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Die Gemeinde in der Endzeit: „Babylon die Grosse“ – Teil 2

4. Juni 2020

In der vorherigen Betrachtung untersuchten wir einige Kennzeichen der „grossen Hure Babylon“, die in Offenbarung 17 und 18 beschrieben wird. Fahren wir mit diesem Thema fort:

Die Hure reitet auf dem Tier.

Johannes sah die Hure „sitzend auf einem scharlachroten Tier, voll von lästerlichen Namen, das sieben Köpfe und zehn Hörner hat“ (Offenbarung 17,3). Offenbar handelt es sich um dasselbe Tier wie im Kapitel 13. Die Hure hat also Macht über das Tier.

Tatsächlich waren während des grössten Teils des Mittelalters die Könige und Kaiser Europas Untertanen der römischen Kirche. Der wahre Herrscher Europas war der Papst.

Die römische Kirche befahl auch die Verfolgung jener, die sie als „Häretiker“ betrachtete – darunter viele wahre Christen, die zu einem biblischen Glauben zurückkehren wollten. So erfüllte es sich, dass die Hure „betrunken ist vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu“ (17,6).

Einige Verteidiger der Inquisition sagen, die Kirche hätte keine Schuld, die Kirche hätte niemanden getötet, das hätten die staatlichen Autoritäten getan. Tatsächlich haben die Kirchenleiter (fast) niemanden eigenhändig umgebracht. Sie haben die Könige und die Henker dieser Welt mit dieser schmutzigen Arbeit beauftragt. Genau das bedeutet es, dass die Hure auf dem Tier sitzt: Sie verführt die Könige, die Richter und die Unternehmer dieser Erde, ihren Willen zu tun. (Siehe Offenbarung 17,2; 18,3.)

Das hörte auch mit der Reformation nicht auf. Auch die reformierten Kirchen benutzten die Macht des Staates, um „Dissidenten“ wie Täufer, Puritaner oder Quäker zu verfolgen und zu töten.

Die ansteckende „Tiernatur“

Wegen ihrer engen Verbindung zum „Tier“ wird auch die Hure von der tierischen Natur angesteckt. Diese besteht, wie wir in einer früheren Betrachtung sahen, aus einer Institutionalisierung und Entpersönlichung. Was das für die christlichen Gemeinden bedeutet, habe ich hier eingehend beschrieben.

Das Tier vernichtet die Hure.

„Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, und das Tier, diese werden die Hure hassen, und sie werden sie verwüsten und nackt ausziehen, und ihr Fleisch fressen, und sie mit Feuer verbrennen.“ (Offenbarung 17,16)

Die Hure kann das Tier nicht für immer unter Kontrolle halten. Dieses erhebt sich gegen die Hure und vernichtet sie. Historisch können wir den Anfang dieses Vorgangs in der Französischen Revolution sehen. Das war nicht nur eine Revolution der Bürger gegen den Adel; es war auch eine Revolution des Atheismus gegen die Macht der römischen Kirche. – Die orthodoxe Kirche Osteuropas erlebte eine ähnliche Geschichte mit der russischen Revolution von 1917.
Einen weiteren Meilenstein in der Entmachtung der Hure haben wir in diesem Jahr 2020 mit unseren eigenen Augen gesehen. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden praktisch weltweit alle religiösen Versammlungen verboten. Während früher die Kirchen auch in Kriegs- und Krisenzeiten als wesentliche Dienste angesehen wurden und offiziellen Schutz genossen, so gelten sie jetzt anscheinend nur noch als Infektionsherde. Von da an werden sich die Endzeitereignisse wahrscheinlich im Eiltempo abwickeln.

Wie bei anderen Ereignissen in der Offenbarung können wir auch hier nicht ein einzelnes Ereignis herauspicken und sagen: „Hier hat es sich erfüllt.“ Die Offenbarung beschreibt den geistlichen Hintergrund der Weltgeschichte, und ein wichtiger Teil davon ist der Machtkampf zwischen der Hure und dem Tier. Dieser Machtkampf manifestiert sich in verschiedenen historischen Ereignissen, und wird sicher noch weitergehen.

Während die Hure auf dem Tier sitzt, leiden die wahren Christen. Sie wissen, dass sie in einem antichristlichen System leben, wo weder der Staat noch die offizielle Kirche viel Rücksicht auf sie nehmen werden. Wenn das Tier gegen die Hure zu kämpfen beginnt, haben sie vorläufig Erleichterung, aber sie werden auch verwirrt. Sie können versucht sein, ohne weiteres Überlegen in dem Kampf Partei zu ergreifen. Zum Beispiel kann der Kampf die Form einer Auseinandersetzung zwischen „traditionellen Werten“ und „progressiven Werten“ annehmen. Einige Christen können die Gefahr sehen, die von der Hure ausgeht, und deshalb gemeinsame Sache machen mit jenen, die eine Säkularisierung der Gesellschaft fordern und eine stärkere Kontrolle des Staates über die Religionsgemeinschaften. Andere dagegen können die Gefahr von seiten des Tiers sehen, und sich deshalb jenen anschliessen, die grössere politische Macht für die Religionsgemeinschaften suchen, und „traditionelle Werte“ durchsetzen wollen (Gesetze zum Schutz der Ehe; obligatorischer Religionsunterricht in den Staatsschulen; staatliche Unterstützung an Kirchen; usw.) So könnte der Konflikt sogar zu Spaltungen unter den echten Christen führen.
Das Wort Gottes sagt nicht, wir sollten in diesem Konflikt Partei ergreifen. Der Konflikt ist notwendig, aber er betrifft die wahre Gemeinde Jesu nicht.

Die Braut und die Hure

Die hier wiedergegebene Auslegung entspricht weitgehend der bevorzugten Auslegung der Reformierten und Evangelikalen seit dem 16.Jahrhundert bis weit ins 20.Jahrhundert. Während jener ganzen Epoche hatten die Vertreter eines biblischen Glaubens kein Problem damit, den „Antichristen“ und die „Hure“ ihrer jeweiligen Zeit zu identifizieren. Erst während den letzten Jahrzehnten hatten moderne Theologen und die ökumenische Bewegung Erfolg mit ihren Bemühungen, diese Auslegung in Verruf zu bringen. Gleichzeitig entfernen sich die reformierten und evangelikalen Kirchen immer weiter von ihren einstigen biblischen Grundlagen. Es ist kein Zufall, dass diese beiden Prozesse parallel stattfinden: In dem Mass, wie die Kirchen zur Hure werden, weigern sie sich, die Hure als solche zu identifizieren.

Die Trennlinie zwischen wahrer Gemeinde und Hure verläuft nicht entlang der konfessionellen Grenzen. Es wäre allzu einfach zu sagen: „Hier sind die Konfessionen bzw. Denominationen, welche die wahre Gemeinde verkörpern, und dort sind jene, die zur Hure gehören.“ Wenn Paulus zu seiner Zeit in der Gemeinde von Korinth bereits Tendenzen diagnostizierte, zur Hure zu werden (2.Korinther 11,2-3), wie viel mehr muss das von den gegenwärtigen Kirchen gesagt werden!
[Siehe dazu auch: „Falsche Leiter und falsche Gemeinde“ [LINK future]]

Die Warnung in 2.Korinther 11 bezieht sich darauf, dass die Korinther es vorzogen, Menschen als Leitern zu folgen, statt eine direkte Beziehung zu Jesus zu pflegen. Diese Tendenz erscheint bereits im ersten Brief (1.Korinther 1,11-13; 3,1-11), und das ist die Wurzel jeder Denominationsbildung. Der Prozess, zur Hure zu werden, beginnt nicht erst mit der Verkündung falscher Lehren oder mit der Einführung heidnischer Praktiken. Er beginnt bereits, wenn eine Gemeinde (oder einige ihrer Mitglieder und Leiter) sich mit einer „Denomination“ oder einer Hierarchie von Leitern identifizieren, statt ihre Identität in einer direkten persönlichen Beziehung zu Jesus zu suchen.

Es gibt Anzeichen dafür, dass gegenwärtig fast alle institutionalisierten Kirchen und Denominationen in diesem Prozess schon ziemlich weit fortgeschritten sind. Es ist ein langsamer, fast unmerklicher Prozess, der sowohl auf institutioneller wie auf persönlicher Ebene vor sich geht. Auf institutioneller Ebene werden allmählich die Praktiken, die Lehren und die offiziellen Verlautbarungen der Leiter verändert. Auf persönlicher Ebene verlagern die einzelnen Mitglieder allmählich ihre Loyalität von der Person Jesu zu ihren Leitern oder zur „Institution Kirche“.
Vielleicht wird es einfacher, diesen Prozess in der Gegenwart zu sehen, wenn wir ihn im „Zeitraffer“ nachzeichnen. Nehmen wir als Illustration die Entwicklung der römischen Kirche von ihren Anfängen bis zum mittelalterlichen Papsttum:

Am Anfang sehen wir eine Gemeinschaft von Nachfolgern Jesu, gegründet auf der Lehre der Apostel, treu zu Jesus und zum wahren Evangelium, wie es der Römerbrief bezeugt. Aber im 2. und 3.Jahrhundert beginnt sich diese Gemeinschaft mehr um die Person des örtlichen „Bischofs“ zu konzentrieren, statt um Jesus als Zentrum. Die einzelnen Mitglieder hören allmählich auf, ihr Unterscheidungsvermögen auf biblischer Grundlage auszuüben. Das christliche Leben kreist immer mehr um Rituale, deren geistlicher Gehalt allmählich schwindet: die Taufe, das Abendmahl, der „Sonntagsgottesdienst“, usw. In den Gemeinden nimmt der Anteil der Namenschristen zu, und die Zahl der wirklichen Nachfolger Jesu nimmt ab.
Im 4.Jahrhundert, mit Konstantin, verbindet sich diese bereits ziemlich „institutionalisierte“ Organisation mit der politischen Macht. Damit wird sie vollends zu einer Institution dieser Welt, und hört auf, die geistliche Gemeinschaft zu sein, die sie in ihren Anfängen war. Und schon bald wird diese einst verfolgte Gemeinschaft zur Verfolgerin: Priszillian und vier seiner Gefährten werden zu den ersten christlichen Märtyrern, die unter falschen Anklagen umgebracht wurden auf Anstiftung dieser Organisation, die sich „Kirche“ nennt. Zum ersten Mal tötet eine Institution, die sich „christlich“ nennt, andere Christen; im Glauben, sie leiste damit Gott einen Dienst. Damit erfüllt sie die Prophetie Jesu in Johannes 16,2-3. Das sollte sich während des Mittelalters und bis heute unzählige Male wiederholen.
– Als im 5.Jahrhundert das Römische Reich fällt, erbt diese Organisation die politische Macht des Reiches. Während des 6.Jahrhunderts festigt sich diese Macht mit der Gründung des „Kirchenstaates“ in Italien. Im Jahr 800 stellt der Papst offiziell das Römische Reich wieder her, und krönt Karl den Grossen zum Kaiser. Die Hure sitzt jetzt fest im Sattel auf dem Tier. Während der folgenden Jahrhunderte sind die Könige und Kaiser Untertanen des Papstes.

Derselbe Prozess geht gegenwärtig in den reformierten und evangelikalen Kirchen vonstatten. Während die Zahl wahrer Nachfolger Jesu in ihren Reihen abnimmt, nimmt ihre politische Macht zu. Gleichzeitig sprechen sich mehr und mehr kirchliche Leiter gegen jene Christen aus, die die Bibel ernst nehmen. Wenn ein Christ es wagt, die Lehren und Praktiken der Leiter biblisch zu untersuchen und zu kritisieren, wird er als „Rebell“, „altmodisch“, „Fundamentalist“, „lieblos“, usw, verleumdet und abqualifiziert. Die Visionen in der Offenbarung und das Beispiel der römischen Kirche zeigen uns, wo das endet: Auch diese „institutionellen“ Kirchen werden vollends zur Hure, und werden sich mit Rom vereinigen in der Ausübung politischer Macht und in der Verfolgung der wahren Christen … bis das „Tier“ sie zu Boden wirft, und Gott sein Gericht über sie ausübt.

Die endzeitliche Gemeinde ist umgeben von einer grossen Menge, die sich ebenfalls „Kirche“ und „christlich“ nennt, die aber nicht Jesus nachfolgt. – Wir haben erwähnt, dass die wahre Gemeinde äusserlich nicht „siegreich“ aussieht. Aber die grosse Menge der falschen Christen zeigt nach aussen hin alle Merkmale einer „siegreichen Gemeinde“: Sie ist zahlreich; sie hat einflussreiche Stellungen in der Gesellschaft und Politik inne; sie ist „erfolgreich“ in den Augen der Welt. Die Existenz dieses falschen Christentums kann auch für die wahren Christen zur Versuchung werden: Sie könnten wünschen, sich auch auf die Seite dieses „offiziellen“ Christentums mit seinen einflussreichen Leitern zu stellen, und ihren Glauben auf „respektable“ und „politisch korrekte“ Weise auszuüben. Deshalb sagte Jesus, wir sollten uns vorsehen: Die falschen Christusse und falschen Propheten kommen, „um wenn möglich auch die Erwählten zu verführen“ (Matthäus 24,24). Und deshalb ertönt auch heute derselbe Ruf des Herrn an seine Nachfolger: „Geht hinaus aus ihr, mein Volk, damit ihr nicht an ihren Sünden teilnehmt, und nicht ihre Plagen erleidet …“ (Offenbarung 18,4)

Die neutestamentliche Gemeinde als „Familie Gottes“ – Teil 5

2. Oktober 2019

Die Unterordnung im Neuen Testament

Untersuchen wir nun den „hierarchischsten“ Begriff, den es im Neuen Testament gibt: die „Unterordnung“. Das griechische Wort für „sich unterordnen“ ist „hypotássomai“. Wenn wir die neutestamentlichen Stellen untersuchen, wo dieses Wort vorkommt, dann stellen wir zuerst fest, dass Gott der Einzige ist, der aktiv jemanden oder etwas ihm „unterordnet“. Nirgends heisst es, dass ein Mensch einen anderen ihm unterordnen solle, oder von jemandem Unterordnung verlangen solle. Das ist ein wichtiges Prinzip: Unterordnung im Sinne des Neuen Testamentes ist etwas, was man von sich aus tut. Es ist nicht etwas, was jemand von anderen Menschen einfordern könnte. – Mit anderen Worten: Es gibt verschiedene Stellen im Neuen Testament, die bestimmten Personen sagen, sie sollten sich anderen Personen unterordnen. Aber nie wird diesen anderen Personen gesagt, sie sollten von den ersteren Unterordnung verlangen.
So lesen wir auch mehrmals, dass die Apostel den Mitgliedern der Familie Gottes sagen, sie sollten sich bestimmten Personen unterordnen; aber kein Apostel oder Leiter im Neuen Testament sagte je: „Ordnet euch mir unter.“

Nun finden wir unter den Stellen, die von „Unterordnung“ zwischen Menschen sprechen, nur eine einzige, die sich auf das eigentliche Gemeindeleben bezieht: „Ihr kennt die Familie des Stephanas, die die Erstlingsfrucht von Achaja sind, und sich selbst zum Dienst für die Heiligen gesetzt haben; damit auch ihr euch solchen unterordnet, und jedem, der mitarbeitet und sich abmüht.“ (1.Korinther 16,15-16).
Es fällt auf, dass hier keine spezifische Leiterschaftsposition erwähnt wird (wie wenn z.B. gesagt würde: „Ordnet euch den Aufsehern unter“, oder „Ordnet euch den Aposteln unter“). Stattdessen spricht Paulus auf ziemlich allgemeine Weise von „jedem, der mitarbeitet und sich abmüht“. Es gibt also keinen fest definierten Kreis von Personen in der Gemeinde, die von sich aus ein Anrecht darauf hätten, dass sich die übrigen ihnen unterordneten. Paulus empfiehlt Stephanas und seine Familie namentlich, überlässt es aber den Gemeindegliedern zu erkennen und zu entscheiden, wer die anderen sind, die „mitarbeiten und sich abmühen“. Das liegt natürlich auf einer Linie mit der Aussage Jesu: „Der Grösste von euch sei euer Diener“ (Matthäus 23,12). Es liegt auch auf einer Linie mit dem früher Gesagten, dass Ältestenschaft weder durch demokratische Wahl noch durch Einsetzung „von oben“ definiert wird, sondern durch die Anerkennung von seiten der Gemeinde.

Diese Beobachtungen sind noch auffälliger, wenn wir sie damit vergleichen, dass in anderen Lebensbereichen das Neue Testament sehr wohl klare „Unterordnungsstrukturen“ festlegt: nämlich inbezug auf die staatliche Regierung, und noch klarer im Familienleben. Allen wird gesagt, sie sollten sich der Regierung unterordnen (Römer 13,1.5, Titus 3,1, 1.Petrus 2,13). (Wenn auch diese Unterordnung ihre Grenzen hat, wo es um die Gebote Gottes geht; aber es ist hier nicht der Ort, darauf einzugehen.) – Noch klarer und detaillierter sind die Worte, die eine „Unterordnungsstruktur“ in der Familie definieren:

– Die Frauen sollen sich ihren Ehemännern unterordnen. (Epheser 5,22, Kolosser 3,18, Titus 2,5, 1.Petrus 3,1.5). – Zusätzlich gibt es zwei Stellen, die sagen, die Frauen sollten in Unterordnung sein, ohne anzugeben wem gegenüber (1.Korinther 14,34, 1.Timotheus 2,11). Aber vor dem klaren Hintergrund der Ehestruktur können wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass auch hier die Unterordnung dem eigenen Ehemann gegenüber gemeint ist (und nicht irgendwelchen anderen Männern gegenüber).

– Kinder sollen sich ihren Eltern unterordnen. Das wird in Lukas 2,51 und 1.Timotheus 3,4 impliziert.

– Sklaven sollen sich ihren Herren unterordnen. (Titus 2,9, 1.Petrus 2,18). Das ist auch eine familiäre Beziehung, da Bedienstete und Sklaven zur Familie des Hausherrn gezählt wurden.

– Die Jüngeren sollen sich den Älteren unterordnen (1.Petrus 5,5). Einige denken, es handle sich hier um eine „kirchliche“ Beziehung, da die vorangehenden Verse über die Gemeindeältesten sprechen. Aber durch den Gebrauch des Wortes „die Jüngeren“ stellt Petrus klar, dass der Grund für die Unterordnung nicht in einer „Leiterschaftsposition“ der Älteren besteht, sondern im Altersunterschied (der zugleich als Unterschied an Erfahrung und Weisheit verstanden wird). Auch wo es sich um die Gemeindeältesten handelt, so ist der Hintergrund dieses Prinzips doch der gewöhnliche Brauch in der erweiterten Familie. Deshalb gehört dieser Vers in die Kategorie der familiären Beziehungen (die sich in der Gemeinde fortsetzen), nicht der „institutionellen“.

Dasselbe beobachten wir, wenn wir den Gebrauch des griechischen Wortes „hypakoúo“ (gehorchen) untersuchen. Die grosse Mehrheit der entsprechenden Stellen sprechen vom Gehorsam Gott und seinem Wort gegenüber. Die übrigen beziehen sich alle auf innerfamiliäre Beziehungen:

– Sarah gehorchte ihrem Mann Abraham (1.Petrus 3,6).

– Kinder sollen ihren Eltern gehorchen (Epheser 6,1, Kolosser 3,20).

– Sklaven sollen ihren Herren gehorchen (Epheser 6,5, Kolosser 3,22).

Es gibt keine neutestamentliche Stelle, wo das Wort „hypakoúo“ den Gehorsam gegenüber einem Leiter in der Gemeinde bezeichnen würde.

Einige zitieren Hebräer 13,17, um einen „Gehorsam“ gegenüber Gemeindeleitern oder „Pastoren“ zu begründen. Leider wird dieser Vers in einigen Bibelübersetzungen ungenau oder irreführend übersetzt. Im griechischen Original steht hier weder das Wort „hypotássomai“ (sich unterordnen) noch das Wort „hypakoúo“ (gehorchen). Stattdessen befinden sich hier zwei andere Worte von wesentlich schwächerer Bedeutung: „peíthomai“ =“sich (freiwillig) überzeugen lassen“, und „hypeíko“= „nachgeben“. Eine genauere Übersetzung wäre: „Lasst euch von euren Leitern überzeugen und gebt ihnen nach, denn sie wachen zum Besten eurer Seelen …“

Das Neue Testament verwendet also recht viele Worte darauf, die „richtige Ordnung“ in den Familienbeziehungen darzulegen; aber es sagt beinahe nichts über eine derartige „Unterordnungsstruktur“ in der christlichen Gemeinde!

Wir finden ausserdem im Zusammenhang mit den bereits zitierten Stellen zwei Verse, die sagen: „Ordnet euch einander unter“ (Epheser 5,21, 1.Petrus 5,5). Die „Unterordnungsstrukturen“, die wir bis jetzt betrachtet haben, sind also nicht absolut. Sie müssen eingebettet sein in eine Umgebung von gegenseitigem Respekt und Unterordnung – sowohl in der Familie als auch in der Gemeinde.

Wir kommen also zu folgendem Schluss:

Die Unterordnung in der Gemeinde des Herrn soll nicht als Ausdruck einer hierarchischen und künstlichen Struktur verstanden werden, wie es z.B. in den Institutionen des Staates der Fall ist. In der Gemeinde ist die Unterordnung vielmehr eine natürliche Folge der familiären Beziehungen, die in den Kern- und erweiterten Familien existieren. Aus biblischer Sicht besteht in den Familien eine viel stärkere und wichtigere „Unterordnungsstruktur“ als in der Gemeinde. Diese Familienstrukturen sind der natürliche Ursprung der Ältestenschaft in der Gemeinde, und sie sind auch der Ursprung des Respekts und der Unterordnung, die freiwillig den Ältesten als weisen und reifen Vätern im Herrn entgegengebracht werden.
Jene Personen, die würdig sind, dass man sich ihnen auf diese Weise unterordnet, unterscheiden sich nicht durch ein definiertes „Amt“ oder eine „Position“, sondern dadurch, dass sie sich freiwillig „zum Dienst für die Heiligen gesetzt haben“ (1.Korinther 16,15-16), und dass sie als solche von der Gemeinde anerkannt wurden. All das ist eingebettet in die gegenseitige Unterordnung, die allen Gliedern der Familie Gottes entgegengebracht wird, unabhängig von ihrer Funktion in der Gemeinde oder Familie.

Im Licht der neutestamentlichen Lehre sollte jedem Leiter misstraut werden, der Unterordnung unter seine Person einfordert; und insbesondere dann, wenn diese Unterordnung kollidiert mit den von Gott eingesetzten familiären Beziehungen zwischen Ehepartnern oder zwischen Eltern und Kindern.

Autoritarismus bei Aussteigern aus der kirchlichen Welt

21. April 2019

In vergangenen Artikeln habe ich aus verschiedenen Perspektiven die Themen „Autoritarismus“ und „Machtmissbrauch“ beleuchtet. Oft geschehen solche Dinge in Freikirchen und ähnlichen Organisationen. Als Gegenbewegung dazu hörte man in den vergangenen Jahrzehnten von verschiedenen Richtungen von nicht-institutionellen christlichen Gemeinschaften, „einfachen Gemeinden“, „Out-of-Church-Christians“ („Christen ausserhalb der Kirche“), usw. Ich nehme an, dass nicht wenige Menschen, die sich mit solchen Bewegungen identifizieren, vor dem Machtmissbrauch in institutionellen Kirchen geflüchtet sind.

Doch auch solche Bewegungen sind vor hierarchischem Denken und autoritären Lehren nicht sicher. Manche Hausgemeindebewegungen sind von Anfang an mit einer klaren hierarchischen Struktur und dem Konzept von „Unterordnung“ gegründet worden, und sind in dieser Hinsicht nicht besser als die institutionellen Kirchen. Bei anderen kommen die autoritären Ideen und Praktiken eher durch die Hintertür herein.

– So fand ich einmal eine Webseite einer „nicht-institutionellen“ christlichen Gemeinschaft, die viel von der Rückkehr zum neutestamentlichen Gemeindemodell sprach, wo jeder nach seinen Gaben beiträgt, die Mitglieder ihr Leben miteinander teilen, und echte Bruderschaft gelebt wird. Auf der Webseite selber teilten Mitglieder Gedanken, Gebete und Lieder mit. Alles sah sehr ansprechend und harmonisch aus.
Später fand ich Zeugnisse von ehemaligen Mitgliedern, wonach im Innern dieser Gemeinschaft die Dinge ganz anders aussahen. Von Mitgliedern wurde erwartet, dass sie in dasselbe Wohnviertel umzogen, wo bereits die anderen Mitglieder lebten. Das „gemeinsame Leben“ wurde derart überbetont, dass Mitglieder unter ständige Überwachung gestellt wurden, sodass sie nicht einmal allein zum Einkaufen gehen durften. Sie mussten den Kontakt zu Verwandten abbrechen, die der Gruppe skeptisch gegenüberstanden; und wenn sie doch einmal Verwandte besuchten, mussten sie dabei von einem „gut indoktrinierten“ Mitglied begleitet werden. Sie durften nicht einmal allein die Bibel lesen oder beten; alles musste „in Gemeinschaft“ geschehen. Obwohl es offiziell „keine Hierarchie“ gab, war allen Insidern völlig klar, wer die Leiter waren; und den Anordnungen des Hauptleiters durfte auf keinen Fall widersprochen werden. Neue Mitglieder mussten beim Eintritt eine Generalbeichte ablegen über sämtliche Sünden, die sie je begangen hatten. Diese Beichte wurde protokolliert, sodass die Leiter diese Liste später dazu gebrauchen konnten, „rebellische“ Mitglieder zu erpressen. – Ausserdem wurde vermeldet, dass Internetseiten, die negative Informationen über die Gruppe enthielten, jeweils nach kurzer Zeit auf mysteriöse Weise zu verschwinden pflegten.

– Mike Dowgiewicz ist ein Autor, der stark das Engagement christlicher Väter in ihren eigenen Familien betont, vor allen Verantwortungen in Beruf, Gemeinde, usw. Ich verdanke ihm wertvolle Einsichten über biblische Ältestenschaft vor dem Hintergrund der altjüdischen Kultur. Doch fand ich heraus, dass auch er ein Verfechter der unbiblischen „Chain of command“ ist (militärische Befehlshierarchie innerhalb der christlichen Gemeinschaft). Als ich ihm deswegen schrieb, antwortete er sehr unwirsch, und warf mir vor, ich versuchte ihn „psychologisch zu manipulieren“. Leider ein typisches Reaktionsmuster: Wenn autoritäre Leiter wegen eines konkreten Punktes in Frage gestellt werden und die Argumente nicht entkräften können, dann gehen sie zu persönlichen Angriffen über und unterstellen dem Fragesteller unlautere Motive.

– In diesem Zusammenhang beobachte ich schon seit längerer Zeit mit einiger Besorgnis die Entwicklung von Wolfgang Simson. Während langer Zeit hat er in seinen Veröffentlichungen hauptsächlich nicht-hierarchische, z.T. sogar fast familiäre Strukturen und Modelle von Gemeinschaft beschrieben. In einer Hausgemeinden-Konferenz 2006 in Spokane (USA) [eine Aufnahme davon war seinerzeit im Internet veröffentlicht] machte er eine Aussage, die mich sehr berührte und mich hoffen liess, er sei drauf und dran, die Familienstruktur christlicher Gemeinschaft zu entdecken: „Wenn wir glauben, dass Gott ein Richter ist, dann wird die Kirche wie ein Gerichtssaal. Wenn wir glauben, dass Gott ein Arzt ist, dann wird die Kirche wie ein Spital, wo wir unsere Wunden pflegen, und nachher einander wieder von neuem verletzen. Wenn wir glauben, dass Gott ein General ist, dann wird die Kirche wie eine Kaserne. Wenn wir aber Gott als unseren Vater sehen, dann wird die Kirche wie eine Familie sein.“

Aber leider ist er von dieser Idee wieder abgedriftet. Seine neueren Publikationen neigen immer mehr zu autoritär-hierarchischen Vorstellungen. Statt vom „Haus“ (Familie), von „organischer Gemeinschaft“, oder ähnlichen Konzepten, spricht er nun fast ausschliesslich vom „Königreich“. Zugleich beobachte ich eine abnehmende Transparenz darüber, was er nun wirklich lehrt über die praktische Verwirklichung dieses Konzepts.

Schon in jenen Aufnahmen von 2006 waren einige alarmierende Aussagen zu finden, die ich damals einfach „übersah“ – bzw. ich verfiel in den Fehler, auch das Problematische einfach hinzunehmen, weil mir der Mann und seine Ideen sympathisch waren. Im Rückblick sehe ich, dass er schon damals seine spätere Entwicklung klar vorgezeichnet hat. Ich möchte nur den „dicksten Hund“ erwähnen:

In Simsons Königreich ist es obligatorisch, dass Neubekehrte alle ihre Güter, die über das Lebensnotwenige hinausgehen, „den Aposteln zu Füssen legen“. Diese Apostel entscheiden dann darüber, was für Personen bzw. Projekte mit diesem Geld unterstützt werden sollen. Wolfgang Simson sagt in seinem Vortrag: „Das waren also ganz enorme Summen, die den Aposteln zu Füssen gelegt wurden. Der Gegenwert vieler Häuser und Grundstücke! Das war praktisch der Eintrittspreis, den alle bezahlten, die ins Christentum eintraten. Sie gaben alle Sicherheiten auf, weil sie zwei neue Sicherheiten gefunden hatten: in Gott und in der Gemeinde. Was brauchten sie mehr? Die Schlussfolgerung war deshalb, in der Urgemeinde, dass wenn jemand reich werden wollte, dann war er besessen …“ – Auch der Ausdruck „Idiot“ bezeichne jemanden, der nicht bereit sei, sich von überflüssigen Gütern zu trennen und diese „den Aposteln zu Füssen zu legen“. – Etwas später sagt er: „Das heutige Äquivalent des Ortes ‚zu Füssen der Apostel‘ wäre eine apostolische Stiftung in einer Region, verwaltet von Personen, die an Ort eine ‚Geschichte des Vertrauens‘ haben, d.h. von den anderen als echte Apostel anerkannt sind … Ich schlage vor, dass einfach jemand mit einer solchen Stiftung anfangen sollte; und die Beiträge der neuen Hausgemeinden und der vielen Christen, die keiner Kirche mehr vertrauen, und der Geschäfte und der Neubekehrten werden dort einbezahlt; und dann gäbe es genügend Geld, um 50, 100 oder 200 Erntearbeiter zu bezahlen …“
In seinem Buch „Die Verfassung des Königreichs“ (2014) erscheint dieser Gedanke wieder (S.134):
„Das Königreich kennt, wie jedes andere Land, eine zentrale Finanzverwaltung. Die Bibel benutzt dafür Ausdrücke wie (…) der Platz vor den Füssen der Apostel (Apg.4,34-35; 5,1-2) (…) So wie Judas der Banker von Jesus war (er hatte „den Beutel“ Joh.13,29), waren (und sind) die Apostel Gottes Banker.“ [Hervorhebungen im Original.]

Dazu ist einiges zu sagen. Angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse unter jenen, die sich Christen (oder auch „Königreichsbürger“) nennen, ist ein solcher Vorschlag zumindest blauäugig, wenn nicht Schlimmeres. Integrität – besonders finanzielle Integrität – ist eine derartige Mangelware, dass überall da, wo in „christlichen“ Kreisen bisher ein paar tausend Dollars veruntreut werden, diese Summe sofort in Millionenhöhe schnellen würde.
Zweitens würde ein solches Vorgehen den Einzelnen entmündigen. Was ist dann mit den Aufrufen an die Verantwortung des Einzelnen, selber mit den Bedürftigen, von denen er Kenntnis hat, zu teilen? (Z.B. Gal.6,6.9-10; Eph.4,28; Jak.1,27) Zum reichen Jüngling sagte Jesus: „Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen.“ (Matth.19,21 und Parallelen.) Er sagte nicht: „Lege es den Aposteln zu Füssen.“ Und auch nicht: „Gib es mir, damit ich es so verteilen kann, wie es recht ist.“ Jesus traute dem reichen Jüngling zu, selber bedürftige Personen zu finden und seinen Besitz angemessen verteilen zu können. Bestimmt traut er das auch jedem seiner Nachfolger zu.
Im Neuen Testament ist Geben freiwillig. Die Mitglieder der Urgemeinde gaben grosszügig, weil der Heilige Geist sie so leitete. (Auf weitere Faktoren gehe ich weiter unten ein.) Es wäre aber anmassend und tyrannisch, dasselbe als Obligatorium von Menschen zu fordern, in denen der Heilige Geist nicht auf diese Weise gewirkt hat. Tatsächlich liefe dies auf eine zwangsweise Umverteilung von Gütern nach kommunistischem Muster hinaus.

Von der Bibel her ist dazu zu sagen, dass Geschehnisse, die berichtet werden, nicht einfach so als normativ und „obligatorisch“ für alle Zeiten und alle Orte erklärt werden können. Es gibt kein neutestamentliches Gebot, Häuser und Grundstücke zu verkaufen und den Erlös „den Aposteln zu Füssen“ zu legen. Ebensowenig wurden Mitglieder der Urgemeinde als „besessen“ oder „Idioten“ beschimpft und beschämt, wenn sie dies nicht taten. Wolfgang Simson begeht den Fehler, die besondere Situation der Urgemeinde in Jerusalem für die Gemeinde aller Zeiten und aller Orte verpflichtend zu machen. Dabei lässt er folgende Umstände ausser Acht:
– Jesus hat die Zerstörung Jerusalems (und nur Jerusalems) prophetisch vorhergesagt. Deshalb war es sinnvoll, Häuser und Grundstücke in dieser Stadt zu verkaufen, denn die Jünger wussten, dass diese nach relativ kurzer Zeit sowieso zerstört werden würden. Aus anderen Städten berichtet das Neue Testament nichts vom Verkaufen von Liegenschaften.
– Auch in der Jerusalemer Gemeinde war das kein Obligatorium. Ananias und Saphira wurden nicht deshalb gerichtet, weil sie Geld zurückbehalten hatten, sondern weil sie deswegen gelogen hatten (Apg.5,4). Es wäre besser für sie gewesen, alles Geld für sich zu behalten; denn das wäre wenigstens ein ehrlicher Ausdruck ihrer Herzenshaltung gewesen, und wäre nicht verurteilt worden: „Bliebe es nicht unverkauft dein [Eigentum]; und [auch] nach dem Verkauf war es in deiner Gewalt?“
– In der Urgemeinde herrschte eine aussergewöhnliche Heiligkeit und Integrität. Deshalb war es dort möglich, den Aposteln zu vertrauen hinsichtlich der Verwaltung der Güter. Nie in ihrer weiteren Geschichte hat die christliche Gemeinde auch nur annähernd diese Höhe wieder erreicht. Später war es deshalb vernünftiger, im Normalfall das Geben der Verantwortung des Einzelnen zu überlassen (siehe die weiter oben angeführten Stellen), und nur in Ausnahmefällen Spenden zentral zu verwalten. (Die Sammlungen für Jerusalem – Apg.11,29-30; 2.Kor.8 und 9 – waren solche Ausnahmen; die einzigen, die im Neuen Testament berichtet werden.)
– Die Apostel selber haben nie eine Verantwortung als „Banker“ gesucht oder gar gefordert. Sie sahen darin keine von Gott gegebene Berufung, sondern im Gegenteil eine unangemessene Last, die sehr bald zu Problemen führte, und die sie so bald wie möglich wieder loswerden wollten: „Es ist nicht angemessen, dass wir das Wort vernachlässigen und bei den Tischen Dienst tun. (…) Wir jedoch wollen beim Gebet und beim Dienst des Wortes verharren.“ (Apg.6,1-4.)

Nun wird eine Beurteilung der Lehren Simsons erschwert dadurch, dass er sich widersprüchlich äussert. Er weiss offenbar um die Problematik des Autoritarismus und kritisiert ganz direkt gewisse autoritäre Strömungen, z.B. den Dominionismus oder Rekonstruktionismus (eine v.a. in den USA verbreitete Strömung mit dem Ziel, dass Christen politischen und gesellschaftlichen Einfluss gewinnen sollen, um biblische Werte in der gesamten Gesellschaft durchzusetzen und so das Königreich Gottes herbeizuführen). In einem Rundbrief vom Januar 2018 beklagte er auch, wie die Ausbreitung des Christentums oft mit der Kolonisierung Hand in Hand ging, und statt des Königreichs Gottes nur westlich-kulturelle kirchliche Formen exportiert wurden. (Seltsamerweise erwähnt er dabei aber nur reformierte und evangelikale Kirchen. In einem persönlichen Mail bagatellisierte er dagegen die Eroberung und Unterwerfung eines grossen Teils Amerikas durch die Spanier auf Geheiss des Vatikans, und zeigte kein Interesse, eine Initiative amerikanischer Eingeborener zu unterstützen, die seit 1992 Petitionen an den Papst richten, um die diesbezügliche Bulle von 1493 endlich(!) widerrufen zu lassen.)
Öfters warnt Simson vor „religiösen Stars“, Personenkult, und vor Leitern, die andere zu ihren eigenen Jüngern machen wollen. Dem traditionellen institutionellen Kirchensystem wirft er vor, aus eigenmächtig aufgebauten Königreichen zu bestehen, die Menschen folgen statt Gott.

Doch dann baut er genau dasselbe wieder auf, was er soeben niedergerissen hat. Z.B. scheut er sich nicht, gewisse Menschen als „seine“ Jünger zu bezeichnen.
– In den kolonialisierten Ländern wurde das Evangelium nicht als Erlösungsbotschaft verkündet, sondern als Botschaft der Unterwerfung unter die „christliche“ Kolonialmacht, die angeblich Gottes Reich verkörperte. Wolfgang Simsons Königreichstheologie begeht genau denselben kolonialen Fehler: Aus der von Jesus begründeten Bruderschaft ohne Hierarchie (Matth.23,8-12), bzw. „Schafherde“ mit Jesus als einzigem Hirten (Joh.10), macht er ein reglementiertes „Königreich“. In dieses Reich einzutreten wird gleichgesetzt mit der Unterordnung unter „apostolische Menschen“, die Gottes „Regierungsvertreter“ auf dieser Erde seien. Damit wird der Grundstein gelegt zu einer neuen Generation von entmündigten, indoktrinierten Nachfolgern, die ihre Gottesbeziehung aus zweiter Hand leben. Ja, Simsons „Kingdom Manifesto“ spricht ausdrücklich von „Kolonien des Königreichs Gottes auf Erden“.

Von diesem Königreich spricht Simson fast ausschliesslich in einer amtlichen, institutionellen Sprache. Es geht um „Regierung“, „Gesetze“, „Legalität“, „Einbürgerung“, „Staatsbank“, sogar „Staatsgeheimnisse“ und einen „Amtseid“. Die neutestamentlichen Aussagen über christliche Gemeinschaft und christliches Leben, die mehr beziehungsmässige und organische Aspekte betonen, treten dagegen in den Hintergrund, oder kommen in Simsons neueren Verlautbarungen überhaupt nicht mehr vor.

In einem neueren Rundbrief (März 2019) sagte er u.a: „Viele Bibelübersetzer mögen den Gedanken nicht, dass der Mensch im Königreich ein Untergebener, und damit ein Befehlsempfänger Gottes ist.“ Das ist zwar richtig, wenn es über unsere Stellung vor Gott gesagt wird. Aber:
– Es ist nur eine Teilwahrheit. Wir sind nicht nur Befehlsempfänger, sondern auch geliebte Kinder, Freunde und Mitarbeiter Gottes, Glieder am Leib Christi, und noch so manches mehr!
– Diese Teilwahrheit wird regelmässig von autoritären Leitern dazu missbraucht, Gehorsam und Unterordnung ihnen gegenüber zu erzwingen. Wo immer die Wahrheit über Gott als König überbetont wurde, da erschienen sofort zahlreiche Unterkönige, die ihren Anteil an Gottes Befehlsgewalt beanspruchten. Sogar wenn Simson das nicht vorhätte: garantiert werden es zahlreiche seiner Anhänger tun.

Über seinen „Plan B“, seine Alternative zur herkömmlichen Kirche, schrieb er im Oktober 2018: „Es geht ja hier um viel mehr als darum, die klassische Kirche mit ihren Synagogenstrukturen in ein Privathaus zu verlegen und es „Hauskirche“ zu nennen. Es geht um die Frage, wie das Haus Gottes, die Nation Gottes, Gestalt gewinnt. Es ist fast wie eine Wiedererfindung der römisch-katholischen Kirche, nur dass das Ergebnis weder römisch ist, noch katholisch, noch eine klassische Kirche.“
Und ähnlich im März 2019: „Es geht ja um nicht weniger als um eine biblische Alternative zum Kirchgänger-tum, und letztlich um eine neue Landeskirche auf der Basis der Hauptbotschaft von Jesus – dem Königreich.“
Diese Aussagen machen sehr deutlich, wohin die Reise geht. Nicht zurück zum Neuen Testament, sondern zurück zum konstantinischen Zeitalter. Zurück zu genau jener „Erfindung“, die von den meisten anderen Kritikern des traditionellen Kirchensystems als der katastrophalste Tiefpunkt der ganzen Kirchengeschichte angesehen wird.

Simsons Königreich hat eine „Verfassung“, auf die jeder „Bürger“ einen „Loyalitätseid“ schwören muss – entgegen Matth.5,34-37, und entgegen Simsons eigener Beteuerung, es sei nicht richtig, einer irdischen Leiterschaft gegenüber irgendeine „Bundesverpflichtung“ einzugehen. Diese „Verfassung“ ist nun aber nicht die Bibel, sondern Simsons eigener Extrakt und eigenwillige Auslegung davon, die er unter dem Titel „Die 75 Gebote Jesu“ zusammenfasst. Seine Nachfolger sollen also offenbar nicht eine eigenständige Beziehung zu Jesus aufbauen oder selber um ein richtiges Verständnis der biblischen Aussagen ringen, sondern exakt Simsons spezieller Auswahl und Auslegung folgen. Unter seiner Auslegung des Gebots „Hortet nicht …“ findet man z.B. die eingangs zitierte Forderung, aller nicht lebensnotwendige Besitz müsse zentralistisch „zu Füssen der Apostel“ gesammelt werden.

Liebe Nachfolger von Jesus Christus, bitte lasst euch von niemandem enteignen, weder materiell noch geistlich. Jesus allein hat die Verfügungsgewalt über unsere Zeit, unseren Besitz, unsere Talente und Fähigkeiten, unsere Beziehungen, unsere Berufung und unseren Platz in seinem Reich. Er hat nie irgendeinen seiner Jünger bevollmächtigt, diese Verfügungsgewalt über andere Jünger auszuüben. Deshalb wollten die neutestamentlichen Apostel weder Vermögensverwalter (Apg.6,2-4) noch „Herren über jemandes Glauben“ (2.Kor.1,24) sein. Erst neuere Strömungen wie Dominionismus, Peter Wagners „Neue Apostolische Reformation“ (NAR), und eben Wolfgang Simsons „Königreichslehre“, wollen Apostel zu Herrschern, Regierungsfunktionären und Bankern machen.

In der Bibel ist klar, dass die sichtbare Aufrichtung des Reiches Gottes dann geschieht, wenn Jesus wiederkommt (Matth.25,31-34; Luk.19,11-15; Offb.19,11-16; 20,4). Zu jenem Zeitpunkt werden tatsächlich manche seiner Jünger „Regierungsfunktionen“ erhalten (Luk.19,16-19; 22,29-30; Offb.20,4.6) – aber nicht vorher.
Wolfgang Simson erklärt aber Stellen wie Daniel 2,44-45 als eine esoterische „Kingdom Singularity“, einen nahe bevorstehenden Moment, wo sich Gottes Königreich auf der Erde manifestieren würde aufgrund der Wirksamkeit der „Königreichsbürger“. (So in seinem „Kingdom Manifesto“.) Die Wiederkunft Jesu kommt in diesem Zusammenhang nicht vor! Das ist genau die „Kingdom Now“ („Königreich jetzt“) – Theologie, die den Kern des Dominionismus und verwandter Strömungen bildet: Nachfolger Jesu würden schon vor seiner Wiederkunft auf dieser Erde die Zustände des Reiches Gottes einführen, und würden damit zu einem dominierenden Einfluss werden.
Der Verdacht liegt daher nahe, dass Simson Strömungen wie Dominionismus, „Neue Apostolische Reformation“ (NAR) und ähnliche nur deshalb kritisiert, damit er umso einfacher seine eigene Konkurrenzversion davon einführen kann.

Man mag mir vorwerfen, ich hätte seine Anliegen falsch verstanden. Doch in diesem Fall hätte er über ein Jahr Zeit gehabt für eine Klarstellung. Ich habe ihm per e-Mail mehrmals meine Bedenken unterbreitet, und er hat jedes Mal ausweichend oder gar nicht darauf geantwortet. Dies ist mein letztes Mail an ihn, vom März 2018 (nicht 2019!), welches bis heute ohne Antwort blieb:

Lieber Wolfgang,

danke für Dein Mail. Danke für den Hinweis, dass nicht nur das Königtum, sondern auch die Vaterschaft Gottes von Menschen usurpiert und verfälscht werden kann.

Eine Antwort auf meine Anfragen finde ich in Deinem Artikel („Father-Son-Wineskins“) allerdings nicht. Er hat ja nur ganz am Rande etwas zu tun mit dem, was ich Dir geschrieben habe. Ja, Du grenzt Dich darin verbal von autoritären Strömungen ab, und sprichst schön von „horizontaler Bruderschaft“ usw… – aber nur da, wo Du andere kritisierst. Dein eigenes Konzept kommt in diesem Artikel ja gar nicht zur Sprache. Wo kommen diese Gedanken in Deinem eigenen Modell vor, und wie werden sie da praktisch verwirklicht? Du sprichst ja u.a. von einer „Regierungsbildung im Königreich Gottes“, die gegenwärtig vorbereitet werden soll; und Du forderst sogar, Apostel zu Verwaltern von Millionen- und gar Milliardenbeträgen zu machen – also praktisch eine Enteignung der Staatsbürger nach kommunistischem Muster. Damit gehst Du bezüglich Autoritarismus noch weiter als die meisten Vertreter von Dominionismus, NAR, usw. – in eklatantem Widerspruch zu dem, was Du in dem mir zugesandten Artikel schreibst. Und einer Beantwortung meiner diesbezüglichen Anfragen bist Du nun zum zweiten Mal ausgewichen.

Also, zum dritten Mal, und etwas klarer ausgeführt:

– Was für Machtbefugnisse haben Apostel genau, gemäss Deinem Modell?
– Was verstehst Du unter der „Regierungsbildung im Königreich Gottes“ in der gegenwärtigen Zeit, und wie soll diese konkret verwirklicht bzw. vorbereitet werden?
– Inwiefern unterscheidet sich Deiner Meinung nach Dein eigener Ansatz wesensmässig von den autoritären Strömungen, die Du kritisierst?
– Und was triffst Du konkret für Vorkehrungen, damit dieser wesensmässige Unterschied nicht nur in der Theorie besteht, sondern auch in der Praxis? D.h. was tust Du konkret, um der Errichtung autoritärer Strukturen unter Deinen Mitarbeitern und Nachfolgern vorzubeugen?

Falls ich etwas an Deinen Aussagen missverstanden haben sollte, wäre ich für eine Klarstellung dankbar. Solange Du aber meine Anfragen einfach nicht oder nur ausweichend beantwortest, trägt das nur dazu bei, meine Bedenken zu verstärken und Dich und Deine Projekte als zumindest „verdächtig“ einzustufen. Ich hoffe, Du verstehst das. Mangelnde Transparenz ist auch ein Kennzeichen autoritärer Strukturen und Leiter.

Mit vielen Grüssen,

Hans

Abschliessend möchte ich kurz versuchen, ein biblisches Gegengewicht zu Simsons Königreichslehre aufzuzeigen.

Das Königtum und die Souveränität Gottes sind tatsächlich wichtige biblische Wahrheiten. Und ich habe den Eindruck, manche christliche Gemeinschaften brauchen tatsächlich eine Korrektur in dieser Richtung. Doch wenn dieser Aspekt einseitig überhöht wird, dann entsteht auch wieder ein verzerrtes Bild von Gottes Plan, und führt zu einer frommen Diktatur.

Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Ihr wisst, dass die Regierenden der Völker über sie dominieren, und ihre Grossen unterdrücken sie. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch gross werden will, sei euer Diener; und wer unter euch der erste sein will, sei euer Sklave; so wie auch der Menschensohn nicht gekommen ist, um bedient zu werden sondern zu dienen, und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ (Matth.20,25-28; ebenso Mk.10,42-25; Luk.22,25-27.)
Bezeichnenderweise hat Wolfgang Simson genau dieses Gebot in seiner „Verfassung des Königreichs“ ausgelassen. Jesus sagt, dass in seinem Reich Autorität gerade nicht so verstanden und ausgeübt werden solle wie in einem weltlichen Staat. Das bedeutet aber auch, dass der Begriff „Reich Gottes“ nicht mit Inhalten gefüllt werden darf, die weltlichen Regierungsformen entnommen sind. Damit werden alle Vergleiche hinfällig, welche das Reich Gottes in den Begriffen eines heutigen Staatswesens erklären wollen.

So sagt z.B. das Neue Testament nicht, man werde „ins Reich Gottes eingebürgert“, sondern man werde „in Gottes Familie hineingeboren“. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Metaphern besteht darin, dass Einbürgerung ein bürokratisch-institutioneller Vorgang ist, Geburt dagegen ein natürlich-organischer. Wer daraus eine „Einbürgerung“ machen möchte, der ist mit Volldampf auf dem Weg zurück zur institutionellen Amtskirche, ob er das nun wahrhaben will oder nicht. – Und wer sind dann die „Einbürgerungsbeamten“ (die ein Gesuch annehmen oder ablehnen können)? Muss sich von jetzt an jeder Anwärter auf das Reich Gottes von einem Simson-Anhänger überprüfen lassen, ob er Simsons Eintrittsbedingungen erfüllt?

Im übrigen ist das „Königreich Gottes“ nur eines von mehreren Bildern, die uns die Ordnungen Gottes verdeutlichen wollen. Dieses Bild wird aber nirgends im Neuen Testament mit bürokratischen und aus weltlichen Regierungsordnungen übernommenen Details ausgestaltet.
Ein anderes Bild ist z.B. die Familie Gottes. Die Vorstellung von Gott als gestrengem König wandelt sich sofort, wenn wir in Betracht ziehen, dass dieser König zugleich unser liebender Vater ist. Wir sind dann nicht einfach „Befehlsempfänger“, sondern Söhne und Töchter im königlichen Haushalt. Und insbesondere haben wir dann keinerlei Veranlassung, von irgendwelchen Unterkönigen oder Funktionären Befehle entgegenzunehmen, sondern nur von unserem Vater selber.
Wieder ein anderes Bild ist der Leib Christi. Im Gegensatz zu einem Staat ist ein Leib kein künstliches oder institutionelles Gebilde, sondern ein organisch gewachsenes. Die Glieder eines Leibes brauchen kein Organigramm und keine „Regierungsorgane“. Sie üben auf natürlich-organische Weise ihre jeweilige Funktion aus. Sie werden alle gleichermassen vom „Haupt“ (bzw. Zentralnervensystem) koordiniert, ohne dass ein Glied dem anderen Befehle erteilen müsste.

Den aktuellen Gegensatz zwischen der neutestamentlichen christlichen Gemeinschaft und dem traditionellen institutionellen Kirchensystem sehe ich hauptsächlich in den folgenden Aspekten:

– Ist die Struktur der christlichen Gemeinschaft organisch, lebendig, aus der Beziehung zum lebendigen Herrn und zueinander gewachsen; oder ist sie mechanistisch, institutionell, und bürokratisch reglementiert?

– Beruht Autorität in der christlichen Gemeinschaft auf gegenseitiger Anerkennung, Integrität, Transparenz, geistlicher Reife, usw; oder beruht sie auf einer hierarchischen Stellung, Dominanz, und der Forderung nach Gehorsam und Unterordnung?

– Beruht geistliches Leben und eine gottgefällige Lebensweise auf der direkten, persönlichen Beziehung zu Gott und der Befähigung durch den Heiligen Geist, oder auf dem Befolgen äusserlicher Anweisungen und auf der Vermittlung durch Personen mit „priesterlichen“ Funktionen?

– Ist die geistliche Wiedergeburt eine von Gott übernatürlich bewirkte Herzens- und Wesenveränderung, oder ist sie ein ritueller Vorgang, der vom Menschen selbst (oder von anderen Menschen mit „priesterlichen“ Funktionen) vollzogen oder vermittelt wird?

Simson ist zwar weiterhin ein heftiger Kirchenkritiker. Aber in den vier genannten Punkten widerspiegelt sein eigenes neueres Modell, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, den Standpunkt der institutionellen Amtskirche. In der Vergangenheit hat er viel Gutes und Wichtiges gesagt. Sein Buch „Häuser, die die Welt verändern“ würde ich auch heute noch empfehlen. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass er, nach den vielversprechenden Anfängen, nun bei solchen Positionen landet.

Es ist natürlich eine raffinierte Strategie, eine neue Kolonialisierung der Welt ausgerechnet unter dem Banner des Antikolonialismus voranzutreiben. Und mit Hilfe der Kritik an autoritärer Leiterschaft ein Machtvakuum zu schaffen, das man dann selber ausfüllen kann. Aber wenn wir einmal den „Hype“ weglassen, das verbale Brimborium, das Simson so meisterhaft beherrscht, dann steckt dahinter wohl „nichts Neues unter der Sonne“. Anscheinend nur ein weiterer Versuch zur Errichtung einer irdischen Autoritätspyramide, die dann als das Reich Gottes gelten soll. Falls das nicht Simsons eigene Absicht sein sollte, so werden zumindest seine Anhänger dafür sorgen, dass es so weit kommt.

Steht fest in der Freiheit, für die uns Christus frei gemacht hat! – Teil 6

23. März 2019

Galater 5,1

Eine Untersuchung autoritärer Lehren und Praktiken in evangelikalen Kirchen und Organisationen

Untersuchung einiger spezifischer Lehren des Autoritarismus

– „Gehorcht euren Pastoren.“

Hebr.13,17 wird oft zur Begründung autoritärer Lehren herangezogen: „Gehorcht euren Vorstehern und füget euch [ihnen], denn sie wachen über euren Seelen als solche, die Rechenschaft ablegen werden …“ (ZÜ). – Diesen Text müssen wir im Original näher betrachten. Das Wort für Vorsteher ist hägoúmenoi (wörtlich „Führer, Leiter“) – dasselbe Wort, das Jesus in Luk.22,26 benützt, um zu lehren, dass der „Leiter“ ein Dienender sein soll, nicht jemand, der Gehorsam einfordert. In Hebr.13,7 heisst es ausserdem von den hägoúmenoi: „Seht auf das Ergebnis ihres Betragens, und ahmt ihren Glauben nach.“ Es handelt sich also um Menschen, deren Beispiel der Nachahmung würdig ist. Niemand kann eine solche Autorität beanspruchen, nur weil er eine Leitungsstellung einnimmt in einer Organisation, die sich „Kirche“ nennt. Zumindest muss sein Autoritätsanspruch abgedeckt sein durch das Zeugnis eines gottgefälligen Lebens.
„Gehorchen“ heisst auf griechisch hypakoúo. Aber in Hebr.13,17 steht nicht dieses Wort, sondern peíthomai, was bedeutet „sich überzeugen lassen“. Es steht hier auch nichts von „sich unterordnen“ (hypotássomai); stattdessen steht hypeiko, was bedeutet „Raum geben“, „nachgeben“, oder „sich anpassen“ – nicht unter Zwang, weil man eine untergeordnete Stellung innehätte, sondern als freiwillige Entscheidung. Die hier verwendeten Ausdrücke sind also viel weniger stark, als der Autoritarismus vorgibt. Es geht nicht um „Unterordung“ bloss weil jemand „Autorität“ ist. Es geht darum, „sich überzeugen zu lassen“ von jemandem, der uns tatsächlich überzeugt, mit dem Beispiel seines Lebens und seiner geistlichen Reife.

Einige Leiter wollen aus unserem Vers zusätzlich die Lehre ableiten, dass Christen vor ihren Leitern Rechenschaft ablegen müssten über alles, was sie tun. Aber die Grammatik des Verses ist eindeutig: Die „Rechenschaft ablegen werden“, sind die Leiter, nicht „eure Seelen“. Es sind die Leiter, die vor Gott Rechenschaft ablegen müssen über die Art und Weise, wie sie ihre Leiterschaft ausgeübt haben.

Die Priester in Jerusalem (also die religiösen Leiter) wollten den Aposteln verbieten, den Namen Jesu zu verkünden. Die Apostel antworteten: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apg.5,29). Die Priester waren im Irrtum, ihr Befehl war entgegen dem Willen Gottes; somit musste man ihnen nicht gehorchen. Dieses Prinzip widerlegt klar die Lehre, man müsse dem Leiter gehorchen, auch wenn er im Irrtum ist.

– „Die Leiter der Kirche sind Obrigkeiten.“

Einige benützen Römer 13,1: „Jedermann unterordne sich den herrschenden Obrigkeiten“, und wenden dies auf die kirchlichen Leiter an. Aber diese Stelle spricht einzig von der Staatsregierung! Das ist aus dem Zusammenhang klar ersichtlich. Der Abschnitt spricht von den „Regierenden“ árchontes, (13,3), die böse Taten bestrafen, sogar mit dem Schwert (v.4), und die Steuern erheben (v.6). Nichts davon trifft auf Gemeindeleiter zu; und die Leiter der Gemeinde heissen nirgends „árchontes“. Sie werden auch nicht „Obrigkeiten“ (exousíai, (13,1) genannt.
Dasselbe gilt für die Parallelstelle 1.Petrus 2,13-14.

– „Die Rebellion ist eine der schlimmsten Sünden.“

Als Beispiel wird oft Saul zitiert, zu dem Samuel sagte: „Gehorsam ist besser als Opfer, Aufmerken besser als Fett von Widdern. Denn Ungehorsam ist gerade so Sünde wie Wahrsagerei, und Widerspenstigkeit ist gerade so Frevel wie Abgötterei.“ (1.Sam15,22-23 ZÜ). – Das Problem mit dieser Auslegung besteht darin, dass der Text vom Ungehorsam Gott gegenüber spricht, nicht gegen einen Menschen. Es heisst weiter: „Weil du das Wort des Herrn verworfen hast, hat er dich verworfen als König.“ Das ist das Thema aller Bibelstellen, welche „Rebellion“ oder „Ungehorsam“ verurteilen: Es geht immer um die Rebellion gegen Gott, nicht gegen die Leiterschaft von Menschen.
Natürlich wollen die autoritären Leiter uns glauben machen, ihre Befehle seien identisch mit den Geboten Gottes. Aber diese Identität besteht nur da, wo das geschriebene Wort Gottes dasselbe sagt. Deshalb ruft uns die Schrift dazu auf, alles zu prüfen, was ein Leiter sagt, und das zu verwerfen, was nicht schriftgemäss ist.

– „Du hast nur dann den Schutz Gottes, wenn du unter einer ‚Abdeckung‘ stehst [einer hierarchischen menschlichen Leiterschaft]“.

Als Begründung wird oft Mat.8,9 zitiert, wo der Hauptmann von Kapernaum sagt: „Denn auch ich bin ein Mensch unter Autorität, und habe Soldaten unter meinem Befehl; und ich sage zu diesem: ‚Geh!‘, und er geht; und zum andern: ‚Komm!‘, und er kommt; und zu meinem Diener: ‚Tue dies!‘, und er tut es.“ So begründet der Hauptmann seine Überzeugung, dass Jesus Macht hat über die Krankheiten, und dass sein Diener allein durch das Wort Jesu geheilt werden würde. Deshalb – so der Autoritarismus – solle sich jeder Christ einer „Befehlshierarchie“ unterstellen, so wie der Hauptmann der militärischen Hierarchie unterstellt ist.
Diese Auslegung schiebt dem Text eine Anwendung unter, die nicht vorhanden ist. Der Hauptmann spricht von der Befehlsstruktur der römischen Armee, und von der Macht Jesu über Krankheiten (nicht über Menschen). Er sieht eine Analogie zwischen diesen beiden Arten von Autorität, weil die Armee die einzige Autoritätsstruktur ist, die er aus Erfahrung kennt. Soweit ist der Vergleich legitim, und Jesus lobt den Hauptmann für seinen Glauben. Aber beachten wir: für seinen Glauben daran, wer Jesus ist; nicht für seinen Glauben an eine
Befehlshierarchie.

Wenn wir darauf eine Lehre über die Leitungsstruktur der christlichen Gemeinde aufbauen wollen, dann gehen wir in die Irre. Die Gemeinde ist hier in keiner Weise im Blickfeld! Der Text gibt uns keine Grundlage zu behaupten, die Gemeinde müsse in derselben Weise organisiert sein wie die römische Armee, oder römische Hauptleute müssten uns belehren über die Struktur der christlichen Gemeinde. Wenn wir wissen wollen, was Jesus oder die Apostel zu diesem Thema sagen, dann müssen wir jene Aussagen in Betracht ziehen, die tatsächlich von der Gemeinde sprechen! Und wir haben in Teil 2 [LINK] gesehen, dass die Lehre Jesu und der Apostel in keiner Weise für eine „militärische“ Gemeindestruktur spricht. Wir haben dort auch gesehen, dass die Idee, menschliche Leiterschaft sei unser geistlicher Schutz, unbiblisch ist.

– „Gib deine Rechte auf.“

Jesus rief seine Jünger dazu auf, „sich selbst zu verleugnen, ihr Kreuz auf sich zu nehmen, und ihm zu folgen“ (Mat.16,24 u.a). Vertreter des Autoritarismus haben das zum Vorwand genommen, um zu verlangen, ein Christ solle sich völlig „hingeben“ an die Ansprüche seiner religiösen Leiter: „Gib dein Recht auf, über dein Leben zu entscheiden; tue, was dein Leiter dir sagt. Gib dein Recht auf, über die Wahl deiner Freunde zu entscheiden, über deine Arbeit, deinen Wohnort, wen du heiratest, … gehorche den Weisungen deiner Leiter. Gib dein Recht auf, recht zu haben; widersprich deinen Leitern nicht.“ Und wenn jemand gegen die Ansprüche der Leiter protestiert, wird ihm gesagt, er sei nicht genügend „hingegeben“.
Es geht hier aber wiederum darum, dass Jesus einzig davon spricht, sich ihm selber, dem Herrn, hinzugeben; nicht anderen Menschen. Gott ist der einzige, der ein Eigentumsrecht auf unser Leben geltend machen kann, weil er uns geschaffen hat und er uns erlöst hat. Kein Mensch auf der Erde hat das für uns getan. Deshalb darf kein Mensch auf der Erde von einem anderen diese „Hingabe“ verlangen, die nur der Herr verdient. „Mit einem Preis seid ihr erkauft worden; macht euch nicht zu Sklaven von Menschen“ (1.Kor.7,23). Der Herr Jesus ist berechtigt, uns in allen Aspekten unseres Lebens zu führen. Aber das tut er persönlich, nicht mittels fehlbarer Leiter: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir“ (Joh.10,27). Und wir dürfen darauf vertrauen, dass er das mit Liebe und zu unserem Besten tut, nicht wie die „Mietlinge“.

– „Richtet nicht.“

Wenn ein missbraucherischer Leiter wegen seiner Taten konfrontiert wird, verteidigt er sich oft mit diesen Worten (Mat.7,1).
Aber dieselben Leiter, die sich mit diesem Zitat verteidigen, richten die ganze Zeit! Oder ist es etwa kein „Richten“, die Geschwister in „Gehorsame“ und „Rebellen“ einzuteilen, je nachdem, ob sie alle Forderungen der Leiter erfüllen oder nicht? Ist es etwa kein „Richten“, einen Bruder unter Zensur zu stellen und auszuschliessen, nur weil er etwas gesagt hat, was dem Leiter missfällt? oder gar, weil er eine Sünde des Leiters aufgedeckt hat?
„Richten“ schliesst ein, dass ein Schuldspruch gefällt und eine Strafe verhängt wird. Es ist daher unsinnig, jemanden des „Richtens“ zu bezichtigen, der gar nicht die Macht hat, irgendwelche effektiven Strafen zu verhängen. Einige Leiter sind solche Heuchler, dass sie ihre Geschwister anklagen, einen „Richtgeist“ oder einen „kritischen Geist“ zu haben, „rachsüchtig“ oder „bitter“ und „rebellisch“ zu sein, während jene Geschwister keinerlei Macht oder Einfluss haben, um irgendwie die Machtposition des Leiters zu beeinträchtigen in der autokratischen Pyramidenstruktur, die er errichtet hat. Und oft stellen diese Leiter zum vornherein sicher, dass es innerhalb dieser Struktur keine Instanz gibt, die sie tatsächlich „richten“ könnte oder von ihnen Rechenschaft fordern könnte. Und gleichzeitig verhängen diese Leiter ständig Urteile von „Gemeindezucht“, Zensur, Ausschluss, Verfluchungen, Kontaktverbote, usw, gegen Geschwister, die es wagen, das Verhalten der Leiter in Frage zu stellen. Damit wendet sich dieses Argument des „nicht Richtens“ gegen die Leiter selber.

Das Wort vom Splitter und vom Balken (Mat.7,1-5) bezieht sich auf einen kleinen Fehler im Leben meines Bruders, den ich zu korrigieren versuche, ohne dass dieser Fehler mich selber schädigen würde. (Der Splitter im Auge meines Bruders beeinträchtigt nur ihn selber; er tut niemand anderem weh.)
Autoritäre Lehren und Machtmissbrauch gehören zu einer ganz anderen Kategorie: Sie schädigen und verletzen eine grosse Zahl von Menschen. Deshalb handelt es sich um Sünden, die gemäss den biblischen Anweisungen konfrontiert werden müssen. Wo Sünde oder falsche Lehre herrscht, da soll sehr wohl „gerichtet“ werden (1.Kor.5,3-5; 6,5; 14,29). Das soll mit Gerechtigkeit und ohne Ansehen der Person geschehen, auf der Grundlage des Wortes Gottes. „Die Gemeinde“ soll das tun, d.h. die Gemeinschaft aller Nachfolger des Herrn.

– „Wenn du unsere Gruppe verlässt, bist du abgefallen und unter dem Gericht Gottes.“

Diese Lehre missbraucht das Konzept des „Abfalls vom Glauben“, um die Mitglieder an die autoritäre Gruppe gebunden zu halten, und um zu verhindern, dass sie Hilfe oder auch nur Kontakte ausserhalb der Gruppe suchen. Aber im Neuen Testament bedeutet „Abfall“, die Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus zu verlassen, nicht die Gemeinschaft mit einer bestimmten Gruppe oder Organisation. Der Glaubensabfall ist eine Angelegenheit des persönlichen Glaubens und des Herzens, nicht der Zugehörigkeit zu dieser oder jener Gruppe. Ein Christ soll sogar eine Gruppe verlassen, wenn diese von falschen Lehren und Praktiken (z.B. Autoritarismus) beherrscht wird, aus Gewissensgründen und um seine eigene geistliche Gesundheit zu bewahren. „Hütet euch vor dem Sauerteig der Sadduzäer und Pharisäer“ (Mat.16,6). – „Geht hinaus aus ihrer Mitte, und trennt euch“ (2.Kor.6,17). – „Gehen wir also zu ihm hinaus, ausserhalb des Lagers, und tragen wir seine Schmach“ (Hebr.13,13).

– Mit einer religiösen Organisation oder deren Leitern einen „Bund“ schliessen und Verpflichtungen eingehen.

In letzter Zeit ist es in einigen Kreisen Mode geworden, dass Gemeindeglieder einen „Bund“ oder eine „Mitgliedschaftsverpflichtung“ unterschreiben müssen. Oft ist darin der Gehorsam den Leitern gegenüber enthalten, oder die regelmässige Teilnahme an gewissen Versammlungen, oder bestimmte finanzielle Verpflichtungen. Dafür gibt es keine biblische Grundlage. Die Schrift ruft uns auf, mit Gott einen Bund einzugehen, aber nicht mit Leitern auf dieser Erde. Es ist besser, keine Versprechen zu machen: „Besser, du gelobst gar nichts, als dass du gelobst und nicht hältst.“ (Pred.5,4 ZÜ). Keine der im Neuen Testament erwähnten Gemeinden unterwarf ihre Mitglieder irgendeiner „Mitgliedschaftsverpflichtung“.

In der Bibel gilt die Loyalität und Verpflichtung eines Christen immer dem Herrn, nicht einer irdischen Leiterschaft. Die Warnungen des Paulus in 1.Kor.1,12-13 und 3,3-4.21-23 richten sich nicht nur gegen die Bildung von „Parteien“ und Denominationen. Sie richten sich auch gegen die Praxis, einem Leiter eine Loyalität zu versprechen, die allein Christus gebührt. Ein Christ ist Eigentum Christi mit allem, was er ist und hat. Deshalb kann er sich nicht gleichzeitig einem irdischen Leiter hingeben mit einem „Gehorsamsbund“ o.ä. Solche Praktiken haben grosse Ähnlichkeit mit den Mönchsgelübden, wo auch unbedingter Gehorsam gelobt werden muss. In diesem Zusammenhang bekäme es uns gut, zu den Lehren der Reformation zurückzukehren und die Worte Luthers zu hören. Was er über das Papsttum sagt, müsste er heute auch vielen evangelikalen Kirchen sagen:

„Das soll klar sein: Weder der Papst, noch die Bischöfe, noch irgendein Mensch ist berechtigt, den Christen auch nur mit einer Silbe dem Gesetz zu unterwerfen, ohne dessen Einwilligung. Jede andere Art des Vorgehens ist Tyrannei. … Nun ist die Unterwerfung unter diese tyrannischen Gesetze und Einrichtungen dasselbe, wie sich unter die Knechtschaft von Menschen zu begeben.
… Den Christen können rechtmässigerweise weder Menschen noch Engel Gesetze auferlegen, ausser in dem Mass, wie die Christen selber es wünschen; wir sind vollständig befreit. … Deshalb richte ich meine Anklage gegen den Papst und gegen alle Papisten, und sage ihnen: Wenn sie nicht ihre Kirchengesetze und Traditionen widerrufen, wenn sie den Kirchen Christi nicht ihre Freiheit zurückgeben, wenn sie nicht veranlassen, dass diese Freiheit proklamiert wird, dann machen sie sich des Verderbens aller Seelen schuldig, die in dieser elenden Gefangenschaft zugrunde gehen, und das Papsttum wird nichts anderes sein als das Reich Babylons und des wahren Antichristen.“
Martin Luther, „Die babylonische Gefangenschaft der Kirche“, 1520 (rückübersetzt aus einer spanischen Ausgabe)

Steht fest in der Freiheit, für die uns Christus frei gemacht hat! – Teil 2

25. Februar 2019

Galater 5,1

Eine Untersuchung autoritärer Lehren und Praktiken in evangelikalen Kirchen und Organisationen

Was ist so schlimm an der Lehre von „Abdeckung“ und „Unterordnung“?

Sie ist unbiblisch.

Der erste Test für jede Lehre und Praktik ist immer: Entspricht es der Heiligen Schrift; insbesondere dem Neuen Testament?

Die Vertreter des Autoritarismus zitieren einige Bibelstellen als Begründungen. Aber bei näherer Untersuchung findet man meistens, dass diese Stellen aus dem Zusammenhang gerissen wurden, falsch angewandt werden, und/oder nicht wirklich das aussagen, was die Lehrer des Autoritarismus behaupten. In einem späteren Artikel werden wir einige dieser Stellen untersuchen. Zuerst aber sehen wir kurz, was Jesus und die Apostel über die Struktur der Gemeinde sagen, und über christliche Leiterschaft:

„Aber ihr sollt euch nicht Rabbi (Meister) nennen lassen; denn einer ist euer Meister, Christus; und ihr alle seid Brüder. Und nennt niemanden auf der Erde euren Vater, denn einer ist euer Vater, der in den Himmeln ist.“ (Mat.23,8-9)

„Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe. Aber der Angestellte, der nicht der Hirte ist und dem die Schafe nicht gehören, schaut zu, wie der Wolf kommt, und verlässt die Schafe und flieht …“ (Joh.10,11-12)

Die neutestamentliche Gemeinde ist eine Bruderschaft unter einem einzigen Vater; eine Herde unter einem einzigen Hirten. In diesen Bibelstellen gibt es keine hierarchischen Unterschiede zwischen einem Bruder und dem anderen, oder zwischen einem Schaf und dem anderen. Auch der berühmteste Apostel ist nicht mehr als ein Kind in der Familie des himmlischen Vaters; nicht mehr als ein Schaf in der Herde des guten Hirten. Im Leib Christi gibt es unterschiedliche Funktionen; aber diese Verschiedenheit begründet keine „Unterordnung“ unter eine Hierarchie, keine militärische „Befehlskette“.

„Und das Auge kann nicht zur Hand sagen: ‚Ich brauche dich nicht‘; noch der Kopf zu den Füssen: ‚Ich brauche euch nicht.‘ Im Gegenteil, jene Körperteile, die uns schwächer scheinen, sind viel notwendiger; und jene, die wir weniger wertschätzen, umgeben wir mit grösserer Wertschätzung (…) Aber Gott fügte den Körper (so) zusammen: er gab jenen grössere Wertschätzung, denen sie fehlt, damit der Körper einig sei, und damit die Glieder sich in gleicher Weise umeinander kümmern.“ (1.Kor.12,21-25)

Diese Worte stehen im Zusammenhang mit den verschiedenen „Gaben“ oder „Funktionen“, die Gott der Gemeinde gegeben hat: Apostel, Propheten, Lehrer, usw.

Jesus sprach zu seinen Jüngern sehr klar über die Gefahr, Strukturen der „Autorität und Unterordnung“ errichten zu wollen:

„Die Könige der Nationen machen sich zu Herren über sie [d.h. verlangen Unterordnung], und jene, die Autorität ausüben über sie, lassen sich Wohltäter nennen. Aber unter euch soll es nicht so sein; sondern der Grösste unter euch soll wie der Jüngste werden, und der Führende wie der Dienende. Denn wer ist wichtiger: der zu Tisch sitzt, oder der Dienende? Nicht der, der zu Tisch sitzt? Aber ich bin mitten unter euch wie der Dienende.“ (Luk.22,25-27, siehe auch Mat.20,25-28, 23,12, Joh.13,13-15, 1.Petrus 5,3.)

In dieser Hinsicht drücken sich die Schreiber des Neuen Testaments sehr genau aus. In einem säkularen Zusammenhang haben sie kein Problem damit, zu sagen, ein Leiter stehe „über“ anderen. Aber nie brauchen sie dieses Wort „über“, wenn sie von einem Leiter von Christen sprechen. Z.B. Mat.20,25-27: „Ihr wisst, dass die Regierenden der Nationen sich zu Herren über sie machen (wörtlich: „hinunter-herrschen“), und die Grossen üben Autorität über sie aus (wörtlich: „hinunter-Autorität ausüben“). Unter euch soll es nicht so sein; sondern wer gross sein möchte unter („en“ = wörtlich „in“) euch … und wer der Wichtigste sein möchte unter euch …“ – Diese Stelle macht deutlich, dass Autoritätsstrukturen, wie sie in den weltlichen Regierungen bestehen, nicht in die christliche Gemeinschaft hineingetragen werden sollen.

Von Christus sagt die Schrift, er sei „zum Haupt über alles“ erhoben worden (Eph.1,22). Aber von den christlichen Leitern heisst es: „… die unter euch arbeiten und euch vorstehen im Herrn …“ (1.Thess.5,12). Es heisst nicht „die über euch stehen“. Die Idee von „Oberen“ und „Untergebenen“ findet keine Anwendung in der neutestamentlichen Gemeinde. (Siehe auch 1.Petrus 5,2-3.)

Anstelle einer „vertikalen“ Struktur betont das Neue Testament viel stärker die „horizontalen“ Beziehungen, die „Einander-„Beziehungen im Leib Christi:

„Wir sind … Glieder voneinander“ (Röm.12,5, Eph.4,25)
„Liebt
einander.“ (Joh.13,34-35, Röm.12,10, 1.Petrus 1,22, 1.Joh. 3,11.23, u.a.)
„Tragt
einer des anderen Last …“ (Gal. 6,2)
„Und vergesst nicht Gutes zu tun, und die Gemeinschaft [untereinander] …“ (Hebr. 13,16)
„Beherbergt
einander ohne Murren.“ (1.Petrus 4,9)
„Legt die Lüge ab, und sprecht Wahrheit
jeder zu seinem Nächsten …“ (Eph.4,25)
„Ihr selber
[alle Gemeindeglieder] seid voll Tugend, voll aller Erkenntnis, fähig, auch andere zu ermahnen.“ (Röm.15,14)
„… lehrt und ermahnt
einander in aller Weisheit …“ (Kol.3,16)
„Ermutigt einander, und erbaut
einander“ (1.Thess.5,11)
„… um
einander anzuspornen zur Liebe und zu guten Taten …“ (Hebr.10,24)
„… indem ihr
zueinander sprecht mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern …“ (Eph.5,19)
„Bekennt
einander eure Übertretungen und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.“ (Jak.5,16)
„Seid gütig
zueinander, barmherzig, vergebt einander …“ (Eph.4,32)
„Ordnet euch
einander unter in der Furcht Gottes.“ (Eph.5,21)
„… und alle,
einander untergeordnet, zieht Demut an …“ (1.Petrus 5,5)

Die zwei letzten Stellen sind besonders wichtig, weil sie den Begriff der „Unterordnung“ enthalten, den der Autoritarismus so sehr betont. In der neutestamentlichen Gemeinde ist auch die „Unterordnung“ gegenseitig, sie geht in beide Richtungen. Es gibt keine „Oberen“, die von ihren „Untergebenen“ „Unterordnung“ verlangen könnten; der Herr ruft uns auf, uns einander unterzuordnen.

Was die Gemeindeleitung betrifft, so finden wir, dass alle neutestamentlichen Gemeinden, soweit wir darüber informiert sind, von einem Team von mehreren Leitern gemeinsam geleitet wurden. Das ist wichtig, weil so auch innerhalb des Leitungsteams die gegenseitige Unterordnung praktiziert wurde, nicht eine Unterordnung aller unter einen einzigen „Hauptleiter“.

Sie unterwirft das Volk Gottes einer unangemessenen Form von Autorität.

Die Vertreter des Autoritarismus stützen sich auf eine einzige Form von Autorität ab: die delegierte Autorität bzw. Autorität aufgrund einer Position. Das ist die Art von Autorität, die wir in den weltlichen Regierungen finden, oder in der Armee: Die Leiter kommen zu ihrer Position, weil sie von ihren Vorgesetzten dahin befördert wurden. Ihre Pflicht besteht darin, die Befehle ihrer Vorgesetzten an ihre Untergebenen weiterzuleiten. Die Untergebenen müssen jedem gehorchen, der eine „übergeordnete“ Position innehat, unabhängig vom Charakter dieser Person, und unabhängig davon, ob sie ihre Leiterschaft gut oder schlecht ausübt.

Jesus erklärte in Lukas 22,25-27 und Parallelstellen, dass in seinem Volk eine andere Art von Autorität gilt: die beziehungsmässige Autorität, bzw. Autorität aufgrund von Anerkennung. Das ist z.B. die Autorität eines älteren Freundes, dessen Ratschläge ich respektiere, weil ich ihn als einen reifen und weisen Christen kenne. Diese Art von Autorität zwingt sich nicht auf, und hat nichts zu tun mit einer „Position“ oder einem „Amt“, das mein Freund innehätte. Sie beruht darauf, wer er ist, und auf meiner Anerkennung seiner Qualitäten. (Einige Autoren nennen diese Art von Autorität eine moralische Autorität.)

In den folgenden Zitaten finden wir weitere Hinweise darauf, dass dies die Art von Autorität ist, die in der neutestamentlichen Gemeinde ausgeübt wurde:

„Sucht also, Brüder, sieben Männer unter euch mit gutem Zeugnis, voll des Heiligen Geistes und Weisheit, die wir über diese Notwendigkeit einsetzen können…“ (Apg.6,3)

Das war keine „Delegation“ oder „Beförderung“ gewisser Personen von seiten der Apostel, um die neuen Verantwortungen wahrzunehmen. Stattdessen wurde die ganze Gemeinde gebeten, Personen zu suchen mit den nötigen Qualifikationen. Mit anderen Worten, die Sieben wurden ausgewählt aufgrund ihrer Anerkennung durch die Gesamtgemeinde.

„Aber von jenen, die als etwas gelten (…), mir haben jene, die etwas gelten, nichts auferlegt (…) Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen gelten…“ (Gal.2,6.9)

Jakobus, Kephas (Petrus) und Johannes galten als „Säulen“, nicht aufgrund einer „Position“, die sie innegehabt hätten, sondern wegen ihrer hohen Wertschätzung in der Gemeinde. Das mit „gelten“ übersetzte Wort (dreimal dokéo) bedeutet „denken, meinen, [jemandem] scheinen, ansehen [als]“, manchmal auch „wertschätzen“. Die Autorität dieser drei Leiter gründete sich auf der Anerkennung ihrer Qualitäten durch die ganze Gemeinde.

1.Tim.3 zählt einige Anforderungen an Leiter auf. Diese Anforderungen zeigen, dass die Autorität der Ältesten nicht darauf beruhte, in ein „Amt“ eingesetzt worden zu sein (delegierte Autorität), sondern auf dem Erweis ihrer persönlichen Qualitäten und Integrität (moralische Autorität).
Das entspricht auch der Art und Weise, wie die Ältesten in Israel gewählt wurden: Die Stämme oder Sippen wählten die reifsten und weisesten Familienväter zu Ältesten. Ihre eigenen Familienmitglieder und nächsten Bekannten konnten diese Qualitäten bezeugen, und so entscheiden, welche Personen Älteste sein sollten.

In einigen Bibelübersetzungen scheint Apg.14,23 dieser Ansicht zu widersprechen: „Und sie [Paulus und Barnabas] setzten in jeder Gemeinde Älteste ein…“ Das kann den Eindruck vermitteln, die Apostel hätten bestimmte Gemeindeglieder zu Ältesten „ernannt“ oder „befördert“. Aber das mit „einsetzen“ übersetzte Wort ist cheirotonéo, „durch Handaufheben bestätigen“. Die Apostel entschieden also nicht allein. Wir können annehmen, dass ihre Meinung grosses Gewicht hatte, da sie als erste das Evangelium gebracht hatten. Aber die Anerkennung von seiten der Gemeinde hatte mindestens dasselbe Gewicht.

Hierarchische Strukturen in der Form einer „Befehlskette“ mögen in einer weltlichen Regierung oder in der Armee angebracht sein. Aber wenn sie in die Gemeinde Gottes eingeführt werden, dann wird der Gemeinde eine fremde Art von Autorität aufgezwungen, die weltlich und nicht biblisch ist.

Sie hält das Volk Gottes in der Unreife fest.

Die Mitglieder einer autoritären Gruppe sind vom Leiter abhängig. Der Leiter muss für sie die Bibel auslegen; muss für sie beten; muss ihnen sagen, was sie tun und lassen sollen, sogar in ihrem Privatleben… Dieser Lebensstil mag vielen Menschen anziehend erscheinen, die nicht gerne für ihr Leben Verantwortung übernehmen. Sie können dann in der Illusion leben, ihre Leiter seien für alles verantwortlich. Wo es keine Entscheidungsfreiheit gibt, da ist auch keine Gelegenheit, Verantwortlichkeit zu lernen und auszuüben.

Aber Gott möchte nicht, dass wir einen solchen sklavischen Geist haben. Er möchte uns den Geist von Söhnen geben, freien und verantwortlichen Söhnen, die in der Liebe des Vaters Sicherheit finden. „Denn ihr habt nicht einen Geist der Sklaverei empfangen, um wiederum Angst zu haben. Sondern ihr habt einen Geist der Adoption empfangen, in dem wir rufen: ‚Abba („Papi“), Vater!‘ Der Geist selber bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ (Röm.8,15-16). Wer als Kind Gottes adoptiert worden ist, der wird sich nicht wieder in eine sklavische Abhängigkeit von menschlichen Leitern begeben.

„Steht also fest in der Freiheit, für die uns Christus frei gemacht hat, und lasst euch nicht wieder einem Joch der Sklaverei unterwerfen.“ (Gal.5,1)

„Er (Christus) hat euch mit einem Preis erkauft; werdet nicht Sklaven von Menschen.“ (1.Kor.7,23)

Der direkte Zugang zu Gott ist ein äusserst wichtiger Aspekt des christlichen Lebens:

„Da wir also einen grossen Hohenpriester haben, der durch die Himmel hindurchgegangen ist, Jesus, den Sohn Gottes, lasst uns am Bekenntnis festhalten. (…) Treten wir also mit Freimut zum Gnadenthron hinzu, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade von Gott finden zur rechtzeitigen Hilfe.“ (Hebr.4,14-16)

„Also, Brüder, da wir Freimut haben, in das Allerheiligste einzutreten durch das Blut Jesu, welches ein neuer und lebendiger Weg ist, den er für uns eingeweiht hat durch den Vorhang hindurch, das ist sein Fleisch, und einen grossen Priester über das Heim Gottes, lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in der Fülle des Glaubens, die Herzen besprengt [zur Reinigung] vom schlechten Gewissen, und den Körper gewaschen mit reinem Wasser.“ (Hebr.10,19-22)

Dieser Zugang geschieht durch Jesus Christus. Wir brauchen keine Vermittlung durch einen Leiter, Priester, Pastor, oder irgendeinen anderen Menschen auf Erden.

„Denn Gott ist einer, und einer ist Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus.“ (1 Tim.2,5)

Der Herr möchte auch jedes Glied seines Volkes direkt und persönlich führen und lehren:

„Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir.“ (Joh.10,27)

„Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass jemand euch lehrt, sondern wie die Salbung selber euch über alles belehrt …“ (1.Joh.2,27)

Diese direkte Beziehung zu Gott geht verloren, wenn Christen sich angewöhnen, in allen Aspekten des christlichen Lebens von ihren Leitern abhängig zu sein. Sie wissen dann nicht, wie sie selber die Bibel verstehen können; sie sind sich nicht gewohnt, selber zu beten; sie wissen nicht, wie sie selber Gottes Führung für ihr Leben suchen können; sie wissen nicht, wie sie den Versuchungen widerstehen können, oder wie sie sich gegen Angriffe und gegen falsche Lehren wehren können.

Die neutestamentliche Gemeinde in Matthäus 23 (Teil 1)

3. November 2016

In einer Reihe früherer Betrachtungen haben wir die Worte des Herrn in Matthäus 18 über die Gemeinde untersucht. Ich möchte mich nun einer anderen Schriftstelle zuwenden:

„Aber ihr sollt euch nicht ‚Rabbi‘ nennen lassen; denn einer ist euer Meister, der Christus; und ihr alle seid Brüder. Und nennt niemanden auf Erden euren Vater, denn einer ist euer Vater, der in den Himmeln ist. Lasst euch auch nicht Meister(Lehrer) nennen, denn einer ist euer Meister, der Christus. Aber der grösste von euch sei euer Diener. Und jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und jeder, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Matthäus 23,8-12)

Es lohnt sich, das ganze Kapitel zu lesen, denn es ist eines, über das in den heutigen Kirchen kaum je gepredigt wird!

In diesem Abschnitt kommt zwar das Wort „Gemeinde“ nicht vor; aber er sagt uns einige wesentliche Dinge über die Beziehungen zwischen ihren Gliedern.

Die neutestamentliche Gemeinde ist keine Hierarchie.

„Ihr alle seid Brüder.“ Mit diesen Worten (Zusammenhang beachten!) stellte Jesus alle seine Nachfolger auf dieselbe Stufe. Es sollte unter ihnen keine „Meister“ über „Schülern“ geben, keine „Väter“ über „Söhnen“. Es gibt nur Einen, der über die Gemeinde herrscht: Jesus selber.

Wir dürfen diese Stelle nicht so spitzfindig auslegen, als ob Jesus hier nur den Gebrauch der drei Titel „Rabbi“, „Vater“ und „Meister“ verboten hätte. Tun wir etwa besser, wenn wir stattdessen die Titel „Pfarrer“, „Pastor“, oder vielleicht „Professor“ oder „Doktor“ benützen? – Lesen wir den Zusammenhang. Jesus spricht hier gegen jede besondere Behandlung, die jemand seines „höheren Ranges“ wegen beansprucht oder erhält. Als Beispiel erwähnt er die Schriftgelehrten (Rabbiner, Theologen) seiner Zeit: „… und sie lieben die Ehrenplätze bei den Banketten und in den Synagogen, und die Begrüssungen auf den Plätzen, und dass die Menschen sie ‚Rabbi, Rabbi‘ nennen.“ (Verse 6-7) Die Parallelstellen Markus 12,38 und Lukas 20,46 erwähnen ausserdem, dass sie „gerne in feinen Kleidern umhergehen.“ All dies sind typische Attribute einer Person, die eine gewisse hierarchische Position innehat; und wir können dieselben Attribute bei den Leitern vieler heutiger Kirchen beobachten:

  • Sie tragen besondere Kleidung.
  • Sie werden besonders respektvoll begrüsst.
  • Sie tragen einen besonderen Titel.
  • Bei Anlässen haben sie herausgehobene (Sitz-)Plätze inne.

Nach den Worten Jesu hat nichts von dem Platz in der neutestamentlichen Gemeinde!

Es ist immer gut nachzuforschen, an wen sich eine bestimmte Bibelstelle richtet. Matthäus 23,1: „Dann sprach Jesus zu der Volksmenge und zu seinen Jüngern (den zukünftigen Aposteln): …“ Damit ist klar, dass es nach der Absicht Jesu auch keine hierarchischen Unterschiede zwischen den Aposteln und den „gewöhnlichen Christen“ geben sollte.

Und die Apostel hielten sich daran! Wenn wir die Apostelgeschichte und die apostolischen Briefe lesen, finden wir nirgends, dass jemand das Wort „Apostel“ als einen Ehrentitel gebraucht hätte, wenn er einen Apostel ansprach. Nirgends lesen wir, dass sich die Apostel durch besondere Kleidung oder besondere Sitzplätze ausgezeichnet hätten, oder dass sie irgendein anderes besonderes Vorrecht von seiten anderer Christen eingefordert oder erhalten hätten.

Es ist richtig, dass die Apostel eine besondere Funktion in der Gemeinde erfüllten. Wir müssen verstehen, dass jeder Christ seine besondere „Funktion“ im „Leib Christi“ hat. (Siehe Römer 12,3-8, 1.Korinther 12,4-31). Aber diese Verschiedenheit der Funktionen begründet keine hierarchische Rangordnung. (Die Unterscheidung zwischen „Funktion“ und „Rang“ ist schwierig zu verstehen in der heutigen Zeit, wo wir daran gewöhnt sind, dass jede Institution hierarchisch funktioniert. So Gott will, werde ich in zukünftigen Betrachtungen auf diesen Punkt zurückkommen.) – Und die Apostel erfreuten sich eines besonderen Respekts in den Gemeinden – aber nicht, weil sie eine bestimmte „hierarchische Position“ innegehabt hätten, sondern wegen ihrer geistlichen Reife, ihrer Nähe zu Jesus, und ihrer besonderen Eigenschaft als Zeugen der Auferstehung.

Die Tendenz zu einer hierarchischen Organisation der Gemeinden begann allmählich im Lauf des zweiten Jahrhunderts, nach dem Tod der Apostel, und war die Erfüllung von Paulus‘ Warnung in Apostelgeschichte 20,29-32. Aber diese Tendenz konnte sich nicht vollständig durchsetzen, solange die christliche Gemeinde eine machtlose Minderheit in der Welt war. Die grosse Veränderung geschah erst dreihundert Jahre nach den Anfängen der Gemeinde, zur Zeit der Kaiser Konstantin und Theodosius. Konstantin tat den ersten Schritt, indem der das Christentum als „erlaubte Religion“ im Römischen Reich offiziell anerkannte. Damit hörten die Verfolgungen auf, und Konstantin gewann die Sympathie vieler Christen. Dann wagte er es, in innerkirchliche Angelegenheiten einzugreifen: Es war Konstantin, der das berühmte Konzil von Nicäa (325) einberief, und er war es, der das Konzil entscheidend beeinflusste, das Nicänische Glaubensbekenntnis zu unterschreiben.

Heute feiern viele Historiker dieses Konzil als einen Sieg der biblischen Lehre über die Irrlehre des Arianismus. Aber Konstantin interessierte sich kaum für diese Lehrfrage. Sein einziges Interesse lag darin, die Einheit des Reiches zu bewahren; und zu diesem Zweck musste er erreichen, dass eine der streitenden Parteien einen vollständigen Sieg über die andere errang. So masste er sich eine kirchliche Funktion an, die ihm nicht zukam. (Tatsächlich war Nicäa nur ein vorübergehender „Sieg“. Kurz danach errang der Arianismus mehr Einfluss als je zuvor.)
Aber Konstantin ist nicht der einzige, der hier getadelt werden muss. Warum beschlossen die Kirchenführer nicht, die Angelegenheit unter sich zu regeln? Warum erlaubten sie Konstantin, über innere Angelegenheiten der Kirche zu entscheiden? Hatte die damalige Kirche bereits ihr geistliches Unterscheidungsvermögen verloren? und gab es auch dort „keinen Weisen, der unter seinen Brüdern hätte Recht sprechen können“?

Wie dem auch immer sei, mit Konstantin begann die Verstaatlichung der Kirche. Theodosius führte diesen Prozess zu Ende, indem er das Christentum zur obligatorischen Staatsreligion des Römischen Reiches erklärte. Wir können uns leicht die Folgen dieses Erlasses vorstellen. Die Kirchen füllten sich mit falschen Christen!
Zu jener selben Zeit wurde die Kirche neu strukturiert nach dem Vorbild der weltlichen Verwaltung. D.h. die Kirche nahm dieselben hierarchischen Strukturen an und dieselben geographischen Einteilungen, welche die römischen Kaiser zur Verwaltung ihres Reiches benützten. Diese Veränderung beunruhigte kaum noch jemanden, da die Kirche bereits daran gewöhnt war, sich mit dem Staat zu vermischen; und die echten Christen waren zu jener Zeit bereits eine kleine Minderheit in der Kirche. So kam es, dass die Kirche römisch wurde.

Die hierarchische Struktur, die wir im römischen Katholizismus sehen, und die auch von den meisten evangelischen und evangelikalen Kirchen mit nur geringfügigen Änderungen übernommen wurde, beruht also nicht auf dem Neuen Testament. Sie ist ein Erbe der weltlichen Regierung Roms.

Das Neue Testament – „Amtliche Version“ (Teil 2)

31. März 2012

Andere Ausdrücke für „Diener“

Es gibt im Griechischen des Neuen Testamentes einige andere sinnverwandte Wörter für „Diener“. Eines davon ist „hypäretäs“, das u.a. für Synagogen-, Gerichts-, u.ä. „offizielle“ Diener gebraucht wird. In den beiden von mir hier verwendeten Übersetzungen ist dieses Wort an keiner Stelle „amtlich“ übersetzt worden; aber vielleicht gibt es andere Übersetzungen (so gesehen z.B. im Spanischen), die das tun.

Ein anderes solches Wort ist „leitourgós“. Davon abgeleitet ist „leitourgía“ (Dienst); ein Ausdruck, der im Neuen Testament vor allem für zweierlei Dinge verwendet wird: für finanzielle Dienstleistungen, und für den Dienst eines jüdischen Priesters nach der Ordnung des Alten Testaments. Von daher kommt unser Wort „Liturgie“. Hier fällt mir auf, dass dieses Wort seinen Ursprung im alttestamentlichen Priestertum hat, welches mit dem Kommen Jesu hinfällig geworden ist. Der neutestamentliche Gläubige braucht keinen Priester oder Mittler mehr, um sich Gott zu nähern, denn die Mittlerschaft von Jesus Christus genügt dazu völlig (1.Tim.2,5, Hebr.10,19-22). Andererseits ist jeder Christ ein Priester vor Gott (1.Petrus 2,5.9). Der ursprüngliche Sinn von „Liturgie“ bezieht sich also auf etwas, was wir als Christen gar nicht mehr nötig haben!

Luther übersetzt „leitourgía“ in Lukas 1,23 und Hebräer 8,6 mit „Amt“ (es geht hier um den alttestamentlichen Priesterdienst), während die Zürcher Übersetzung an diesen Stellen „Dienst“ sagt. In Hebräer 9,21 haben dagegen beide Übersetzungen „Gottesdienst“. (Was ist „Gottesdienst“? Eine rituelle Verrichtung, oder ein Leben im Gehorsam Gott gegenüber? Das Problem liegt hier nicht so sehr in der Übersetzung, als vielmehr in unserem heutigen (Miss-)Verständnis des Wortes „Gottesdienst“.)
– In Philipper 2,30 sagt Luther „dienen“ und in 2.Korinther 9,12 „Steuer“ (in diesen beiden Stellen geht es um finanzielle Hilfe); die Zürcher Bibel übersetzt in beiden Stellen „Dienstleistung“. – Ein besonderes Problem scheint den Übersetzern Philipper 2,17 gewesen zu sein: „Und wenn ich auch als Trankopfer ausgegossen werde über dem Opfer und Dienst (leitourgía) eures Glaubens, so freue ich mich und freue mich mit euch allen.“ Die Lutherübersetzung hat hier „Gottesdienst“ (statt einfach „Dienst“); die Zürcher Übersetzung sagt „priesterliche Darbringung“ (wohl aus der Überlegung heraus, dass „leitourgía“ in anderem Zusammenhang für den Priesterdienst verwendet wird). Aber diese Übersetzungen bringen bereits ein bestimmtes Vorverständnis über die Auslegung mit hinein. Natürlich ist diese Stelle nicht so einfach zu verstehen, weil Paulus hier neutestamentliches christliches Leben in alttestamentlichen Begriffen ausdrückt. Aber warum nicht diese Verständnis- und Auslegungsarbeit dem Leser überlassen, indem man einfach das neutrale Wort „Dienst“ als Übersetzung gebraucht? – Dasselbe gilt für die anderen angeführten Stellen.


Hierarchische Stellung, oder einfache Beschreibung einer Funktion?

Untersuchen wir jetzt einige Ausdrücke, die für spezifische „Ämter“ (Dienste) verwendet werden.

Beginnen wir mit dem „Bischof“ – ein Ausdruck, der bereits im zweiten Jahrhundert so gebraucht wurde, als handelte es sich um die „höchste Stufe in der kirchlichen Hierarchie“. „Bischof“ ist eine verballhornte Form des griechischen „epískopos“, was wörtlich „Aufseher“ bedeutet. Genauso wie „diákonos“, handelt es sich um einen Begriff, der ursprünglich kein bestimmtes „Amt“ bedeutete. Er bezeichnete einfach die Tätigkeit der Fürsorge und Wachsamkeit für andere. Es würde keineswegs schaden, „epískopos“ mit „Aufseher“, „Fürsorger“ o.ä. zu übersetzen, statt des künstlichen Wortes „Bischof“.
Dieses Wort kommt fünfmal im Neuen Testament vor (Apg.20,28, Phil.1,1, 1.Tim.3,2, Titus 1,7, 1.Petrus 2,25). Von diesen Stellen gibt uns jene in der Apostelgeschichte eine besondere Information: Paulus spricht hier zu den versammelten Ältesten von Ephesus (Apg.20,17), und zu ihnen sagt er, dass „euch der Heilige Geist gesetzt hat zu Bischöfen (Aufsehern)„. Somit ist „Bischof“ (Aufseher) kein „Amt“ für sich; es handelt sich einfach um eine der Funktionen der Ältesten.

Von „epískopos“ abgeleitet ist das Verb „episkopéo“ (Aufsicht üben; achtgeben). Es kommt zweimal vor im Neuen Testament: In 1.Petrus 5,2 wird es als eine Funktion der Ältesten genannt (Luther übersetzt „wohl zusehen“; während die Zürcher Übersetzung das Wort auslässt). Und in Hebräer 12,15 wird es als eine der Funktionen aller Mitglieder der christlichen Gemeinschaft genannt, und wird übersetzt mit „darauf sehen“ oder „zusehen“.

Dann gibt es noch das Wort „episkopé“ (Aufsicht), welches in diesem Sinn vorkommt in Apg.1,20 und 1.Tim.3,1. In der Timotheusstelle wird es einhellig als „Bischofsamt“ übersetzt (obwohl es sich in Wirklichkeit, wie wir gesehen haben, um eine der Funktionen der Ältesten handelt.) In der Apostelgeschichte, wo gesagt wird, jemand müsse die „episkopé“ des Judas übernehmen, sagt die Zürcher Übersetzung „Vorsteheramt“ (auch in Apg.20,28 und Phil.1,1 übersetzt diese Version „Vorsteher“, nicht „Bischof“). – Es gibt aber keinen Wortbestandteil in „episkopé“, der „Amt“ bedeutet. – Luther sagt dagegen in Apg.1,20 „Bistum“. (Was für einem „Bistum“ ist Judas vorgestanden??)
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass „episkopé“ noch einen anderen Sinn hat, nämlich den der „Aufmerksamkeit“ Gottes oder seines Eingreifens. In diesem Sinn kommt das Wort in Lukas 19,44 und 1.Petrus 2,12 vor und wird normalerweise mit „Heimsuchung“ übersetzt.

Wenn wir nun zu dem Begriff des „Ältesten“ (presbýteros) kommen, so habe ich keine Probleme mit der Übersetzung. Wörtlich handelt es sich zwar um einen Komparativ („die Älteren“) – was bedeutet, dass in dem Fall, wo eine Gemeinde ausschliesslich aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen besteht, die „Älteren“ weniger als dreissig Jahre alt sein könnten. Aber von mir aus gesehen macht es keinen grossen Unterschied, ob man „die Älteren“ oder „die Ältesten“ sagt. Es ist ein Begriff, der weitgehend seinen normalen Wortsinn beibehalten hat. „Alt“ oder „Ältester“ zu sein, ist keine hierarchische Stellung; es ist eine Anerkennung aufgrund der (v.a. geistlichen) Reife, die von den übrigen Geschwistern im Leben dieser Personen festgestellt wird.
Einige Gemeinden haben zwar auch die Funktion der Ältesten zu einem hierarchischen „Amt“ gemacht. Dabei sind in den meisten dieser Gemeinden die „Ältesten“ dem „Pastor“ untergeordnet, wodurch sie faktisch zu „Zweitältesten“ degradiert werden. Ein solches Zweistufenschema (Älteste-Pastor) ist in der Bibel nicht zu finden.
Ein kleines Problem habe ich mit der Übersetzung von 1.Timotheus 4,14, wo die Kollektivform „presbytérion“ (Gemeinschaft der Ältesten) vorkommt. Die Zürcher Übersetzung macht daraus einen „Rat der Ältesten“, was dem Begriff sofort einen Beigeschmack von „Amtlichkeit“ und „Parlamentssitzung“ gibt. Luther sagt dagegen schlicht – und richtiger – „unter Handauflegung der Ältesten„.
Es gibt Denominationen, die auch diesen Begriff in ihre eigene Sprache aufgenommen haben und die Behörde des „Presbyteriums“ eingeführt haben (so gibt es z.B. die „Presbyterianische Kirche“). Ich denke, deutschsprachige Leser werden schnell die Künstlichkeit dieses Begriffs erkennen.

Sehen wir uns jetzt das Wort an, das die Evangelischen bzw. Evangelikalen normalerweise für ihre Gemeindeleiter gebrauchen: „Pastor“ (oder davon abgeleitet „Pfarrer“).
Es handelt sich dabei um das Wort „Hirte“ auf lateinisch; im Griechischen des Neuen Testamentes heisst es „poimén“ und wird durchwegs richtig und natürlich mit „Hirte“ übersetzt. Auffallend ist jetzt aber, dass dieses Wort im Neuen Testament nur ein einziges Mal im Zusammenhang mit geistlichem Dienst vorkommt: in Epheser 4,11, fast am Ende einer Liste von fünf verschiedenen „Gaben zur Auferbauung der Heiligen“. Ausserdem kommt es in sieben neutestamentlichen Versen in seinem eigentlichen Sinn vor (Viehhirte); sowie in neun Versen, in denen sich Jesus selber mit einem Hirten vergleicht.
Natürlich hatten die Christen jener Zeit keinerlei „amtliche“ oder „hierarchische“ Vorstellung, wenn sie das Wort „Hirte“/“Pastor“ hörten! Sie hatten niemals einen gutgekleideten Mann auf einer Kanzel stehen sehen, der sich „Hirte“/“Pastor“ nennen liess. Die einzigen Hirten, die sie kannten, waren eben die Kuh- und Schafhirten ihrer ländlichen Umgebung. Wenn sich also Jesus mit einem Hirten verglich, dann war das ein Ausdruck äusserster Demut. Er verglich sich mit einer der einfachsten und ärmlichsten Tätigkeiten, die in seinem Umfeld ausgeübt wurden!

Es gibt ausserdem das abgeleitete Verb „poimaino“ (weiden; als Hirte hüten). Dieses Wort kommt zweimal in seinem eigentlichen Sinn vor (Vieh weiden), und fünfmal als Beschreibung von Jesus. Als Funktion in der christlichen Gemeinschaft kommt es an drei Stellen vor (Johannes 21,6, Apostelgeschichte 20,28, und 1.Petrus 5,2). In Johannes 21 handelt es sich um den Auftrag Jesu an Petrus. In der Apostelgeschichte und im 1.Petrusbrief geht es um eine Funktion der Ältesten. (In diesem Zusammenhang nennt sich auch Petrus selber im vorangehenden Vers „Ältester“.)
Der „Hirtendienst“ bzw. das „Pfarramt“ ist also, ebenso wie das „Bischofsamt“, in Wirklichkeit kein gesondertes „Amt“. Es ist einfach eine der Funktionen der Ältesten in der Gemeinde.

Dann gibt es noch ein griechisches Wort, das in verschiedenen Übersetzungen, und sogar an verschiedenen Stellen innerhalb derselben Übersetzung, ganz unterschiedlich wiedergegeben wird. Es erstaunt mich eigentlich, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, aus diesem Wort eine kirchlich-hierarchische „Amtsbezeichnung“ zu machen. Es handelt sich um das Wort „hägoúmenos“, das wörtlich „Führer“ oder „Leiter“ bedeutet. Von allen neutestamentlichen Begriffen ist das also derjenige, der unserem heutigen Konzept von „Leiterschaft“ am nächsten kommt.

Im Neuen Testament kommt „hägoumenos“ siebenmal vor. In Apostelgeschichte 7,10 wird es mit „Fürst“ bzw. „Regent“ übersetzt und bezieht sich auf die Regierungsstellung Josefs in Ägypten. In Matthäus 2,6 wird es mit „Herzog“ bzw. „Herrscher“ übersetzt und spricht von der Stellung des verheissenen Messias. In Lukas 22,26 spricht es von Leiterschaft im allgemeinen und wird mit „der Vornehmste“ bzw. „der Hochstehende“ übersetzt. In Apg.15,22 werden massgebende Männer in der christlichen Gemeinde und Reisebegleiter von Paulus und Barnabas so genannt. Die Zürcher Bibel übersetzt hier mit „führende Männer“; Luther – ziemlich unangebracht – mit „Lehrer“. Es ist interessant, dass das Neue Testament gerade hier, wo es um das Eigentliche von „Leiterschaft“ und Einfluss in der Gemeinde geht, keine spezifische „Amts-“ oder Funktionsbezeichnung gebraucht, sondern ein Wort, das eben nur gerade dies spezifisch ausdrückt: Leiterschaft.
Die meistzitierten (und am meisten missbrauchten) Stellen über „haegoúmenoi“ sind aber Hebräer 13,7 und 17 (und dazu am Rande noch Vers 24). Insbesondere Vers 17 wird oft als Begründung für die berühmt-berüchtigte Lehre von der „Unterordnung unter die Leiterschaft“ zitiert. Die Zürcher Bibel übersetzt hier mit „Vorsteher“, Luther wiederum mit „Lehrer“.
(Luther sah im Lehrdienst die wichtigste Aufgabe eines reformierten Pfarrers. Er hat damit leider das katholische Priester- und Sakramentssystem nicht wirklich überwunden, sondern ihm lediglich einen anderen Akzent gegeben. Er hat zwar dem Pfarrer seine priesterliche Mittlerfunktion genommen, die nur Jesus allein zukommt; aber dafür hat er ihm eine nicht weniger gefährliche andere Macht- und Monopolstellung verschafft: Er machte aus dem Pfarrer einen gelehrten Akademiker, der aufgrund seiner Studien über „geheimes Wissen“ verfügt, das gewöhnlichen Laien nicht zugänglich ist. „Wissensvermittlung“ ist aber nicht das Eigentliche am neutestamentlichen Lehrdienst, wie wir in der nächsten Folge sehen werden.)

Rechtfertigt nun Hebräer 13,17 den autoritären Leitungsstil, den allzuviele „Pastoren“ heutzutage ausüben? – Dieser Frage im Detail nachzugehen, würde hier zu weit führen. Ich hoffe mich ein anderes Mal damit befassen zu können. Hier nur stichwortartig drei Gründe, warum das nicht der Fall ist:

1. Dieser Vers identifiziert die „hägoúmenoi“ in keiner Weise mit den „Hirten“/“Pastoren“. Wir haben bereits gesehen, dass ein spezifisches „Pastorenamt“ (im heutigen Sinn) im Neuen Testament gar nicht existiert.
2. Die „hägoúmeoi“ werden in der Mehrzahl genannt; d.h. es gibt nicht nur einen einzigen von ihnen in der Gemeinde. Die Gemeinden im Neuen Testament wurden immer von einem Team von mehreren Leitern geleitet, nie von einem allein.
3. Die lehrreichste Stelle über die Rolle eines „hägoúmenos“ in der Gemeinde finden wir in Lukas 22,25-26. Da sagt Jesus, der Herr:

„Die Könige der Völker üben die Herrschaft über sie aus, und ihre Gewalthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr dagegen nicht so! Sondern der Grösste unter euch soll werden wie der Jüngste, und der Hochstehende (=Leiter, hägoúmenos) wie der Dienende (diakonéo).“

In der christlichen Gemeinde darf sich also auch ein „hägoúmenos“ (Leiter) nicht anmassen, mehr zu sein als ein „diákonos“ (Diener). Er muss sogar umso mehr Diener werden, je wichtiger er sein möchte.

(Fortsetzung folgt)

Das Neue Testament – „Amtliche Version“

23. März 2012

Wenn ich über neutestamentliche Gemeinde sprechen will, stehe ich immer wieder vor dem Problem, dass die meisten unserer Bibelausgaben das Verständnis dieses Themas erschweren. Fast alle von uns haben sich angewöhnt, das Neue Testament in einer „amtlichen Version“ zu lesen. D.h. eine Übersetzung, die das gegenwärtige traditionelle Kirchenmodell voraussetzt, mit einem Pfarrer oder Pastor, der „predigt“, und vielen passiven Zuhörern, die dem Pastor folgen.

Da ich schon lange nicht mehr im deutschen Sprachraum lebe, habe ich keinen Überblick mehr über die deutschen Bibelübersetzungen. Ich nehme die Beispiele für diesen Artikel aus zwei älteren Versionen, die ich gerade zur Hand habe: die Lutherbibel in der Revision von 1912 und die Zürcher Bibel (Zwingli) in der Revision von 1931. Der Leser möge selber seine eigene Lieblingsübersetzung mit den folgenden Angaben zum Urtext vergleichen.

Im allgemeinen bin ich sehr für die älteren Bibelausgaben, da sie in der Regel noch näher am Urtext sind. Aber was das hier behandelte Thema betrifft, so sind diese – insbesondere die Lutherübersetzung, wie wir sehen werden – auch sehr „amtlich“, und verdunkeln damit den Sinn dessen, was die neutestamentliche Gemeinde wirklich war.

Das betrifft insbesondere das Wort „Amt“ selber. Woran denken wir zuerst, wenn wir z.B. vom „Predigtamt“ hören? An einen gutgekleideten „Pfarrer“ oder „Prediger“, der auf der Kanzel steht und über die Kirche regiert? Das vermittelt uns von Anfang an eine völlig verkehrte Vorstellung von der Gemeinde, die im Neuen Testament beschrieben wird. In Wirklichkeit existiert das Wort „Amt“ im Neuen Testament gar nicht! Wo es in den Übersetzungen vorkommt, steht im Urtext meistens eines von mehreren Wörtern, die schlicht „Dienst“ bedeuten und mit anderen Wörtern verwandt sind, die auch meistens mit „Diener“ übersetzt werden. Wären die „amtlichen Versionen“ konsequent, dann müssten sie statt von „Dienern Gottes“ von „Amtsträgern Gottes“ sprechen.

Vom Neuen Testament her gibt es aber keinerlei Grundlage, einen „Amtsträger“ über eine Gemeinde zu setzen und ihm Privilegien zu geben, die die „Laien“ nicht haben. Im Gegenteil: Wer „Amtsträger“ sein möchte, muss dazu bereit sein, die Stellung eines DIENERS einzunehmen.


„Amtsträger“, „Diakone“, oder „Diener“?

In der überwiegenden Mehrzahl der Stellen, wo in der Lutherübersetzung das Wort „Amt“ vorkommt, handelt es sich um die Übersetzung des griechischen Wortes „diakonía“. (Apg.1,17, 6,4, 20,24, 21,19, Röm.11,13, 12,7, 1.Kor.12,5, 2.Kor.3,7-9, 4,1, 5,18, 6,3, Kol.4,17, 1.Tim.1,12, 2 Tim.4,5.) Dieses selbe Wort wird aber an vielen anderen Stellen (richtigerweise) mit „Dienst“ oder „Dienen“ übersetzt (Lukas 10,40, Apg.1,25, Röm.15,31, 1.Kor.16,15, Eph.4.12, 2.Tim.4,11, Hebr.1,14, Offb.2,19); und in einer Reihe von weiteren Stellen (wo es in erster Linie um finanzielle Hilfeleistung geht) mit „Handreichung“ (Apg. 6,1, 11,29, 12,25, 2.Kor.8,4, 9,12).

Hier sehen wir bereits die Inkonsequenz der „amtlichen“ Bibelübersetzer. Ein und dasselbe griechische Wort, mit einem klaren und eindeutigen Sinn („Dienst“), wird willkürlich an einigen Stellen mit „Dienst“ und an anderen mit „Amt“ übersetzt. Diese Inkonsequenz kann nur einem einzigen Zweck dienen (amten?): das Image des „Amtsträgers“ auf seinem Podest zu halten, von den „Laien“ gesondert – während gleichzeitig versucht wird, den lächerlichen Eindruck zu vermeiden, der entstehen würde, wenn „diakonía“ konsequent mit „Amt“ übersetzt würde. So wie z.B. in den folgenden Stellen:

„In den Tagen aber, da der Jünger viele wurden, erhob sich ein Murmeln unter den Griechen wider die Hebräer, darum daß ihre Witwen übersehen wurden in dem täglichen Amt.“ (Apostelgeschichte 6,1)

„Aber unter den Jüngern beschloß ein jeglicher, nach dem er vermochte, zu senden ein Amt den Brüdern, die in Judäa wohnten … “ (Apostelgeschichte 11,29)

„Ich weiß deine Werke und deine Liebe und dein Amt und deinen Glauben und deine Geduld und daß du je länger, je mehr tust.“ (Offenbarung 2,19)

Offenbar zieht Luther die Übersetzung „Amt“ da vor, wo es um einen speziell „geistlichen“ Dienst geht wie z.B. Evangelisation, biblische Lehre, usw. Mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen, wo die Lutherübersetzung trotzdem (richtigerweise) „Dienst“ sagt:

„daß einer empfange diesen Dienst und Apostelamt, davon Judas abgewichen ist, daß er hinginge an seinen Ort.“ (Apostelgeschichte 1,25)
– Hier hat die Wahl von „Dienst“ anscheinend stilistische Gründe, um die Redundanz „Amt und Apostelamt“ zu vermeiden. (Man müsste übrigens auch nicht „Apostelamt“ sagen; das entsprechende griechische Wort hat nichts „Amtliches“ an sich. Man könnte genausogut „Aposteltum“, „Aposteldienst“ o.ä. sagen; oder sogar einfach „Sendung“, denn „Apostel“ bedeutet „Gesandter“..)

„… daß die Heiligen zugerichtet werden zum Werk des Dienstes, dadurch der Leib Christi erbaut werde…“ (Epheser 4,12)
– Hier handelt es sich um eine interessante Abweichung vom „amtlichen Prinzip“. Im Unterschied zu den meisten anderen Stellen ist hier nicht die Rede von Aposteln, Predigern o.ä, die einen geistlichen Dienst haben, sondern von „Laien“, schlichten „Heiligen“. Offenbar kann die „amtliche“ Übersetzung sich nicht erlauben zu sagen, auch „Laien“ könnten ein geistliches „Amt“ haben, und gebraucht deshalb hier das Wort „Dienst“, obwohl es genauso um einen geistlichen Dienst geht wie in den vielen Stellen, wo dasselbe Wort mit „Amt“ übersetzt wird! – So wird der Bibelleser darüber hinweggetäuscht, dass wir in diesem Vers einen wichtigen Beleg dafür haben, dass nicht nur die im Vers zuvor genannten „Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer“, sondern eben auch die „Laien“ geistlich „dienen“ bzw. „amten“ können. Nur dass Erstere zusätzlich dazu noch die Aufgabe haben, Letztere für diese Aufgabe „zuzurichten“.

Die Zürcher Übersetzung ist in dieser Hinsicht viel weniger „amtlich“. Sie vermeidet grundsätzlich das Wort „Amt“, ausser in Zusammensetzungen wie „Apostelamt“, „Bischofsamt“ usw. (von letzterem werden wir später sprechen). Das Wort „diakonía“ wird in der Zürcher Übersetzung richtigerweise immer mit „Dienst“ oder verwandten Wörtern übersetzt.

Zu „diakonía“ gibt es das entsprechende Verb „diakonéo“ (dienen). Dieses Wort ist auch in der Lutherübersetzung fast überall richtigerweise mit „dienen“ oder einem verwandten Wort übersetzt. Mit Ausnahme von 1.Petrus 4,11:

„so jemand redet, daß er’s rede als Gottes Wort; so jemand ein Amt hat, daß er’s tue als aus dem Vermögen, das Gott darreicht …“

Diese Übersetzung ist besonders inkonsequent, wenn man in Betracht zieht, dass dasselbe Wort „diakonéo“ auch im vorhergehenden Vers vorkommt und dort richtig mit „dienen“ übersetzt wurde:

„Und dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes: …“ (worauf der oben zitierte Vers folgt).

Es gibt überhaupt keinen Grund, warum „diakonéo“ im Vers 10 mit „dienen“ übersetzt werden sollte, aber im Vers 11 (in genau demselben Zusammenhang) mit „ein Amt haben“. Ausser eben, man setzt fälschlicherweise voraus, dass die Gemeinde Jesu von „Amtsträgern“ regiert werden solle, und liest dann diese Vorstellung in den Bibeltext hinein.

Dann gibt es auch noch das Wort „diákonos“ (Diener). Dieses wird in der Lutherausgabe richtigerweise mit „Diener“ bzw. „Knecht“ übersetzt – auch wieder mit einer Ausnahme, nämlich in 2.Korinther 3,6, wo von „Dienern des Neuen Bundes“ die Rede ist und Luther stattdessen sagt: „…das Amt zu führen des Neuen Testaments“.
Englische und spanische Ausgaben übersetzen „diákonos“ an bestimmten Stellen gerne mit „Minister“, das klingt noch viel gehobener. Ich bin froh, dass wir im Deutschen wenigstens dieses Problem noch nicht haben …

Dafür gebraucht die Zürcher Übersetzung in 1.Timotheus 3,8 und 12 (interessanterweise und inkonsequenterweise aber nicht in Philipper 1,1) das Kunstwort „Diakon“ (einfach eine buchstäbliche Übertragung des griechischen „diákonos“ ins Deutsche). Damit wird der Eindruck erweckt, das Neue Testament kenne ein besonderes „kirchliches Amt“ des „Diakons“. Wenn ein „Amtsträger“ kein Diener sein will, dann ist es natürlich angenehm, einige andere Geschwister für gewisse Dienstleistungen anzustellen. Würde man diese aber einfach „Diener“ nennen, dann gäbe es wohl nicht allzuviele Freiwillige für diesen Posten. Würde man sie andererseits zu „Amtsträgern“ erheben, dann würde damit eine unwillkommene Konkurrenz zum Pfarrer geschaffen. So erfand man als Zwischenstufe den „Diakon“ (und einige Bibelausgaben nennen in Römer 16,1 Phöbe eine „Diakonisse“). Inzwischen gibt es „Diakone“ für alles mögliche: im evangelikalen Raum habe ich schon von „Zeltdiakonen“, „Baudiakonen“ u.ä. sprechen hören. (Wer gibt in der heutigen Zeit schon gerne zu, dass er unbezahlte „Diener“ anstellt? „Diakon“ klingt da viel besser.) – In Wirklichkeit aber bedeutet „Diakon“, wie wir gesehen haben, gar nichts anderes als „Diener“.

Ich glaube, dass es im Neuen Testament durchaus Christen gab, die sich durch besondere Dienstwilligkeit hervortaten und deshalb in einem besonderen Sinn als „Diener“ bezeichnet wurden; denn 1.Tim.3 spricht offenbar von einer besonderen Gruppe von Menschen innerhalb der Gemeinde. Ich sage nicht, es hätte keine Unterschiede zwischen den Funktionen der verschiedenen Gemeindeglieder gegeben. Warum aber gebrauchten sie das so gewöhnliche Wort „Diener“ als Bezeichnung? Erinnern wir uns, dass das Wort „diákonos“ im Griechischen des Neuen Testamentes nicht diesen „amtlichen“ oder „hierarchischen“ Beigeschmack hatte wie „Diakon“ im Deutschen. Sie nannten sich schlicht „Diener“ – wie auch Paulus selber sich einfach einen „Diener Gottes“ nannte. Es macht einen Unterschied, ob wir einen Begriff einfach als Bezeichnung für eine effektiv ausgeübte Funktion gebrauchen, oder ob wir daraus eine hierarchische Stellung machen.

(Fortsetzung folgt)

PS: Bei späterer Gelegenheit gedenke ich eine Vergleichstabelle anzufügen, welche die Übersetzungen der erwähnten „Amtsbegriffe“ miteinander und mit dem griechischen Text vergleicht.

Eine argentinische Zumutung

24. Mai 2011

Vor einiger Zeit fand ich im Internet einen Artikel eines (anscheinend) bekannten argentinischen Leiters, unter dem Titel: „Wie du mittels deiner Pastoren Gott ehren kannst!“ Zuerst dachte ich, es handelte sich um eine Satire – aber nein, es war alles todernst gemeint. Der Artikel begann so:

„Die Art, Gott zu ehren:

Den anderen vorzuziehen bedeutet: Wenn wir gleich sind, dass wir den anderen zuerst nach vorne lassen; und wenn zwei sich setzen sollen, aber es gibt nur einen Stuhl, dass wir den anderen sich setzen lassen.

Der Pastor, der Apostel, muss das beste Auto fahren, muss sich auf den besten Platz setzen. Das System hat uns gelehrt, diese Dinge als schlecht zu betrachten und uns selber vorzuziehen.

Aber jetzt kommt Gott mit der Ehre.

Gott möchte uns beibringen, Ehre zu erweisen, und es ist nötig, das zu lehren. Wenn Sie Leute haben, die Gott ehren, dann werden Sie Leute haben, die von Gott geehrt sind.

Es muss ein Unterschied gemacht werden mit jenen, die Träger der Salbung Gottes sind. (…) Dann wird die Salbung Gottes (auch) über Sie fallen.“

Etwas weiter unten heisst es:

„Du bist eine wichtige Person, du bist das Wichtigste, was es auf der Erde und in deiner Stadt gibt; und dein Pastor ist das wichtigste, was es in deinem Leben gibt. Denn wenn du lernst, ihn zu ehren, dann ehrst du Gott.“

(…)

„Möchtest du mehr Ehre erhalten? Dann werde nicht müde, deinem Pastor (Geld) zu geben, mache eine Gewohnheit daraus, gewöhne dich an den Wohlstand, und werde zu einem von Gott geehrten Menschen. – Wiederholen Sie: ‚Ich werde von Gott geehrt sein.'“

Der Leser möge mir verzeihen, dass ich die Quelle nicht angebe: ich tue das normalerweise nur bei positiven Beispielen. (Anmerkung zur Übersetzung: Die stilistischen Unebenheiten, wie z.B. die sprunghaften Wechsel von „Wir“ zu „Du“ zu „Sie“, habe ich möglichst originalgetreu übernommen. Nur da, wo die Übersetzung ganz unverständlich geworden wäre, habe ich Satzstrukturen etwas geglättet.)

Bei dem Autor dieser Zeilen handelt es sich offenbar nicht um den Anführer einer in irgendeinem Winkel versteckten Sekte, sondern um einen international bekannten evangelikalen Leiter. Das ist die Lehre, die heutzutage in der Mehrheit der evangelikalen Kirchen verbreitet wird: Der Pastor ist der spezielle „Gesalbte Gottes“, und der Weg zu Gott führt über ihn und nur über ihn. Man hat ausserdem noch einen persönlichen Vorteil davon, denn wer dem Pastor Geld gibt, bekommt von Gott noch mehr Geld zurück.

Im deutschen Sprachraum habe ich noch keine derart „starken“ Worte gehört. Der Sache nach habe ich aber diese falsche Lehre schon in vielen Gemeinden und Organisationen angetroffen: „Dich Gott unterzuordnen, bedeutet in erster Linie, dich deinem Leiter unterzuordnen.“ – „Gott spricht zu dir in erster Linie durch deine Leiter.“ – Oder auch: „Wer sich der Leiterschaft nicht unterordnet, verliert seine geistliche Abdeckung (bzw. den Schutz Gottes).“
Wenn deutschsprachige Pastoren sich noch nicht so extrem ausdrücken wie der zitierte Argentinier, dann liegt das m.E. nur daran, dass im deutschsprachigen Kulturkreis die Schmerzgrenze niedriger liegt für alles, was nach Diktatur riecht. Ein Pastor wird sich deshalb hüten, diese Schmerzgrenze zu überschreiten. Hier in Lateinamerika ist man sich eher an Diktaturen gewöhnt, und deshalb haben die hiesigen Pastoren auch weniger Hemmungen, in dieser Hinsicht offen zu sprechen.

Der Sinn dieser Veröffentlichung ist deshalb folgender: Die karikaturistische Überzeichnung einer Sache bringt oft Merkmale ans Licht, die in der Sache selbst bereits vorhanden sind, aber ohne die Überzeichnung nicht ohne weiteres erkannt würden. Der oben zitierte Artikel wirkt für deutschsprachige Leser sicherlich wie eine solche Überzeichnung. Er stellt aber dar, was viele deutschsprachige Gemeindeleiter im Kern auch lehren. Ich wünsche mir, dass viele Gemeindeglieder (und wer weiss, vielleicht sogar einige Leiter?) an diesem Beispiel erkennen mögen, auf was für Zustände ihre Gemeinde zusteuert, wenn sie solchen autoritären Lehren des geistlichen Missbrauchs weiterhin Raum gibt.

Pfarrherrliche Statussymbole habe ich sowohl in Europa wie in Lateinamerika zur Genüge gesehen. In einer Gemeinde waren die Büros der untergeordneten Pastoren klein und hatten einen gewöhnlichen Betonfussboden; das Vorzimmer des Hauptpastors hatte einen Spannteppich; und sein eigenes Büro war das grösste von allen und hatte einen dicken, flauschigen Teppich. In einer anderen Gemeinde wurde die Hierarchie durch die unterschiedliche Qualität der Bürostühle ausgedrückt: für den Stuhl des Hauptpastors war mehr Geld ausgegeben worden, als ich im Monat verdiene. Nur für einen Stuhl! – Wieder in einer anderen Gemeinde achtete der Hauptpastor streng darauf, dass er immer „standesgemäss“ angezogen war; d.h. dass ihn nie ein Gemeindeglied anders als in Anzug und Krawatte überraschen konnte; und dass er nie anders als mit „Herr Pfarrer“ angesprochen wurde.

Falls es jetzt tatsächlich jemanden geben sollte, der dies (oder andere Aspekte des zitierten Artikels) gut finden sollte, dann möchte ich nur kurz zitieren, was Jesus dazu sagt:

„Sie (die Pharisäer) lieben den obersten Platz bei den Mahlzeiten und den Vorsitz in den Synagogen und die Begrüssungen auf den Märkten und dass sie von den Leuten ‚Meister‘ genannt werden. Ihr dagegen sollt euch nicht ‚Meister‘ nennen lassen; denn einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Nennt auch niemanden auf Erden euren Vater; denn einer ist euer Vater, der himmlische. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen;denn einer ist euer Lehrer, Christus. Wer aber unter euch grösser ist, soll euer Diener sein.“
(Matthäus 23:6-11)

„Sie, die die Häuser der Witwen aufzehren und dabei zum Schein lange Gebete sprechen, sie werden ein umso strengeres Gericht empfangen.“
(Markus 12,40)

Wenn das so empfangene Geld wenigstens zur Unterstützung bedürftiger Menschen oder zur Verkündigung des Evangeliums eingesetzt würde! Gegen eine legitime finanzielle Unterstützung echter Diener Gottes will ich gar nichts sagen. Aber nein, dieses Geld muss dazu dienen – wie im eingangs zitierten Artikel ganz offen und schamlos gesagt wird -, dass die „Pastoren/Apostel“ die besten Sitzplätze einnehmen und das beste Auto fahren können.

– Als die Apostel Petrus und Johannes vor den religiösen Leitern standen, sagten sie:

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
(Apostelgeschichte 5,29)

Und der Apostel Paulus schreibt:

„Denn ich halte dafür, Gott habe uns, die Apostel, als die Geringsten hingestellt, wie zum Tode Verurteilte; denn ein Schauspiel sind wir der Welt geworden, sowohl Engeln als Menschen. Wir sind töricht um Christi willen, ihr aber seid klug in Christus; wir sind schwach, ihr aber stark; ihr seid geehrt, wir aber verachtet. Bis zur jetzigen Stunde leiden wir Hunger und Durst und Blösse und werden geschlagen und haben keinen festen Wohnsitz und mühen uns ab in der Arbeit mit unseren eigenen Händen. Werden wir geschmäht, so segnen wir; werden wir verfolgt, so dulden wir es; werden wir gelästert, so begütigen wir; wie Kehricht der Welt sind wir geworden, ein Abschaum aller bis jetzt.“
(1.Korinther 4,9-13)

Paulus tadelt sogar die Korinther dafür, dass sie missbraucherische Leiter (solche wie den Autor des eingangs zitierten Artikels) überhaupt aufgenommen hatten:

„Ihr ertragt ja gern die Toren, ihr, die ihr klug seid. Ihr ertragt es ja, wenn jemand euch knechtet, wenn jemand euch aufzehrt, wenn jemand euch einfängt, wenn jemand sich überhebt, wenn jemand euch ins Gesicht schlägt. Zur Schande sage ich es: dafür sind wir zu schwach gewesen.“
(2. Korinther 11,19-21)

Noch bedenklicher ist, dass diese falschen Leiter sich als Mittler zwischen Gott und den Menschen aufspielen. In der Reformationszeit wurde einst die grosse Wahrheit auf den Leuchter gestellt, dass jeder Christ seinen eigenen freien Zugang zum Thron Gottes hat, ohne auf das Dazwischentreten eines Priestertums angewiesen zu sein:

„Da wir nun einen grossen Hohenpriester haben, der durch die Himmel hindurchgeschritten ist, Jesus, den Sohn Gottes, (…) so lasst uns nun mit Zuversicht zum Thron der Gnade hinzutreten, damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden zu rechtzeitiger Hilfe!“
(Hebräer 4,14.16)
„Denn einer ist Gott, und einer ist Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus …“
(1.Timotheus 2,5)

Aber die heutigen Evangelikalen, die sich als Erben der Reformation ausgeben, kehren in dieser Hinsicht zu einem mittelalterlichen Katholizismus zurück, indem sie wieder ihre Priesterkaste auf den Thron erheben. Ja, noch schlimmer: diese neuen Priester nennen sich sogar „der Gesalbte Gottes“. „Gesalbter“ ist nichts anderes als die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes „Christus“. Da stehen also heute sterbliche Menschen auf der Kanzel und verkünden: „Ich bin der Christus Gottes; wenn du Gott ehren willst, musst du zuerst mich ehren!“ Tatsächlich erfüllt sich hier die Vorhersage Jesu:

„Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten auftreten und werden grosse Zeichen und Wunder vollbringen, sodass sie, wenn möglich, auch die Auserwählten irreführen. Siehe, ich habe es euch vorhergesagt.“
(Matthäus 24,24-25)

Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Das „Tier“ in der Offenbarung, das Milgram-Experiment und die Kirchen (Teil 2)

25. August 2010

In der ersten Folge habe ich einige Wesenszüge des „Tieres“ in Offenbarung 13 untersucht. Wir haben gesehen, dass es sich dabei um eine „Instutionalisierung“ handelt, die den Einzelmenschen entpersönlicht. Ich habe dann kurz das Milgram-Experiment beschrieben; ein psychologisches Experiment, das die Bereitschaft von Menschen zur blinden Unterordnung untersucht. Mit dem erschreckenden Ergebnis, dass 60 bis 70% der Bevölkerung auf die Anordnung einer Autoritätsperson hin so weit gehen, einem Mitmenschen grausame Schmerzen zuzufügen und ihn sogar in Lebensgefahr zu bringen!

Da ich vorwiegend an christliche Leser denke, stelle ich mir jetzt die Frage: Wie gross ist die Gefahr der christlichen Kirche, zu „vertieren“?

Auf meinem Weg durch eine Vielzahl christlicher Gemeinden und Institutionen begegneten mir leider auf Schritt und Tritt die Anzeichen einer solchen Institutionalisierung oder „Vertierung“.

Ein Gemeindeleiter sagte mir, als ich gewisse administrative Gebräuche seines Gemeindeverbandes ausser acht gelassen hatte: „Du weisst noch nicht, wie die Dinge im Reich Gottes funktionieren.“ (Womit er anscheinend die Gebräuche seines Verbandes mit dem Reich Gottes gleichsetzte.)
Ein anderer Gemeindeleiter, der sich durch eine meiner Schriften angegriffen fühlte, fragte mich: „Hast du etwas gegen die organisatorische Struktur unseres Verbandes?“ Von der Bibel her hatte er jedoch nichts zu antworten auf das, was ich geschrieben hatte.
An Vorstandssitzungen einer sogenannt christlichen Organisation wurden anstössige Vorfälle innerhalb der Organisation nicht darnach beurteilt, was Jesus dazu sagt, sondern ob die Leute draussen darüber redeten oder nicht, und ob dies dem Ansehen der Institution schadete oder nicht. Je nachdem konnte ein und dieselbe Handlung entweder mit Schweigen zugedeckt oder drakonisch bestraft werden.
In einer anderen Organisation herrschte die Ansicht, man könne ohne weiteres lügen oder eine Unterschrift fälschen, wenn dies den Zwecken der Organisation diente.

Solche Anzeichen deuten darauf hin, dass in allzuvielen „christlichen“ Organisationen die „Interessen der Institution“ und das „Ansehen der Institution“ mehr gelten als die Interessen Gottes und das Ansehen Gottes. Diese Institutionen sind zu ihren eigenen Götzen geworden; sie haben sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt.

Demgegenüber fällt auf, dass das Neue Testament keine „institutionelle“ Sprache benützt – zumindest wenn man diese nicht von aussen her hineinliest. Manche Bibelübersetzungen sind leider sehr von der gegenwärtigen institutionellen Kirche geprägt und übersetzen daher „Gemeinde“ (oder „Versammlung“) als „Kirche“, „Aufseher“ als „Bischof“, „Diener“ als „Diakon“, „Hirte“ als „Pastor“, „Dienst“ als „Amt“, usw. Ursprünglich hatte aber keines dieser Wörter eine „institutionelle“ Bedeutung. Sie beschrieben einfach, was diese Menschen taten, ohne dass dies mit einer hierarchischen „Stellung“ oder „Amt“ verbunden gewesen wäre.

Jesus und die Apostel bewegten sich ausserhalb jedes institutionellen Rahmens. Sie hatten keinerlei offizielle Anerkennung oder „Position“. Es ist bezeichnend, dass sie ihre schärfsten Zusammenstösse genau mit den religiösen Institutionen ihrer Umgebung hatten: mit den Synagogen und deren Leitern, und mit dem Hohen Rat. Sie traten zwar nicht aus der Synagoge aus, aber ihr ganzes Leben und ihre Lehre stellten dieses System radikal in Frage.

Sie gründeten auch keine neue Institution. Die neutestamentliche Gemeinde wurde nicht von Organigrammen, Reglementen und Statuten zusammengehalten, sondern von einer Person: vom auferstandenen Herrn selber. Sein Konzept von „Kirche“ war äusserst einfach: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Matthäus 18,20)

In einer kleinen Begebenheit zeigte Jesus, dass er keine „Institution“ zu verteidigen hatte:

„Johannes antwortete: ‚Meister, wir haben jemanden gesehen, der in deinem Namen Dämonen austrieb, aber er folgt uns nicht; und wir haben es ihm verboten, weil er uns nicht folgte.‘ Aber Jesus sagte: ‚Verbietet es ihm nicht; denn niemand, der ein Wunder tut in meinem Namen, wird darauf Böses sagen können über mich.'“ (Markus 9,38-39)

Auch als die Gemeinde wuchs und die Aufgaben und Dienste vielfältiger wurden, war dies kein Anlass zur Bildung einer Hierarchie. Interessanterweise benutzt das Neue Testament nie die Wörter „über“ oder „unter“, wenn es von den Beziehungen zwischen verschiedenen Gliedern der Gemeinde spricht. Stattdessen ist die Rede von Dienern oder Aufsehern, die „bei euch“ oder „in eurer Mitte“ arbeiten, also auf gleicher Ebene. Die „Unterordnung“ in der neutestamentlichen Gemeinde war gegenseitig (Epheser 5,21).

Auch finden wir im Neuen Testament nicht „die Kirche“ als abstrakten Begriff mit einem institutionellen Eigenleben. „Kirche“ bzw. „Gemeinde“ bezieht sich jeweils klar auf die Gesamtheit der einzelnen Mitglieder als Menschen; öfters erscheint „Gemeinde“ austauschbar mit „die Jünger“ oder „die Heiligen“.

Einen interessanten Kontrast dazu bildet in der Apostelgeschichte der Silberschmied Demetrius, der mit der Anbetung der Göttin Artemis ein Geschäft machte. Als er durch den Einfluss von Paulus sein Geschäft gefährdet sah, wandte er sich an seine Angestellten und Berufskollegen mit den Worten:
„…Und nicht nur unser Handwerk läuft Gefahr, in Verruf zu geraten, sondern auch, dass der Tempel der grossen Göttin Artemis geringgeachtet wird, und ihre Grösse niedergerissen wird, die ganz Asien und die ganze Erde verehrt.“ (Apostelgeschichte 19,27)
– Demetrius spricht nicht über seine persönliche Betroffenheit, sondern apelliert an den „guten Ruf der Institution“ (seines Berufsverbandes) und deren Statussymbols, des Artemistempels. Somit sehen es die Silberschmiede als ihre „institutionelle Pflicht“, Demetrius zu unterstützen; und er bringt es fertig, die ganze Stadt in Aufruhr zu versetzen. Dieser Volksauflauf war eine deutliche Konfrontation zwischen der „Tiernatur“, die sich im „Geist einer Institution“ manifestiert, und dem Geist Gottes, der in seinen Dienern lebt. Nie hat hingegen ein Apostel das „Ansehen der christlichen Gemeinde“ als Vorwand benützt, um die Christen auf seine Seite zu ziehen, und sei es für ein noch so berechtigtes Anliegen.

Aber sobald die Apostel nicht mehr da waren, begannen sich die Gemeinden zu institutionalisieren, und gaben damit der „Tiernatur“ in ihrer eigenen Mitte Raum. Schon anfangs des 2.Jahrhunderts begann sich eine hierarchische Struktur auszubilden, indem in einigen Städten ein „Bischof“ sich eine Art „Befehlsgewalt“ über die anderen Ältesten der Gemeinde zusprach. Und „Ältester“ zu sein, war plötzlich nicht mehr eine natürliche Anerkennung geistlicher Reife, sondern wandelte sich zur Mitgliedschaft in einem „Leitungsgremium“.

Später kam es so weit, dass bei Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Christenheit die Leiter der jeweiligen Parteien einander gegenseitig „aus der Kirche ausschlossen“. Eine solche Handlung hat eine ganz andere Färbung als die Anweisungen Paulus‘ an die Korinther (1. Korinther 5), mit unbussfertigen Sündern keine brüderliche Gemeinschaft zu haben, oder in einem besonders anstössigen Fall den Betreffenden „dem satan zu übergeben“. Letzteres, obwohl es hart klingt, ist immer noch eine persönliche Entscheidung auf der Basis persönlicher Beziehungen (die bei einer Umkehr des Schuldigen auch persönlich wiederhergestellt werden können, wie der 2.Korintherbrief bezeugt). Ersteres jedoch, „Ausschluss aus der Kirche“, ist eine offizielle Handlung im Namen einer „Institution“, unpersönlich und mitleidslos.

In einer „tierischen“ Institution werden selbst die mitmenschlichen Beziehungen und Freundschaften „institutionalisiert“. Man ist einander nicht mehr als Mitmensch wichtig, sondern nur als Förderer der institutionellen Ziele, die man miteinander teilt – nicht anders als in einem Wirtschaftsbetrieb. Das hat sehr traurige Folgen, die ich in meinem eigenen Leben mehrmals erlebt habe:
Man täuscht sich selber über die Qualität der Beziehungen, die man zu anderen hat. Was man als Nächstenliebe oder Hilfsbereitschaft wahrnimmt (bei sich selbst und bei anderen), ist oft nur ein zweckgebundenes Mittel, die Zusammenarbeit innerhalb der Institution zu verbessern. Bei einer institutionellen Krise zeigt sich dann das wahre Gesicht der Beteiligten, und es kommt zur grossen Enttäuschung.
Wenn sich die Institution aus irgendeinem Grund gegen einen wendet, dann verliert man mit einem Schlag alle Freundschaften, die man dort gehabt zu haben meinte. Diejenigen, die nur eine „zweckgebundene“ Beziehung pflegten, haben keinen Grund mehr, diese weiter zu pflegen; und jene, die echte Freunde waren, getrauen sich nicht mehr, die Freundschaft weiterzuführen, weil sie sonst selber von der Institution als „Feinde“ angesehen werden könnten.

Diese Institutionalisierung des Christentums kam zu ihrem Höhepunkt, als im 4.Jh. die Kaiser Konstantin und Theodosius die christliche Gemeinde praktisch dem Römischen Reich einverleibten (oder umgekehrt), indem das Christentum zuerst unter den persönlichen Schutz des Kaisers gestellt und dann zur Staatsreligion erklärt wurde. Jetzt wurde die Hierarchie der Kirche vollends dem römischen Verwaltungsapparat gleichgestaltet. (Man beachte, dass das Römische Reich die deutlichste Verkörperung des „Tieres“ in der damaligen Zeit war. Johannes spielt in der Offenbarung sogar an mehreren Stellen direkt auf Rom an.) Daraus entstand die römisch-katholische Kirche und ihre Zwillingsschwester, die orthodoxe Kirche Osteuropas.
Diese „konstantinische Wende“ ist von der Christenheit bis heute nicht überwunden worden. Der reformierte und evangelikal-pfingstliche Flügel del Christenheit hat zwar in den letzten 500 Jahren verschiedene Änderungen vorgenommen. Aber auch diese Gruppe blieb in ihrer Grundhaltung weitgehend konstantinisch und nicht biblisch: Kirche wird als eine Institution verstanden, die in irgendeiner Weise dem Staat angegliedert oder ihm nachgebildet ist. „Nicht-institutionelle“ Christen führten während der ganzen Kirchengeschichte nach dem Tod des letzten Apostels ein Schattendasein oder wurden blutig verfolgt; seien es die Waldenser im Mittelalter, die Täufer in der Reformationszeit, oder manche heutigen Hausgemeindebewegungen in China und anderswo.

Die Mehrheit der Christenheit denkt und lebt in institutionellen Paradigmen und bezeugt damit ihre Affinität zur „Tiernatur“. Diese Mehrheit wird sich sehr wahrscheinlich widerstandslos in das weltweite „tierische“ System eingliedern, wenn es so weit ist. Wer das nicht glaubt, der möge darüber nachlesen, wie die Mehrheit der deutschen Kirchenführer enthusiastisch Hitler unterstützten im Glauben, er sei einer der ihren. (Etwas mehr darüber im übersetzten Artikel: „Wir brauchen verzweifelt eine Bekennende Kirche“.)

Ein weiteres Anzeichen dafür ist, wie die Kirchen während der letzten 150 bis 200 Jahre es nicht nur zugelassen, sondern aktiv unterstützt haben, dass die Regierungen dieser Welt ihnen ihre ureigensten Handlungsräume weggenommen haben. Während Jahrhunderten war es zumindest im Einflussbereich des Christentums klar, dass die Regierung für die Rechtsprechung und die Landesverteidigung zuständig war (Römer 13,3-5) und für nichts anderes. Aber heute scheint die Mehrheit der Christen und der christlichen Leiter nichts dabei zu finden, wenn der Staat z.B. die Kranken pflegt, die Armen versorgt und die Kinder erzieht – und alle diese Bereiche entsprechend kontrolliert und überwacht.

Früher wurden alle diese Aufgaben in erster Linie von der Familie und Verwandtschaft wahrgenommen, und in zweiter Linie von der „geistlichen Familie“, der christlichen Gemeinde. Aber mit der zunehmenden Institutionalisierung der Kirche wurden auch diese sozialen Aufgaben immer mehr von der Kirche als Institution übernommen. Damit fand eine Akzentverschiebung statt: Wenn ein Christ oder eine Gruppe von Christen aus persönlichem Mitleid einen Kranken pflegt oder einen Armen versorgt, den er persönlich kennt, dann ist dies eine Tat der Nächstenliebe. Wenn aber die Kirche als Institution dies tut, und die Christen wiederum dieser Institution ihr Geld oder ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, dann werden diese Handlungen entpersönlicht. Der Christ, der hilft, erfüllt jetzt eine „institutionelle Pflicht“; und der, dem geholfen wird, sieht sich zu einem „institutionellen Fall“ degradiert.

Es war also nur der natürliche Fortgang dieser Entwicklung, als die Kirchen allmählich ihren politischen Einfluss verloren und die Staatsregierungen erstarkten, dass diese sozialen Aufgaben an die „Institution Staat“ übergingen. Institutionalisiert waren sie ja schon. Ich wäre deshalb nicht überrascht, wenn dieselben Kirchen zu einem zukünftigen Zeitpunkt dem Staat auch ihren letzten übriggebliebenen Handlungsraum überliessen: den eigentlichen „religiösen Bereich“. (Auch hierfür gibt es in der Geschichte bereits Präzedenzfälle.)

Als Folge wird der Staat totalitär. Alles, was der Staat leistet und finanziert, das überwacht er auch. Die „tierischen“ Bestrebungen werden immer ausgeprägter, der Institution (in diesem Fall dem Staat) immer mehr Macht und Einfluss zukommen zu lassen, und die Institution vor der Kontrolle durch die Öffentlichkeit abzuschirmen. Gleichzeitig nimmt die Feindseligkeit gegenüber jenen zu, die aus irgendeinem Grund als Bedrohung der „Interessen der Institution“ empfunden werden.

Ich zitiere nochmals John Taylor Gatto:

„Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich etwas verändert in Amerika. Es werden massive Anstrengungen unternommen, um eine zentral organisierte Kontrolle der Arbeitsplätze mit einer zentral organisierten Verwaltung der Schulbildung zu verbinden. Das wäre die amerikanische Entsprechung zum chinesischen „Dangan“ – eine persönliche Datei, die im Kindergarten begonnen wird (sie verzeichnet Schulleistungen, Haltungen, Verhaltensmerkmale, die Krankheitsgeschichte, und andere persönliche Daten), und mit allen Arbeitsmöglichkeiten verbunden wird. In China kann man dem Dangan nicht entfliehen. Er ist ein Teil eines Netzes der gesellschaftlichen Überwachung, die die Stabilität der Gesellschaftsordnung sichert; Gerechtigkeit hat nichts damit zu tun. Der Dangan kommt in die Vereinigten Staaten unter dem Deckmantel von geschickt ausgedachten Änderungen in der Medizin, Arbeitswelt, Schule, Sozialdiensten, usw, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Tatsächlich werden diese Teile koordiniert durch eine Verbindung zwischen Stiftungen, Regierungsstellen, die Subventionen vergeben, der Werbeabteilungen von Unternehmen, wichtigen Universitäten, und ähnlichen Stellen, die sich ausserhalb des Gesichtsfeldes der Öffentlichkeit befinden.“
(John Taylor Gatto, „The Underground History of American Education“, bei http://www.johntaylorgatto.com)

Dasselbe geschieht schon fast weltweit – auch hier in Perú. Im hiesigen Gesundheitswesen ist z.B. jetzt eine neue interne Regelung in Kraft, wonach Kinder, die zu einer Untersuchung oder Behandlung zu einem staatlichen Gesundheitsposten gebracht werden, vom Personal nach ihrer Familien- und Schulsituation befragt werden und die entsprechenden Informationen an die übergeordnete Regionalstelle weitergeleitet werden müssen. Teenager werden zusätzlich nach ihrem Sexualleben befragt. Da praktisch das ganze Gesundheitswesen verstaatlicht ist, kann sich keine Familie dieser Überwachung entziehen (ausser man wird nie krank).

Schon vor vielen Jahren hat der Autor George Orwell diese „tierische Dynamik“ sehr gut verstanden, angesichts der damaligen Machtausweitung des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Sein Klassiker „1984“ ist in dieser Hinsicht sehr instruktiv, wenn auch sehr pessimistisch. Leider scheint dieser Roman gegenwärtig – zu Unrecht – in Vergessenheit zu geraten.

Ich möchte aber nicht an diesem Punkt aufhören. Das Buch der Offenbarung wurde hauptsächlich zu dem Zweck geschrieben, eine „Ewigkeitsperspektive“ in die Weltereignisse hineinzubringen. Alle paar Kapitel, zwischen den Beschreibungen schrecklicher Dinge auf der Erde, wendet sich der Blick des Johannes wieder zum Himmel, von wo ihm Jesus erschienen ist, der Auferstandene und Lebendige. Dort sieht er Gott auf seinem Thron, wie er Engelsheere kommandiert und mit starker Hand die Weltereignisse regiert. Nichts kann geschehen ohne seine Einwilligung. Er sieht auch eine unzählbare Schar Erlöster, die nach einem leidvollen Leben jetzt vor Gottes Thron stehen, und „sie werden nicht mehr Hunger oder Durst haben, und die Sonne oder Hitze wird nicht mehr auf sie fallen; denn das Lamm (Jesus), das in der Mitte des Thrones ist, wird sie hüten und sie zu Quellen des Lebenswassers führen; und Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen.“ (Offenbarung 7,16-17)

Das macht natürlich nur Sinn für jemanden, der erfahren hat, dass „Himmel“ und „Ewigkeit“ nicht leere Worte sind, sondern wirklichere und beständigere Realitäten als die gegenwärtige sichtbare Welt. (Aber wer diese Perspektive nicht kennt, wird vermutlich auch dem Rest dieses Artikels nicht viel Sinn abgewinnen können.)
Es gibt also in der letzten Zeit, wie in der Offenbarung beschrieben, nicht nur die institutionalisierte „Tier-Kirche“. Es gibt auch noch wirkliche Nachfolger von Jesus, die ihm wirklich begegnet sind und ihn persönlich kennengelernt haben. Diese echten Nachfolger Jesu lassen sich nicht so einfach in ein institutionalisiertes „System“ einspannen. Sie haben über sich eine höhere Autorität: Jesus selber. Und genau das ist den Anführern der institutionalisierten Kirchen ein Dorn im Auge: Sie möchten gerne selber die höchste Autorität sein. Sie ärgern sich über die einfachen Nachfolger Jesu, die sagen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29).
Aber wir lesen in der Offenbarung auch, dass es dem „Tier“ nur für kurze Zeit erlaubt wird, die Welt zu beherrschen. Jesus selber wird kommen und das „Tier“ und sein Reich zunichte machen. Die Zukunft wird den einfachen Nachfolgern Jesu gehören, die zur Zeit noch verachtet, verfolgt und ausgeschlossen werden. Wenn wir sehen, wie sich gegenwärtig in der Welt alle die „tierischen“ Entwicklungen bewahrheiten, die in der Bibel vorausgesagt sind, dann haben wir allen Grund zu glauben, dass sich auch diese Voraussage bewahrheiten wird.