traurig, wenn die Gemeinde nur in Verfolgungszeiten geistlich aufblühen könnte. Aber in Zeiten der Freiheit könnten wir zumindest die Leiter nach diesem Kriterium prüfen: Wäre diese Person auch unter den Umständen der chinesischen Gemeinde ein Leiter? Ist er in Leiterschaft, weil er dienen will, oder weil er herrschen will?

Die neutestamentliche Gemeinde in Matthäus 23 (2.Teil)

17. November 2016

„Aber ihr sollt euch nicht ‚Rabbi‘ nennen lassen; denn einer ist euer Meister, der Christus; und ihr alle seid Brüder. Und nennt niemanden auf Erden euren Vater, denn einer ist euer Vater, der in den Himmeln ist. Lasst euch auch nicht Meister(Lehrer) nennen, denn einer ist euer Meister, der Christus.“

Die neutestamentliche Gemeinde unterscheidet nicht zwischen „Geistlichen“ und „Laien“.

In der Ordnung des Alten Testaments war das Priestertum sehr wichtig. Ein Priester ist ein Mittler zwischen Gott un den Menschen: Er steht vor Gott, um die Opfer des Volkes darzubringen, und um für das Volk Fürbitte zu leisten. Und er steht vor dem Volk, um ihm die Worte Gottes zu überbringen.
Aber interessanterweise finden wir auch im Alten Testament, dass dies nicht die ursprüngliche Absicht Gottes war: „Wenn ihr nun auf meine Stimme hört, und meinen Bund hält, dann werdet ihr mein besonderes Eigentumsvolk unter allen Völkern sein; denn mir gehört die ganze Erde. Und ihr werdet für mich ein Königreich von Priestern sein, und ein heiliges Volk …“ (2.Mose 19,5-6) Nach der ursprünglichen Absicht Gottes sollten also alle Israeliten Priester sein. Sie alle sollten direkten Zugang zu Gott haben. Aber sie hielten es nicht aus, dass Gott direkt zu ihnen sprach: „Das ganze Volk beobachtete das Donnergetöse und die Blitze, und den Lärm der Trompete, und den Berg, der rauchte; und als das Volk es sah, zitterten sie, und stellten sich in weiter Entfernung auf. Und sie sagten zu Mose: Sprich du zu uns, und wir werden auf dich hören; aber Gott soll nicht mehr zu uns sprechen, damit wir nicht sterben.“ (2.Mose 20,18-19). So wurde die Figur des Mittlers eingeführt, auf Verlangen des Volkes. Und infolgedessen richtete Gott das israelitische Priestertum ein (2.Mose 28).

Aber im Neuen Testament kehrte Gott zu seiner ursprünglichen Absicht zurück. Der Hebräerbrief stellt klar heraus, dass das alttestamentliche Priestertum durch das vollkommene Opfer Jesu abgeschafft wurde:

„Wenn es also durch das levitische Priestertum Vollkommenheit gegeben hätte (…), wozu hätte dann noch ein anderer Priester nach der Ordnung Melchisedeks aufstehen müssen, und nicht nach der Ordnung Aarons? Denn wenn das Priestertum wechselt, wechselt notwendigerweise auch das Gesetz. Denn der, von dem dieses gesagt wird, war von einem anderen Stamm, von dem niemand am Altar gedient hatte. (…) Denn das frühere Gebot wurde ungültig gemacht wegen seiner Schwäche und Nutzlosigkeit – denn das Gesetz hat nichts vollkommen gemacht -, und es wurde eine bessere Hoffnung eingeführt, durch die wir uns Gott nähern. (…) Jesus wurde zum Bürge eines besseren Bundes gemacht. Und jene Priester waren viele, weil der Tod sie daran hinderte, zu bleiben; aber dieser bleibt für ewig und hat deshalb ein unwandelbares Priestertum. Deshalb kann er auch jene vollständig retten, die sich durch ihn Gott nähern, weil er ewig lebt, um für sie zu flehen. Denn ein solcher Hoherpriester gebührte uns: heilig, ohne Bosheit, ohne Verunreinigung, abgesondert von den Sündern, und höher erhoben als die Himmel, der es nicht nötig hat wie die Hohenpriester, täglich zuerst Opfer für seine eigenen Sünden darzubringen und dann für die des Volkes; denn er tat dies ein für allemal, indem er sich selber opferte.“ (Hebräer 7,11-13.18-19.22-27)

Ein wiederkehrendes Thema im Hebräerbrief ist der direkte Zugang zu Gott.

(Da wir Jesus als Hohepriester haben,) „lasst uns also mit Freimut zum Gnadenthron hinzutreten, damit wir Barmherzigkeit erhalten und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe.“ (Hebräer 4,16)

„Da wir Freimut haben, ihr Brüder, ins Allerheiligste einzutreten durch das Blut Jesu, das er geweiht hat als einen neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das heisst sein Fleisch; und einen grossen Priester über das Heim Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in Fülle des Glaubens, das Herz besprengt [zur Reinigung] von einem bösen Gewissen, und den Körper gewaschen mit reinem Wasser.“ (Hebräer 10:19-22)

Die „Hebräer“, die noch unter der Ordnung des Alten Bundes aufgewachsen waren, müssen sich des grossen Vorrechts sehr wohl bewusst gewesen sein, das ihnen zuteil wurde, als Jesus das vollkommene Opfer darbrachte, das alle anderen Opfer unnötig machte. Sie waren von keinem irdischen Priester mehr abhängig, um sich Gott nähern zu dürfen! Das Opfer Jesu, und das Priestertum Jesu, waren ein für allemal genügend!

Deshalb sagt auch Paulus in 1.Timotheus 2,5:

„Denn Gott ist ein einziger, und ein einziger ist Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus …“

In der neutestamentlichen Gemeinde gibt es kein besonderes Priestertum mehr. Ein Christ braucht keine Vermittlung eines anderen Christen, um sich Gott nähern zu können. Das einzige Priestertum Jesu genügt vollkommen!

Es gibt einige neutestamentliche Stellen, wo die Christen „Priester“ genannt werden. Aber diese Stellen gebrauchen das Wort „Priester“ im Sinne der ursprünglichen Absicht Gottes: Alle Christen sind „Priester“ in dem Sinne, dass sie direkten Zugang zu Gott haben. In der Ordnung des Neuen Bundes gibt es keine Christen, die „priesterlicher“ wären als andere. Das heisst, es gibt keine „Geistlichen“ oder „Kleriker“, die eine Klasse von „besonderen“ Christen bilden würden, unterschieden von den „Laien“.

Was es gibt, sind die unterschiedlichen Funktionen der Christen. Aber so wie diese Vielfalt der Funktionen keine hierarchische Struktur begründet, so bergründet sie ebensowenig eine Unterscheidung zwischen „Geistlichen“ und „Laien“. Jedes Glied am „Leib Christi“ hat eine Funktion; und in den Schriftstellen, die darüber sprechen, finden wir keine Unterscheidung zwischen „geistlichen“ und „laizistischen“ Funktionen.

Die neutestamentliche Gemeinde in Matthäus 23 (Teil 1)

3. November 2016

In einer Reihe früherer Betrachtungen haben wir die Worte des Herrn in Matthäus 18 über die Gemeinde untersucht. Ich möchte mich nun einer anderen Schriftstelle zuwenden:

„Aber ihr sollt euch nicht ‚Rabbi‘ nennen lassen; denn einer ist euer Meister, der Christus; und ihr alle seid Brüder. Und nennt niemanden auf Erden euren Vater, denn einer ist euer Vater, der in den Himmeln ist. Lasst euch auch nicht Meister(Lehrer) nennen, denn einer ist euer Meister, der Christus. Aber der grösste von euch sei euer Diener. Und jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und jeder, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Matthäus 23,8-12)

Es lohnt sich, das ganze Kapitel zu lesen, denn es ist eines, über das in den heutigen Kirchen kaum je gepredigt wird!

In diesem Abschnitt kommt zwar das Wort „Gemeinde“ nicht vor; aber er sagt uns einige wesentliche Dinge über die Beziehungen zwischen ihren Gliedern.

Die neutestamentliche Gemeinde ist keine Hierarchie.

„Ihr alle seid Brüder.“ Mit diesen Worten (Zusammenhang beachten!) stellte Jesus alle seine Nachfolger auf dieselbe Stufe. Es sollte unter ihnen keine „Meister“ über „Schülern“ geben, keine „Väter“ über „Söhnen“. Es gibt nur Einen, der über die Gemeinde herrscht: Jesus selber.

Wir dürfen diese Stelle nicht so spitzfindig auslegen, als ob Jesus hier nur den Gebrauch der drei Titel „Rabbi“, „Vater“ und „Meister“ verboten hätte. Tun wir etwa besser, wenn wir stattdessen die Titel „Pfarrer“, „Pastor“, oder vielleicht „Professor“ oder „Doktor“ benützen? – Lesen wir den Zusammenhang. Jesus spricht hier gegen jede besondere Behandlung, die jemand seines „höheren Ranges“ wegen beansprucht oder erhält. Als Beispiel erwähnt er die Schriftgelehrten (Rabbiner, Theologen) seiner Zeit: „… und sie lieben die Ehrenplätze bei den Banketten und in den Synagogen, und die Begrüssungen auf den Plätzen, und dass die Menschen sie ‚Rabbi, Rabbi‘ nennen.“ (Verse 6-7) Die Parallelstellen Markus 12,38 und Lukas 20,46 erwähnen ausserdem, dass sie „gerne in feinen Kleidern umhergehen.“ All dies sind typische Attribute einer Person, die eine gewisse hierarchische Position innehat; und wir können dieselben Attribute bei den Leitern vieler heutiger Kirchen beobachten:

  • Sie tragen besondere Kleidung.
  • Sie werden besonders respektvoll begrüsst.
  • Sie tragen einen besonderen Titel.
  • Bei Anlässen haben sie herausgehobene (Sitz-)Plätze inne.

Nach den Worten Jesu hat nichts von dem Platz in der neutestamentlichen Gemeinde!

Es ist immer gut nachzuforschen, an wen sich eine bestimmte Bibelstelle richtet. Matthäus 23,1: „Dann sprach Jesus zu der Volksmenge und zu seinen Jüngern (den zukünftigen Aposteln): …“ Damit ist klar, dass es nach der Absicht Jesu auch keine hierarchischen Unterschiede zwischen den Aposteln und den „gewöhnlichen Christen“ geben sollte.

Und die Apostel hielten sich daran! Wenn wir die Apostelgeschichte und die apostolischen Briefe lesen, finden wir nirgends, dass jemand das Wort „Apostel“ als einen Ehrentitel gebraucht hätte, wenn er einen Apostel ansprach. Nirgends lesen wir, dass sich die Apostel durch besondere Kleidung oder besondere Sitzplätze ausgezeichnet hätten, oder dass sie irgendein anderes besonderes Vorrecht von seiten anderer Christen eingefordert oder erhalten hätten.

Es ist richtig, dass die Apostel eine besondere Funktion in der Gemeinde erfüllten. Wir müssen verstehen, dass jeder Christ seine besondere „Funktion“ im „Leib Christi“ hat. (Siehe Römer 12,3-8, 1.Korinther 12,4-31). Aber diese Verschiedenheit der Funktionen begründet keine hierarchische Rangordnung. (Die Unterscheidung zwischen „Funktion“ und „Rang“ ist schwierig zu verstehen in der heutigen Zeit, wo wir daran gewöhnt sind, dass jede Institution hierarchisch funktioniert. So Gott will, werde ich in zukünftigen Betrachtungen auf diesen Punkt zurückkommen.) – Und die Apostel erfreuten sich eines besonderen Respekts in den Gemeinden – aber nicht, weil sie eine bestimmte „hierarchische Position“ innegehabt hätten, sondern wegen ihrer geistlichen Reife, ihrer Nähe zu Jesus, und ihrer besonderen Eigenschaft als Zeugen der Auferstehung.

Die Tendenz zu einer hierarchischen Organisation der Gemeinden begann allmählich im Lauf des zweiten Jahrhunderts, nach dem Tod der Apostel, und war die Erfüllung von Paulus‘ Warnung in Apostelgeschichte 20,29-32. Aber diese Tendenz konnte sich nicht vollständig durchsetzen, solange die christliche Gemeinde eine machtlose Minderheit in der Welt war. Die grosse Veränderung geschah erst dreihundert Jahre nach den Anfängen der Gemeinde, zur Zeit der Kaiser Konstantin und Theodosius. Konstantin tat den ersten Schritt, indem der das Christentum als „erlaubte Religion“ im Römischen Reich offiziell anerkannte. Damit hörten die Verfolgungen auf, und Konstantin gewann die Sympathie vieler Christen. Dann wagte er es, in innerkirchliche Angelegenheiten einzugreifen: Es war Konstantin, der das berühmte Konzil von Nicäa (325) einberief, und er war es, der das Konzil entscheidend beeinflusste, das Nicänische Glaubensbekenntnis zu unterschreiben.

Heute feiern viele Historiker dieses Konzil als einen Sieg der biblischen Lehre über die Irrlehre des Arianismus. Aber Konstantin interessierte sich kaum für diese Lehrfrage. Sein einziges Interesse lag darin, die Einheit des Reiches zu bewahren; und zu diesem Zweck musste er erreichen, dass eine der streitenden Parteien einen vollständigen Sieg über die andere errang. So masste er sich eine kirchliche Funktion an, die ihm nicht zukam. (Tatsächlich war Nicäa nur ein vorübergehender „Sieg“. Kurz danach errang der Arianismus mehr Einfluss als je zuvor.)
Aber Konstantin ist nicht der einzige, der hier getadelt werden muss. Warum beschlossen die Kirchenführer nicht, die Angelegenheit unter sich zu regeln? Warum erlaubten sie Konstantin, über innere Angelegenheiten der Kirche zu entscheiden? Hatte die damalige Kirche bereits ihr geistliches Unterscheidungsvermögen verloren? und gab es auch dort „keinen Weisen, der unter seinen Brüdern hätte Recht sprechen können“?

Wie dem auch immer sei, mit Konstantin begann die Verstaatlichung der Kirche. Theodosius führte diesen Prozess zu Ende, indem er das Christentum zur obligatorischen Staatsreligion des Römischen Reiches erklärte. Wir können uns leicht die Folgen dieses Erlasses vorstellen. Die Kirchen füllten sich mit falschen Christen!
Zu jener selben Zeit wurde die Kirche neu strukturiert nach dem Vorbild der weltlichen Verwaltung. D.h. die Kirche nahm dieselben hierarchischen Strukturen an und dieselben geographischen Einteilungen, welche die römischen Kaiser zur Verwaltung ihres Reiches benützten. Diese Veränderung beunruhigte kaum noch jemanden, da die Kirche bereits daran gewöhnt war, sich mit dem Staat zu vermischen; und die echten Christen waren zu jener Zeit bereits eine kleine Minderheit in der Kirche. So kam es, dass die Kirche römisch wurde.

Die hierarchische Struktur, die wir im römischen Katholizismus sehen, und die auch von den meisten evangelischen und evangelikalen Kirchen mit nur geringfügigen Änderungen übernommen wurde, beruht also nicht auf dem Neuen Testament. Sie ist ein Erbe der weltlichen Regierung Roms.