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Apostel in der neutestamentlichen Gemeinde – Teil 3

25. März 2020

In der vorhergehenden Betrachtung haben wir darüber nachgedacht, ob heute noch apostolische Funktionen in der Gemeinde existieren können, und was für Konsequenzen sich ergeben aus den beiden möglichen Antworten.

Für jene, die mit Ja antworten, möchte ich noch einige biblische Kriterien des Aposteldienstes untersuchen, falls dieser auch heute existiert:

Ein Apostel erhält seinen Ruf unmittelbar von Gott.

Nur Gott kann einen Apostel „senden“. Keine Institution, kein Leiter, nicht einmal ein anderer Apostel kann jemandem eine apostolische Berufung geben. Infolgedessen kann ein echter Apostel nicht die Interessen einer Institution oder Person vertreten – und natürlich auch nicht seine eigenen. Er kann einzig die Interessen Gottes vertreten. Er wird weder mit den Wünschen eines Leiters noch mit irgendeiner kirchlichen Tradition Kompromisse schliessen, nicht einmal mit seiner eigenen. Auf keine andere Funktion im Leib Christi trifft es so radikal und vollständig zu, dass der Apostel Eigentum Gottes ist mit allem, was er hat und was er ist.

Ein Apostel ist kein autoritärer Leiter.

Das sollte bereits aus den Worten Jesu über Leiterschaft klar werden, die er an die zukünftigen Apostel richtete (Matthäus 20,25-28, 23,12, Lukas 22,25-27, Johannes 13,13-15.) Aber der Kontrast wird noch stärker, wenn wir lesen, was Paulus speziell über den Aposteldienst schreibt:

„Denn mir scheint, dass Gott uns, die Gesandten, als die Letzten hingestellt hat, als dem Tod Übergebene, denn wir wurden zu einem Schauspiel vor der Welt und den Engeln und den Menschen. Wir sind töricht um Christi willen, und ihr vernünftig in Christus. Wir sind schwach, und ihr seid stark. Ihr erhält Ehre, und wir sind verachtet. Und bis zur gegenwärtigen Stunde leiden wir Hunger und Durst und Blösse und Schläge und Obdachlosigkeit, und arbeiten hart mit unseren eigenen Händen. Während wir beleidigt werden, segnen wir; während wir verfolgt werden, ertragen wir es; während wir verleumdet werden, ermutigen wir; wie Abfälle der Welt sind wir geworden, der Müll aller.“ (1.Korinther 4,9-13).

„Sind sie Diener des Christus? Wie ein Verrückter spreche ich: ich noch mehr: öfter in harter Arbeit, öfter geschlagen, öfter in Gefängnissen, viele Male in Todesgefahr. Von den Juden erhielt ich fünfmal die vierzig [Schläge] weniger einen; dreimal wurde ich mit Ruten geschlagen, einmal gesteinigt, dreimal schiffbrüchig, eine Nacht und einen Tag trieb ich in der Tiefe [des Meeres]; oft auf Wanderungen, in Gefahren durch Flüsse, in Gefahren durch Räuber, in Gefahren von [meinem eigenen] Volk, in Gefahren von den anderen Völkern, in Gefahren in der Stadt, in Gefahren in der Wüste, in Gefahren auf dem Meer, in Gefahren unter falschen Brüdern …“ (2.Korinther 11,23-26)

Wenn „der Grösste unter euch euer Diener“ sein soll, und wenn die wichtigste oder „höchste“ Funktion in der Gemeinde der Aposteldienst ist, dann wird zweifellos von einem Apostel die tiefste Demut und die grösste Dienst- und Leidensbereitschaft erwartet. Frühchristliche Autoren berichten, dass elf der zwölf ursprünglichen Apostel den Märtyrertod starben.Wer nicht diese Demut und Leidensbereitschaft an den Tag legt, ist kein neutestamentlicher Apostel.

Ein Apostel ist kein „Boss“ oder „Platzanweiser“ für die übrigen Diener Gottes.

Einige heutige Strömungen propagieren Gemeindestrukturen ähnlich einem Grossbetrieb oder einer Staatsverwaltung, wo die „Apostel“ allen anderen ihre Arbeit zuweisen. D.h. die Apostel entscheiden, wer ein Prophet sein kann, ein Evangelist, ein Hirte, ein Lehrer, ein Ältester …; und sie können sogar darüber entscheiden, wo diese Personen dienen dürfen, und was sie für eine Arbeit tun sollen. Wer nicht von den Aposteln „akkreditiert“ ist, kann keinen „geistlichen Dienst“ ausüben.

Das Neue Testament widerspricht dieser Idee direkt. Wir haben  gesehen, dass nach Eph.4,11 Gott selber die dort erwähnten Gaben und Dienste „gibt“. Er braucht dazu keine Apostel als Zwischenträger. Und die fünf Dienste dienen dazu, die anderen Heiligen zuzurüsten; nicht aber ihnen ihre Plätze anzuweisen. Im Gegenteil, Vers 16 sagt, dass der Leib Christi aufgebaut wird „nach dem Mass der (eigenen) Aktivität jedes einzelnen Gliedes“.

Ähnlich heisst es in Eph.2,20-22, dass die Familie Gottes auf dem „Fundament“ der Apostel und Propheten aufgebaut ist; aber das weitere Wachstum geschieht in Jesus Christus. So sagt auch Paulus von sich selber: „Gemäss der Gnade Gottes, die mir gegeben wurde, habe ich als weiser Baumeister das Fundament gelegt; und ein anderer baut darauf auf. Jeder gebe acht, wie er darauf aufbaut. Denn niemand kann ein anderes Fundament legen als das, welches gelegt ist, und das ist Jesus Christus. Und wenn jemand auf diesem Fundament Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh aufbaut, so wird das Werk eines jeden offenbar werden…“ (1.Kor.3,10-13). – D.h. der Auftrag des Apostels besteht darin, „das Fundament zu legen“, das Jesus Christus ist. Der Apostel muss sicherstellen, dass die christliche Gemeinschaft auf Jesus Christus aufgebaut ist, und auf nichts und niemand anderem. Das Volk Gottes muss auf der persönlichen Beziehung jedes einzelnen zu Jesus Christus gegründet sein. Es darf von niemandem sonst abhängig gemacht werden; nicht einmal vom Apostel. Nachdem das Fundament gelegt ist, ist es Sache jedes einzelnen, „wie er darauf aufbaut“.

So erklärt Paulus auch im vorhergehenden Abschnitt (v.4-9) seine Beziehung zu Apollos: Jeder erhält seinen eigenen Auftrag von Gott. „Wir sind Diener; und jeder [dient] wie Gott es ihm gegeben hat“ (v.5). Paulus war nicht der Vorgesetzte von Apollos. Apollos war einer jener „anderen“, die „auf dem Fundament aufbauten“; im Auftrag Gottes und nicht im Auftrag von Paulus.

Das Volk Gottes sollte darauf achten, sich nicht unter von Menschen ersonnene Leiterschaftsstrukturen unterstellen zu lassen. Wenn „Apostel“ als Herren und Platzanweiser über die anderen Diener Gottes gestellt werden, dann verfällt das Volk Gottes in eine neue Abhängigkeit von Menschen, statt von Gott selber.

Die Gemeinde muss die Apostel prüfen, ob sie echt sind.

Einige Gemeinden möchten Apostel haben, weil sie von der Last befreit sein möchten, ihr eigenes Unterscheidungsvermögen auszuüben. Sie möchten einen Leiter haben, dem sie ohne Zweifel oder Fragen folgen können. Sie gleichen darin den alten Israeliten, die einen König haben wollten (1.Samuel 8,4-20). Aber das Neue Testament sagt klar, dass die Christen (alle Christen!) jeden Leiter und jede Lehre prüfen sollen, inbegriffen die Apostel.
Paulus weist die Korinther streng zurecht, weil sie die „Superapostel“ nicht prüften, die zu ihnen gekommen waren:

„Denn wenn jemand kommt und einen anderen Jesus verkündet, den wir nicht verkündet haben, oder wenn ihr einen anderen Geist empfangt, den ihr [anfangs] nicht empfangen habt, dann ertrugt ihr es wohl. (…) Denn diese sind falsche Gesandte, betrügerische Arbeiter, die sich als Gesandte des Christus verstellen. Und das ist nicht verwunderlich; denn der satan selber verstellt sich als ein Engel des Lichts. Also ist es nichts Grosses, wenn auch seine Diener sich als Diener der Gerechtigkeit verstellen. Ihr Ende wird ihren Taten gemäss sein.“ (2.Korinther 11,4.13-15)

Der Herr lobt die Gemeinde in Ephesus, denn

„du kannst die Bösen nicht ertragen, und hast die geprüft, die sagen, sie seien Gesandte, und sind es nicht, und hast gefunden, dass sie Lügner sind“ (Offenbarung 2,2).

Wo also jemand einen Aposteldienst beansprucht, da muss die Gesamtgemeinde prüfen:
ob er seiner Person und seinem Charakter nach ein echter Nachfolger des Herrn ist. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Matthäus 7,20). Insbesondere muss natürlich jeder Apostel auch die Kriterien von 1.Timotheus 3 für einen Ältesten erfüllen; und erst recht die Kriterien für jedes Glied der Gemeinde nach 1.Kor.5,11, 6,9-10, Offb.21,8, u.a.
ob seine Lehre der Schrift gemäss ist. Paulus schreibt an die Galater, dass sie nicht einmal ihn selber aufnehmen sollten, falls er ein anderes Evangelium verkünden würde als das, das sie am Anfang empfangen haben (Galater 1,8-9).

Wenn ein Leiter für sich eine Autorität beansprucht, die nicht hinterfragt werden darf, und den „gewöhnlichen Gemeindegliedern“ nicht erlaubt, ihn auf biblischer Grundlage zu prüfen und zu kritisieren, dann ist er kein echter christlicher Leiter.

„Die Zeichen des Apostels“

„Aber die Zeichen eines Gesandten habe ich unter euch gewirkt in aller Ausdauer, mit Zeichen und Wundern und Kraftwirkungen.“ (2.Korinther 12,12) – Ein Apostel wirkt Zeichen, dass Gott selber ihn gesandt hat. Im Fall der ersten zwölf Apostel und auch bei Paulus bestanden diese Zeichen vorwiegend in Wundern und übernatürlichen Heilungen. Bei den Aposteln im weiteren Sinn muss das nicht unbedingt der Fall sein. Z.B. von Barnabas und von Timotheus werden keine übernatürlichen Wunder erwähnt. Aber Barnabas bewies eine aussergewöhnliche Grosszügigkeit als Folge seiner Nähe zum Herrn (Apg.4,36-37).
Von den in einer früheren Betrachtung genannten Pioniermissionaren und Erweckungspredigern wurden meines Wissens weder von William Carey noch von Hudson Taylor übernatürliche Wunder berichtet. Aber beide bewiesen eine aussergewöhnliche Ausdauer im Ertragen von Leiden, Krankheiten, Einsamkeit, Unverständnis, materieller Not, und vieler anderer Schwierigkeiten. Carey stellte überdies den einsamen Rekord auf, die Bibel in nicht weniger als vierundvierzig asiatische Sprachen übersetzt zu haben. – Im Dienst Zinzendorfs stach ein besonderer Tag heraus, als der Heilige Geist über die Geschwister aus verschiedenen Kirchen und Denominationen ausgegossen wurde, die mit ihm versammelt waren. Mit dem Ergebnis, dass sie sich untereinander versöhnten und „in einer brennenden Liebe zum Erlöser und zueinander vereint wurden“.
Gott kann also seinen Ruf auf viele und verschiedene Arten bestätigen, nicht immer mit spektakulären Wundern. Aber im Leben eines „Gesandten des Herrn“ wird immer etwas Aussergewöhnliches zu beobachten sein; etwas, was nur dadurch zu erklären ist, dass Gott seine Hand auf diese Person gelegt hat.

Die apostolische Funktion kann nicht auf eine einzige Denomination beschränkt bleiben.

Das ist eine logische Folge daraus, dass der Aposteldienst über die örtliche Gemeinde hinausgeht. Das Neue Testament sagt nicht viel über das Problem der Denominationen; dieses Problem tauchte nur in Korinth auf. Aber wir lesen dort, dass Paulus sich an „die Gemeinde Gottes“ richtet, „die in Korinth ist“ (1.Kor.1,2), als ob die unterschiedlichen Parteien nicht existierten. Er ermahnt sie alle in gleicher Weise, in der Erwartung, dass sie alle seine Autorität akzeptieren würden. Ein Apostel (wie alle „Zurüstungsfunktionen“ von Epheser 4,11) ist „zur Zurüstung des Leibes Christi“ eingesetzt (Epheser 4,12). Wenn also an einem Ort der Leib Christi in unterschiedliche Denominationen gespalten ist, dann kann sich ein Apostel nicht nur an eine Auswahl von ihnen wenden.

Es ist ein anderer Fall, wenn eine Denomination (oder deren Leiter) den Dienst eines Apostels ablehnt, nur weil dieser Dienst sich nicht ihren besonderen denominationellen Strukturen unterwirft. Das ist natürlich nicht die Schuld des Apostels. Es versteht sich von selbst, dass ein apostolischer Dienst sich unabhängig von denominationellen Strukturen entfalten muss. Aus demselben Grund muss der apostolische Ruf einer Person angezweifelt werden, die sich stark mit einer bestimmten Denomination identifiziert.

Apostel in der neutestamentlichen Gemeinde – Teil 2

18. März 2020

In der vorhergehenden Betrachtung sahen wir, dass es im Neuen Testament ausser den ursprünglichen zwölf Aposteln auch Apostel in einem weiteren Sinn gibt. Daher stellt sich die Frage, ob es auch heute noch Apostel geben soll. Meiner Meinung nach ist das eine offene Frage, die von der Bibel her nicht endgültig beantwortet werden kann. Beide Positionen können einleuchtende Argumente für sich beanspruchen. Ich werde deshalb für beide Alternativen untersuchen, was sich für Konsequenzen ergeben für eine Gemeinde, die dem neutestamentlichen Vorbild folgen möchte.

a) Wenn der Aposteldienst für alle Zeiten gilt:

In diesem Fall kann es sich nur um „Apostel im weiteren Sinn“ handeln. Das bedeutet:
– Niemand in der heutigen Gemeinde darf sich anmassen, über die ganze universelle Gemeinde zu bestimmen oder zu herrschen oder autoritativ zu lehren, oder auf irgendeine andere Weise die besondere Autorität auszuüben, die den ursprünglichen zwölf Aposteln zu eigen war.
– Niemand in der heutigen Gemeinde darf sich anmassen, den inspirierten Schriften des Neuen Testaments etwas hinzuzufügen, oder seinen eigenen Lehren dieselbe Autorität zuzuschreiben wie dem Neuen Testament.

Worin würde dann eine apostolische Funktion heute bestehen?
– Pioniermission an Orten, wo das Evangelium noch nicht bekannt ist, sofern dies durch eine direkte Berufung Gottes an einen oder mehrere seiner Diener geschieht. In diesem Sinn können wir Pioniere wie William Carey in Indien oder Hudson Taylor in China als Apostel bezeichnen. Beide mussten nicht nur ohne jede menschliche Hilfe in unerreichte Gebiete vordringen, sondern sie mussten auch einen harten Kampf ausfechten, um ihre missionarische Berufung gegenüber den etablierten Kirchen in ihrem Heimatland zu verteidigen.
– Erweckungspioniere, die von einer grossen Zahl örtlicher Gemeinden als Autorität anerkannt werden, sei es als Gründer dieser Gemeinden, oder sei es, weil sie eine viel grössere Nähe zum Herrn bewiesen als die von Menschen eingesetzten Leiter dieser Gemeinden. In diesem Sinn können wir Leiter wie Menno Simons, John Wesley, Graf Zinzendorf, oder William Booth als Apostel bezeichnen.

Doch keiner der Genannten beanspruchte zu Lebzeiten den Titel „Apostel“ für sich selbst, und das aus gutem Grund. Wenn jemand sich heute als „Apostel“ bezeichnet, gibt er Anlass zu vielen Missverständnissen. Auch wenn es also in der heutigen Gemeinde apostolische Funktionen geben mag, so scheint es mir doch weise zu sein, den Aposteltitel nicht zu verwenden.

In einer späteren Betrachtung werden wir auf die Frage zurückkommen, was Aposteldienst heute konkret bedeuten könnte.

b) Wenn der Aposteldienst nicht für heute ist:

Viele heutige Kirchen und Gemeindeverbände lehren, dass es den Aposteldienst nicht mehr gibt. Aber viele dieser Denominationen haben Strukturen und Ämter entwickelt, die in der Praxis eine apostolische Funktion ausüben: Sie haben regionale, nationale und z.T sogar internationale Leitungsgremien, deren Beschlüsse für die örtlichen Gemeinden und deren Leiter verbindlich sind. Das bedeutet, eine apostolische Autorität zu beanspruchen, denn im Neuen Testament gibt es keine irdische Autorität über den örtlichen Gemeinden, ausser den Aposteln.

Zwar können einige andere Funktionen der Gemeinde ebenfalls übergemeindlich und überregional wirken, wie wir später sehen werden (Propheten, Evangelisten, Lehrer). Aber diese greifen nicht autoritativ ins örtliche Gemeindeleben ein. Wenn also eine christliche Gruppierung lehrt, der Aposteldienst existiere heute nicht mehr, dann muss sie notwendigerweise auch die Unabhängigkeit jeder örtlichen Gemeinde lehren und praktizieren. Jede andere Position wäre widersprüchlich in sich selbst.

Das bedeutet, dass alle diese regionalen, nationalen und internationalen Kirchen-„Regierungen“ unbiblisch sind! In dieser Situation gibt es nur zwei mögliche Alternativen, die mit den neutestamentlichen Prinzipien harmonieren:

1. Man anerkennt, dass solche übergeordnete Leitungsstrukturen effektiv einen Aposteldienst darstellen. Infolgedessen müssten alle diese übergeordneten Leiter abgesetzt werden, sofern sie nicht die biblischen Kriterien einer apostolischen Berufung erfüllen. Es müssten neue Leiter gesucht werden, die tatsächlich eine solche Berufung unter Beweis stellen können. In diesem Prozess sollte beachtet werden, dass apostolische Funktionen nicht von einem Leiter oder einem Gremium verliehen werden können, aber auch nicht von einer Versammlung in einem „demokratischen“ Prozess. Nur Gott selber in seiner Souveränität kann das tun. Ein solcher Leitungswechsel kann also nicht einfach durch administrative Massnahmen erfolgen. Würde eine Denomination einen solchen Prozess ernsthaft ins Auge fassen, dann würden sich alle Mitglieder genötigt sehen, sich vor Gott zu demütigen und ihn ernsthaft zu suchen, bis er eine tiefgehende persönliche und geistliche Erneuerung der ganzen Leiterschaft bewirkt.

oder 2. Man entscheidet sich, die Position, dass der Aposteldienst heute nicht mehr existiert, konsequent zu vertreten. Das würde bedeuten, alle regionalen, nationalen und internationalen Leitungsgremien abzuschaffen, und jeder örtlichen Gemeinde volle Unabhängigkeit zu verleihen. Das würde auch die Freiheit einschliessen, ihre eigene „denominationelle Identität“ in Frage zu stellen und die Gemeinschaft mit echten Christen aus anderen Gemeinden der eigenen Stadt höher zu bewerten als die Gemeinschaft mit Gemeinden derselben Denomination in anderen Städten. Aber das würde gleichzeitig bedingen, dass jede Gemeinde sich viel entschiedener und radikaler als bisher dazu verpflichtet, sich der Heiligen Schrift unterzuordnen und insbesondere der „Lehre der Apostel“, wie sie im Neuen Testament niedergelegt ist; denn sonst hätte sie kein Mittel der Korrektur mehr gegen falsche Lehren und Praktiken, die von örtlichen Leitern oder von reisenden Lehrern eingeführt werden könnten.
(Im allgemeinen wird geglaubt, die Leitungsgremien der Gemeindeverbände könnten als solche Korrekturmittel fungieren. Aber das ist eine Illusion. Die Leiter der Gemeindeverbände stellen lediglich die Übereinstimmung der örtlichen Gemeinden mit ihrem eigenen Leitungsgremium sicher; aber sie schützen sie nicht vor den Abweichungen, die von ebendieser denominationellen Leiterschaft ausgehen oder von ihr geduldet werden. Deshalb bewegt sich gegenwärtig die Mehrheit der evangelikalen Gemeinden in Richtung eines Abfalls vom Glauben, der gerade von den nationalen und internationalen Leitern der Gemeindeverbände, der Evangelischen Allianzen und der ökumenischen Kirchenräte gefördert wird.)

Ich bin mir bewusst, dass in der Praxis wohl kaum irgendein bestehender Gemeindeverband ernsthaft die radikalen Veränderungen in Erwägung ziehen wird, die von jeder der beiden genannten Alternativen gefordert würden. Sie werden befürchten, dass jeder dieser beiden Wege zur Auflösung ihres grossen Götzen führen wird, nämlich ihrer denominationellen kirchlichen Struktur. Und diese Befürchtung ist nicht ganz unbegründet.

Doch eine ernsthafte Beschäftigung mit der Frage des Aposteldienstes könnte tatsächlich eine Rückkehr zur neutestamentlichen Situation in Gang setzen, wo es keine Denominationen gab. Diese Frage – egal, in welchem Sinn sie beantwortet wird – hat das Potenzial, den Christen die Augen zu öffnen dafür, dass ihre Kirchenstrukturen unbiblisch sind. Ich schlage deshalb vor, dass jedes Mitglied einer institutionellen Kirche sich selber, seinen Glaubensgeschwistern und seinen kirchlichen Leitern die folgenden Fragen vorlegt:

Glauben wir, dass der Aposteldienst heute noch existiert?

– Wenn ja: Warum lassen wir es zu, dass die wichtigen Leiterschaftspositionen in unserem Gemeindeverband von Personen besetzt sind, die keine Anzeichen einer apostolischen Berufung vorweisen? – Und warum studieren wir nicht gründlich die Bibel, um herauszufinden, wie man einen echten Apostel erkennen kann?

– Wenn nein: Warum lassen wir es zu, dass unsere örtlichen Gemeinden sich regionalen und nationalen Gremien unterordnen müssen? – Wenn das Neue Testament die einzige Quelle apostolischer Lehre ist, warum lassen wir es zu, dass die Lehren unserer Pastoren und Theologen, und die Reglemente und Statuten unserer Denomination, in der Praxis grösseres Gewicht haben als Gottes Wort?

Apostel in der neutestamentlichen Gemeinde – Teil 1

11. März 2020

Das Wort „Apostel“ bedeutet wörtlich „Gesandter“ oder „Beauftragter“. Dieses Wort wird im Neuen Testament für mindestens drei verschiedene Gruppen von Personen verwendet:

a) Die zwölf ursprünglichen Apostel
Das ist die vorwiegende Bedeutung des Begriffs: Die zwölf Jünger, die von Jesus ausdrücklich ausgewählt wurden, „damit sie mit ihm seien“, und um in der Ausbreitung des Evangeliums und in der Leitung der Gesamtgemeinde eine besondere Funktion zu erfüllen (Matthäus 10,1-4, Markus 3,13-19, Lukas 6,12-16). Nachträglich wurde dazu noch Matthias gewählt, als Ersatz für den Verräter Judas (Apg.1,16-26). Bei dieser Gelegenheit wurden die Voraussetzungen klargestellt, um zu diesem Apostelkreis zu gehören: Er musste den auferstandenen Herrn gesehen haben, und musste mit Jesus gewesen sein „angefangen mit der Taufe des Johannes, bis zu dem Tag, als er nach oben aufgenommen wurde“ (Vers 22).
Diese zwölf Apostel hatten unwidersprochene Autorität in allen Gemeinden. Ihr Zeugnis war die einzige vertrauenswürdige Informationsquelle darüber, was Jesus getan und gelehrt hatte. Deshalb waren sie während den ersten fünf Kapiteln der Apostelgeschichte die einzigen, die das Evangelium öffentlich verkündigten. Sie bildeten den „harten Kern“ der 120, die an Pfingsten als erste den Heiligen Geist empfangen hatten.
Nach alldem ist es offensichtlich, dass niemand nach ihnen ein „Apostel“ im selben Sinn wie die Zwölf sein konnte. Ihre apostolische Funktion ist in der ganzen Geschichte einzigartig und einmalig, und ist engstens verbunden mit dem Dienst Jesu auf Erden.
Manchmal wird zu diesen ursprünglichen Aposteln noch Paulus hinzugerechnet, aber die apostolische Berufung des Paulus ist bereits ein Grenzfall, wie er selber sagt (1.Korinther 15,8-9).

b) Apostel im weiteren Sinn
Ausser den Zwölfen (und Paulus) gibt es noch einige weitere Personen, die „Apostel“ genannt werden. Hier ist in erster Linie Barnabas zu nennen, von dem es in Apg.14,14 heisst: „Als die Apostel Barnabas und Paulus es hörten …“ – Auch in 1.Korinther 9,5-6 zählt Paulus Barnabas mit aller Selbstverständlichkeit unter die Apostel.
In 1.Thessalonicher 2,7 heisst es: „… auch wenn wir euch zur Last fallen könnten als Apostel des Christus …“ – Paulus spricht in der Mehrzahl. Das Wort „Apostel“ schliesst also die Mitverfasser des Briefs, Silvanus und Timotheus, mit ein (1,1).
In Galater 1,19 wird Jakobus, der Bruder des Herrn, als Apostel genannt. Dieser Jakobus ist nicht identisch mit „Jakobus, dem Sohn des Zebedäus“, und auch nicht mit „Jakobus, dem Sohn des Alphäus“ (die zu den Zwölfen gehörten), denn als Bruder des Herrn war er natürlich „Sohn des Joseph“.
In Römer 16,7 werden „Andronikus und Junias“ genannt, „die hervorragend sind unter den Aposteln“.

Es gab also eine unbekannte Zahl von Dienern des Herrn, die auch „Gesandte“/“Beauftragte“ (Apostel) genannt wurden, obwohl sie nicht zu den Zwölfen gehörten. Zwischen ihnen und den ursprünglichen Aposteln sehen wir folgende Unterschiede:
– Die Apostel im weiteren Sinn erfüllen nicht notwendigerweise die Voraussetzungen von Apg.1,21-22.
– Ihr Dienst umfasst nicht die Gemeinden aller Orte. Er kann von grosser Reichweite sein (wie im Fall von Barnabas oder Timotheus), oder kann auf einen einzigen Ort beschränkt sein (Jakobus blieb sein Leben lang in Jerusalem); aber jedenfalls ist es kein Dienst an der ganzen „universellen“ Gemeinde.
– Infolgedessen ist ihre Lehre nicht autoritativ wie die Lehre der ursprünglichen Apostel; und sie stehen auch nicht unter der göttlichen Inspiration zur Niederschrift der Heiligen Schrift. (Mit der möglichen Ausnahme von Barnabas, von dem seit frühester Zeit einige Autoren annehmen, er könnte den Hebräerbrief geschrieben haben. Die Zeugnisse darüber sind aber nicht gesichert.)

c) „Beauftragte“ in einem anderen Sinn
In einigen neutestamentlichen Stellen, wo das Wort „Gesandter“/“Beauftragter“ (Apostel) vorkommt, ist der Sinn offenbar ein anderer:
„… unsere Brüder sind Gesandte der Gemeinden …“ (2.Korinther 8,23)
„Epaphroditus, … euer Gesandter und Diener meiner Bedürfnisse …“ (Philipper 2,25)
Hier handelt es sich um Brüder, die von einer Gemeinde (oder von mehreren Gemeinden) ausgesandt wurden, um Nachrichten oder Güter zu überbringen. Diese Stellen sprechen also nicht wirklich von einem Aposteldienst. Aposteldienst im eigentlichen Sinn bedeutet, von Gott selber beauftragt zu sein, nicht von Menschen. Ein Apostel erhält seinen Auftrag nicht von einem anderen Leiter, und auch nicht von einer Gemeinde oder Versammlung. Andere Personen können unter Umständen seine apostolische Berufung bestätigen (z.B. Apg.13,1-2), aber sie können nicht Urheber einer solchen Berufung sein.

Funktionen der Zurüstung in der neutestamentlichen Gemeinde nach Epheser 4,11

3. März 2020

Epheser 4,11 erwähnt fünf „Gaben“ oder „Funktionen“ in einem besonderen Zusammenhang: Diese fünf dienen „zur Zurüstung der Heiligen zum Werk des Dienstes, zur Auferbauung des Leibes des Christus, bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zu einem vollkommenen Mann, zum Mass der Reife der Fülle des Christus …“ (Epheser 4,12-16)

Wir behandeln sie hier gesondert, weil diese fünf Funktionen weiter reichen als die einfache „gegenseitige Auferbauung“ in den „Einander“-Beziehungen. Die Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer sind verantwortlich, die anderen Glieder des Leibes zuzurüsten, damit diese einen Dienst zur Auferbauung des Leibes tun können. Wir können sie also „Zurüstungsfunktionen“ nennen.

Vers 11 sagt wörtlich: „Und er selber gab die einen [als] Apostel … (usw.)“. Die „Gabe“, die Gott seiner Gemeinde gibt (Vers 8), ist also nicht „der Aposteldienst“, sondern der Apostel selber als Person; nicht „die Prophetie“, sondern der Prophet selber als Person; usw. Dadurch wird nahegelegt, dass diese Personen ihre Funktionen vollzeitlich ausüben, als ihre Hauptbeschäftigung. Und wir können schliessen, dass diese Personen nicht mehr sich selber zu eigen sind; sie stehen nun der Gemeinde zur Verfügung, um ihr zu dienen als ein „Geschenk“ Gottes an die Gemeinde. Ihre Funktion besteht also sicher nicht darin, über die Gemeinde zu bestimmen oder zu herrschen!

Ich möchte nochmals betonen, dass es von diesen Gaben bzw. Diensten heisst: „Gott gab“. Es steht nicht in der Macht oder im Belieben von Menschen, Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten oder Lehrer „aufzustellen“. Niemand kann einen Apostel „wählen“, einen Hirten „ordinieren“ oder „einsetzen“, das „Amt“ eines Evangelisten „schaffen“, jemanden als Lehrer „beauftragen“, usw. Ebensowenig kann jemand die Fähigkeiten, die zu diesen Diensten notwendig sind, auf rein menschlichem Weg erlangen. Niemand wird zum Propheten oder zum Hirten, indem er eine „Ausbildung“ dazu durchläuft, vom Propheten X oder vom Hirten Y „geschult“ wird, eine Bibelschule oder ein Theologiestudium abschliesst, oder ähnlich. Die Schrift ist sehr klar in dieser Hinsicht: Nur Gott kann jemandem eine dieser Funktionen „geben“. Die Gemeinde, d.h. das Volk Gottes, kann es lediglich erkennen und anerkennen, wenn Gott jemandem eine dieser Funktionen gegeben hat. Und wenn die Gemeinde diese Personen nicht erkennt und anerkennt, und stattdessen nach ihrem Belieben andere Menschen zu solchen Funktionen „einsetzt“, dann verkrüppelt sie geistlich.

Wenn wir das Leben der neutestamentlichen Persönlichkeiten untersuchen, die eine dieser Funktionen ausübten, dann finden wir, dass die meisten von ihnen „reisende Diener“ waren; d.h. sie zogen von Ort zu Ort und deckten einen grösseren geographischen Bereich ab. Es ist anzunehmen, dass relativ wenige Personen einen solchen vollzeitlichen Dienst innehatten, und dass diese nicht die Leiter der örtlichen Gemeinden waren. Die allermeisten örtlichen Leiter (Älteste) müssen einer normalen Arbeit nachgegangen sein und übten ihre gemeindlichen Funktionen in ihrer Freizeit aus.

Viele heutige Kirchen haben diese fünf Funktionen durch eine einzige ersetzt, die des „Pfarrers“ oder „Predigers“, der versucht, alle fünf Funktionen gleichzeitig zu erfüllen (und dies manchmal allein durch „Predigen“ …). Das ist nicht im Sinne des Wortes Gottes:
– Gott möchte, dass es im „Leib Christi“ eine Vielfalt von Gaben und Funktionen gibt, die einander gegenseitig ergänzen. Die Zusammenkünfte der Christen sollten nicht von einer einzigen Person dominiert werden; und Leiterschaft und „Dienst“ in einer Gemeinde sollte nicht auf eine einzige Person konzentriert sein. Eine einzige Person kann nicht alle fünf genannten Funktionen angemessen erfüllen. Jeder Diener Gottes braucht die Ergänzung durch andere, welche Gaben haben, die er selber nicht hat.
– Wenn die Zusammenkünfte hauptsächlich aus „Predigt“ bestehen, dann ist der Prediger der einzige, der aktiv „dient“; alle anderen Glieder bleiben passiv. Aber der Zweck der Zusammenkünfte ist, dass alle Heiligen „das Werk des Dienstes“ tun, und dass sie dazu zugerüstet werden, dies zu tun.

So ist z.B. ein Evangelist nicht einfach jemand, der evangelisiert. Noch wichtiger ist, dass er durch sein Beispiel und seinen Rat die Mitglieder und Ältesten der örtlichen Gemeinden dazu ausrüstet, selber zu evangelisieren. – Ebenso ist ein Hirte im Sinne von Epheser 4,11 nicht einfach jemand, der eine örtliche Gemeinde „hütet“ (und erst recht nicht sie „leitet“ oder „regiert“). Er ist vielmehr jemand, der die Mitglieder und Ältesten der örtlichen Gemeinden zurüstet, damit sie selber einander Hirtendienste leisten. – Ein „Lehrer“ ist nicht einfach jemand, der lehrt: Er rüstet die Mitglieder und Ältesten der örtlichen Gemeinden dazu aus, selber die Schrift zu studieren und zu verstehen, damit sie einander lehren können.

Wir erwähnen diese Funktionen im Zusammenhang mit der Gemeinde als „Familie Gottes“ (siehe die vorangegangenen Betrachtungen), weil wir gesehen haben, dass in der neutestamentlichen Gemeinde alle Leiterschaft „familiär“ ist. Die Zurüstungsfunktionen sind keine Ausnahme. Die Autorität und Integrität der Personen, die diese Funktionen ausüben, muss sich zuallererst in ihrer eigenen Familie erweisen; und dann in der „erweiterten geistlichen Familie“, d.h. in der örtlichen Gemeinschaft von Christen.
Wenn jemand anfängt, in der Familie Gottes eine grössere Verantwortung wahrzunehmen, dann wird die Gefahr grösser, die wichtigste Verantwortung zu vergessen, nämlich die eigene Familie. Wer eine dieser Zurüstungsfunktionen ausübt, muss besonders wachsam sein, damit er nicht seine Frau und Kinder vernachlässigt. Sonst untergräbt er dadurch die Grundlage seiner eigenen geistlichen Autorität.

Jeder Diener Gottes, der glaubt, zu einer dieser Funktionen berufen zu sein, sollte sich die folgenden Fragen stellen:
Was ist wirklich die Funktion, zu der mich Gott berufen hat? Bin ich ein Apostel, Prophet, Evangelist, Hirte, oder Lehrer?
Welches sind die Diener Gottes mit anderen Funktionen, von denen Gott möchte, dass ich mit ihnen zusammenarbeite, sodass sie ergänzen, was mir fehlt?
Wie kann ich meine Funktion auf solche Weise ausüben, dass die anderen Glieder des Leibes zugerüstet werden, selber ihre Funktion der gegenseitigen Auferbauung auszuüben?

Autoritarismus bei Aussteigern aus der kirchlichen Welt

21. April 2019

In vergangenen Artikeln habe ich aus verschiedenen Perspektiven die Themen „Autoritarismus“ und „Machtmissbrauch“ beleuchtet. Oft geschehen solche Dinge in Freikirchen und ähnlichen Organisationen. Als Gegenbewegung dazu hörte man in den vergangenen Jahrzehnten von verschiedenen Richtungen von nicht-institutionellen christlichen Gemeinschaften, „einfachen Gemeinden“, „Out-of-Church-Christians“ („Christen ausserhalb der Kirche“), usw. Ich nehme an, dass nicht wenige Menschen, die sich mit solchen Bewegungen identifizieren, vor dem Machtmissbrauch in institutionellen Kirchen geflüchtet sind.

Doch auch solche Bewegungen sind vor hierarchischem Denken und autoritären Lehren nicht sicher. Manche Hausgemeindebewegungen sind von Anfang an mit einer klaren hierarchischen Struktur und dem Konzept von „Unterordnung“ gegründet worden, und sind in dieser Hinsicht nicht besser als die institutionellen Kirchen. Bei anderen kommen die autoritären Ideen und Praktiken eher durch die Hintertür herein.

– So fand ich einmal eine Webseite einer „nicht-institutionellen“ christlichen Gemeinschaft, die viel von der Rückkehr zum neutestamentlichen Gemeindemodell sprach, wo jeder nach seinen Gaben beiträgt, die Mitglieder ihr Leben miteinander teilen, und echte Bruderschaft gelebt wird. Auf der Webseite selber teilten Mitglieder Gedanken, Gebete und Lieder mit. Alles sah sehr ansprechend und harmonisch aus.
Später fand ich Zeugnisse von ehemaligen Mitgliedern, wonach im Innern dieser Gemeinschaft die Dinge ganz anders aussahen. Von Mitgliedern wurde erwartet, dass sie in dasselbe Wohnviertel umzogen, wo bereits die anderen Mitglieder lebten. Das „gemeinsame Leben“ wurde derart überbetont, dass Mitglieder unter ständige Überwachung gestellt wurden, sodass sie nicht einmal allein zum Einkaufen gehen durften. Sie mussten den Kontakt zu Verwandten abbrechen, die der Gruppe skeptisch gegenüberstanden; und wenn sie doch einmal Verwandte besuchten, mussten sie dabei von einem „gut indoktrinierten“ Mitglied begleitet werden. Sie durften nicht einmal allein die Bibel lesen oder beten; alles musste „in Gemeinschaft“ geschehen. Obwohl es offiziell „keine Hierarchie“ gab, war allen Insidern völlig klar, wer die Leiter waren; und den Anordnungen des Hauptleiters durfte auf keinen Fall widersprochen werden. Neue Mitglieder mussten beim Eintritt eine Generalbeichte ablegen über sämtliche Sünden, die sie je begangen hatten. Diese Beichte wurde protokolliert, sodass die Leiter diese Liste später dazu gebrauchen konnten, „rebellische“ Mitglieder zu erpressen. – Ausserdem wurde vermeldet, dass Internetseiten, die negative Informationen über die Gruppe enthielten, jeweils nach kurzer Zeit auf mysteriöse Weise zu verschwinden pflegten.

– Mike Dowgiewicz ist ein Autor, der stark das Engagement christlicher Väter in ihren eigenen Familien betont, vor allen Verantwortungen in Beruf, Gemeinde, usw. Ich verdanke ihm wertvolle Einsichten über biblische Ältestenschaft vor dem Hintergrund der altjüdischen Kultur. Doch fand ich heraus, dass auch er ein Verfechter der unbiblischen „Chain of command“ ist (militärische Befehlshierarchie innerhalb der christlichen Gemeinschaft). Als ich ihm deswegen schrieb, antwortete er sehr unwirsch, und warf mir vor, ich versuchte ihn „psychologisch zu manipulieren“. Leider ein typisches Reaktionsmuster: Wenn autoritäre Leiter wegen eines konkreten Punktes in Frage gestellt werden und die Argumente nicht entkräften können, dann gehen sie zu persönlichen Angriffen über und unterstellen dem Fragesteller unlautere Motive.

– In diesem Zusammenhang beobachte ich schon seit längerer Zeit mit einiger Besorgnis die Entwicklung von Wolfgang Simson. Während langer Zeit hat er in seinen Veröffentlichungen hauptsächlich nicht-hierarchische, z.T. sogar fast familiäre Strukturen und Modelle von Gemeinschaft beschrieben. In einer Hausgemeinden-Konferenz 2006 in Spokane (USA) [eine Aufnahme davon war seinerzeit im Internet veröffentlicht] machte er eine Aussage, die mich sehr berührte und mich hoffen liess, er sei drauf und dran, die Familienstruktur christlicher Gemeinschaft zu entdecken: „Wenn wir glauben, dass Gott ein Richter ist, dann wird die Kirche wie ein Gerichtssaal. Wenn wir glauben, dass Gott ein Arzt ist, dann wird die Kirche wie ein Spital, wo wir unsere Wunden pflegen, und nachher einander wieder von neuem verletzen. Wenn wir glauben, dass Gott ein General ist, dann wird die Kirche wie eine Kaserne. Wenn wir aber Gott als unseren Vater sehen, dann wird die Kirche wie eine Familie sein.“

Aber leider ist er von dieser Idee wieder abgedriftet. Seine neueren Publikationen neigen immer mehr zu autoritär-hierarchischen Vorstellungen. Statt vom „Haus“ (Familie), von „organischer Gemeinschaft“, oder ähnlichen Konzepten, spricht er nun fast ausschliesslich vom „Königreich“. Zugleich beobachte ich eine abnehmende Transparenz darüber, was er nun wirklich lehrt über die praktische Verwirklichung dieses Konzepts.

Schon in jenen Aufnahmen von 2006 waren einige alarmierende Aussagen zu finden, die ich damals einfach „übersah“ – bzw. ich verfiel in den Fehler, auch das Problematische einfach hinzunehmen, weil mir der Mann und seine Ideen sympathisch waren. Im Rückblick sehe ich, dass er schon damals seine spätere Entwicklung klar vorgezeichnet hat. Ich möchte nur den „dicksten Hund“ erwähnen:

In Simsons Königreich ist es obligatorisch, dass Neubekehrte alle ihre Güter, die über das Lebensnotwenige hinausgehen, „den Aposteln zu Füssen legen“. Diese Apostel entscheiden dann darüber, was für Personen bzw. Projekte mit diesem Geld unterstützt werden sollen. Wolfgang Simson sagt in seinem Vortrag: „Das waren also ganz enorme Summen, die den Aposteln zu Füssen gelegt wurden. Der Gegenwert vieler Häuser und Grundstücke! Das war praktisch der Eintrittspreis, den alle bezahlten, die ins Christentum eintraten. Sie gaben alle Sicherheiten auf, weil sie zwei neue Sicherheiten gefunden hatten: in Gott und in der Gemeinde. Was brauchten sie mehr? Die Schlussfolgerung war deshalb, in der Urgemeinde, dass wenn jemand reich werden wollte, dann war er besessen …“ – Auch der Ausdruck „Idiot“ bezeichne jemanden, der nicht bereit sei, sich von überflüssigen Gütern zu trennen und diese „den Aposteln zu Füssen zu legen“. – Etwas später sagt er: „Das heutige Äquivalent des Ortes ‚zu Füssen der Apostel‘ wäre eine apostolische Stiftung in einer Region, verwaltet von Personen, die an Ort eine ‚Geschichte des Vertrauens‘ haben, d.h. von den anderen als echte Apostel anerkannt sind … Ich schlage vor, dass einfach jemand mit einer solchen Stiftung anfangen sollte; und die Beiträge der neuen Hausgemeinden und der vielen Christen, die keiner Kirche mehr vertrauen, und der Geschäfte und der Neubekehrten werden dort einbezahlt; und dann gäbe es genügend Geld, um 50, 100 oder 200 Erntearbeiter zu bezahlen …“
In seinem Buch „Die Verfassung des Königreichs“ (2014) erscheint dieser Gedanke wieder (S.134):
„Das Königreich kennt, wie jedes andere Land, eine zentrale Finanzverwaltung. Die Bibel benutzt dafür Ausdrücke wie (…) der Platz vor den Füssen der Apostel (Apg.4,34-35; 5,1-2) (…) So wie Judas der Banker von Jesus war (er hatte „den Beutel“ Joh.13,29), waren (und sind) die Apostel Gottes Banker.“ [Hervorhebungen im Original.]

Dazu ist einiges zu sagen. Angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse unter jenen, die sich Christen (oder auch „Königreichsbürger“) nennen, ist ein solcher Vorschlag zumindest blauäugig, wenn nicht Schlimmeres. Integrität – besonders finanzielle Integrität – ist eine derartige Mangelware, dass überall da, wo in „christlichen“ Kreisen bisher ein paar tausend Dollars veruntreut werden, diese Summe sofort in Millionenhöhe schnellen würde.
Zweitens würde ein solches Vorgehen den Einzelnen entmündigen. Was ist dann mit den Aufrufen an die Verantwortung des Einzelnen, selber mit den Bedürftigen, von denen er Kenntnis hat, zu teilen? (Z.B. Gal.6,6.9-10; Eph.4,28; Jak.1,27) Zum reichen Jüngling sagte Jesus: „Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen.“ (Matth.19,21 und Parallelen.) Er sagte nicht: „Lege es den Aposteln zu Füssen.“ Und auch nicht: „Gib es mir, damit ich es so verteilen kann, wie es recht ist.“ Jesus traute dem reichen Jüngling zu, selber bedürftige Personen zu finden und seinen Besitz angemessen verteilen zu können. Bestimmt traut er das auch jedem seiner Nachfolger zu.
Im Neuen Testament ist Geben freiwillig. Die Mitglieder der Urgemeinde gaben grosszügig, weil der Heilige Geist sie so leitete. (Auf weitere Faktoren gehe ich weiter unten ein.) Es wäre aber anmassend und tyrannisch, dasselbe als Obligatorium von Menschen zu fordern, in denen der Heilige Geist nicht auf diese Weise gewirkt hat. Tatsächlich liefe dies auf eine zwangsweise Umverteilung von Gütern nach kommunistischem Muster hinaus.

Von der Bibel her ist dazu zu sagen, dass Geschehnisse, die berichtet werden, nicht einfach so als normativ und „obligatorisch“ für alle Zeiten und alle Orte erklärt werden können. Es gibt kein neutestamentliches Gebot, Häuser und Grundstücke zu verkaufen und den Erlös „den Aposteln zu Füssen“ zu legen. Ebensowenig wurden Mitglieder der Urgemeinde als „besessen“ oder „Idioten“ beschimpft und beschämt, wenn sie dies nicht taten. Wolfgang Simson begeht den Fehler, die besondere Situation der Urgemeinde in Jerusalem für die Gemeinde aller Zeiten und aller Orte verpflichtend zu machen. Dabei lässt er folgende Umstände ausser Acht:
– Jesus hat die Zerstörung Jerusalems (und nur Jerusalems) prophetisch vorhergesagt. Deshalb war es sinnvoll, Häuser und Grundstücke in dieser Stadt zu verkaufen, denn die Jünger wussten, dass diese nach relativ kurzer Zeit sowieso zerstört werden würden. Aus anderen Städten berichtet das Neue Testament nichts vom Verkaufen von Liegenschaften.
– Auch in der Jerusalemer Gemeinde war das kein Obligatorium. Ananias und Saphira wurden nicht deshalb gerichtet, weil sie Geld zurückbehalten hatten, sondern weil sie deswegen gelogen hatten (Apg.5,4). Es wäre besser für sie gewesen, alles Geld für sich zu behalten; denn das wäre wenigstens ein ehrlicher Ausdruck ihrer Herzenshaltung gewesen, und wäre nicht verurteilt worden: „Bliebe es nicht unverkauft dein [Eigentum]; und [auch] nach dem Verkauf war es in deiner Gewalt?“
– In der Urgemeinde herrschte eine aussergewöhnliche Heiligkeit und Integrität. Deshalb war es dort möglich, den Aposteln zu vertrauen hinsichtlich der Verwaltung der Güter. Nie in ihrer weiteren Geschichte hat die christliche Gemeinde auch nur annähernd diese Höhe wieder erreicht. Später war es deshalb vernünftiger, im Normalfall das Geben der Verantwortung des Einzelnen zu überlassen (siehe die weiter oben angeführten Stellen), und nur in Ausnahmefällen Spenden zentral zu verwalten. (Die Sammlungen für Jerusalem – Apg.11,29-30; 2.Kor.8 und 9 – waren solche Ausnahmen; die einzigen, die im Neuen Testament berichtet werden.)
– Die Apostel selber haben nie eine Verantwortung als „Banker“ gesucht oder gar gefordert. Sie sahen darin keine von Gott gegebene Berufung, sondern im Gegenteil eine unangemessene Last, die sehr bald zu Problemen führte, und die sie so bald wie möglich wieder loswerden wollten: „Es ist nicht angemessen, dass wir das Wort vernachlässigen und bei den Tischen Dienst tun. (…) Wir jedoch wollen beim Gebet und beim Dienst des Wortes verharren.“ (Apg.6,1-4.)

Nun wird eine Beurteilung der Lehren Simsons erschwert dadurch, dass er sich widersprüchlich äussert. Er weiss offenbar um die Problematik des Autoritarismus und kritisiert ganz direkt gewisse autoritäre Strömungen, z.B. den Dominionismus oder Rekonstruktionismus (eine v.a. in den USA verbreitete Strömung mit dem Ziel, dass Christen politischen und gesellschaftlichen Einfluss gewinnen sollen, um biblische Werte in der gesamten Gesellschaft durchzusetzen und so das Königreich Gottes herbeizuführen). In einem Rundbrief vom Januar 2018 beklagte er auch, wie die Ausbreitung des Christentums oft mit der Kolonisierung Hand in Hand ging, und statt des Königreichs Gottes nur westlich-kulturelle kirchliche Formen exportiert wurden. (Seltsamerweise erwähnt er dabei aber nur reformierte und evangelikale Kirchen. In einem persönlichen Mail bagatellisierte er dagegen die Eroberung und Unterwerfung eines grossen Teils Amerikas durch die Spanier auf Geheiss des Vatikans, und zeigte kein Interesse, eine Initiative amerikanischer Eingeborener zu unterstützen, die seit 1992 Petitionen an den Papst richten, um die diesbezügliche Bulle von 1493 endlich(!) widerrufen zu lassen.)
Öfters warnt Simson vor „religiösen Stars“, Personenkult, und vor Leitern, die andere zu ihren eigenen Jüngern machen wollen. Dem traditionellen institutionellen Kirchensystem wirft er vor, aus eigenmächtig aufgebauten Königreichen zu bestehen, die Menschen folgen statt Gott.

Doch dann baut er genau dasselbe wieder auf, was er soeben niedergerissen hat. Z.B. scheut er sich nicht, gewisse Menschen als „seine“ Jünger zu bezeichnen.
– In den kolonialisierten Ländern wurde das Evangelium nicht als Erlösungsbotschaft verkündet, sondern als Botschaft der Unterwerfung unter die „christliche“ Kolonialmacht, die angeblich Gottes Reich verkörperte. Wolfgang Simsons Königreichstheologie begeht genau denselben kolonialen Fehler: Aus der von Jesus begründeten Bruderschaft ohne Hierarchie (Matth.23,8-12), bzw. „Schafherde“ mit Jesus als einzigem Hirten (Joh.10), macht er ein reglementiertes „Königreich“. In dieses Reich einzutreten wird gleichgesetzt mit der Unterordnung unter „apostolische Menschen“, die Gottes „Regierungsvertreter“ auf dieser Erde seien. Damit wird der Grundstein gelegt zu einer neuen Generation von entmündigten, indoktrinierten Nachfolgern, die ihre Gottesbeziehung aus zweiter Hand leben. Ja, Simsons „Kingdom Manifesto“ spricht ausdrücklich von „Kolonien des Königreichs Gottes auf Erden“.

Von diesem Königreich spricht Simson fast ausschliesslich in einer amtlichen, institutionellen Sprache. Es geht um „Regierung“, „Gesetze“, „Legalität“, „Einbürgerung“, „Staatsbank“, sogar „Staatsgeheimnisse“ und einen „Amtseid“. Die neutestamentlichen Aussagen über christliche Gemeinschaft und christliches Leben, die mehr beziehungsmässige und organische Aspekte betonen, treten dagegen in den Hintergrund, oder kommen in Simsons neueren Verlautbarungen überhaupt nicht mehr vor.

In einem neueren Rundbrief (März 2019) sagte er u.a: „Viele Bibelübersetzer mögen den Gedanken nicht, dass der Mensch im Königreich ein Untergebener, und damit ein Befehlsempfänger Gottes ist.“ Das ist zwar richtig, wenn es über unsere Stellung vor Gott gesagt wird. Aber:
– Es ist nur eine Teilwahrheit. Wir sind nicht nur Befehlsempfänger, sondern auch geliebte Kinder, Freunde und Mitarbeiter Gottes, Glieder am Leib Christi, und noch so manches mehr!
– Diese Teilwahrheit wird regelmässig von autoritären Leitern dazu missbraucht, Gehorsam und Unterordnung ihnen gegenüber zu erzwingen. Wo immer die Wahrheit über Gott als König überbetont wurde, da erschienen sofort zahlreiche Unterkönige, die ihren Anteil an Gottes Befehlsgewalt beanspruchten. Sogar wenn Simson das nicht vorhätte: garantiert werden es zahlreiche seiner Anhänger tun.

Über seinen „Plan B“, seine Alternative zur herkömmlichen Kirche, schrieb er im Oktober 2018: „Es geht ja hier um viel mehr als darum, die klassische Kirche mit ihren Synagogenstrukturen in ein Privathaus zu verlegen und es „Hauskirche“ zu nennen. Es geht um die Frage, wie das Haus Gottes, die Nation Gottes, Gestalt gewinnt. Es ist fast wie eine Wiedererfindung der römisch-katholischen Kirche, nur dass das Ergebnis weder römisch ist, noch katholisch, noch eine klassische Kirche.“
Und ähnlich im März 2019: „Es geht ja um nicht weniger als um eine biblische Alternative zum Kirchgänger-tum, und letztlich um eine neue Landeskirche auf der Basis der Hauptbotschaft von Jesus – dem Königreich.“
Diese Aussagen machen sehr deutlich, wohin die Reise geht. Nicht zurück zum Neuen Testament, sondern zurück zum konstantinischen Zeitalter. Zurück zu genau jener „Erfindung“, die von den meisten anderen Kritikern des traditionellen Kirchensystems als der katastrophalste Tiefpunkt der ganzen Kirchengeschichte angesehen wird.

Simsons Königreich hat eine „Verfassung“, auf die jeder „Bürger“ einen „Loyalitätseid“ schwören muss – entgegen Matth.5,34-37, und entgegen Simsons eigener Beteuerung, es sei nicht richtig, einer irdischen Leiterschaft gegenüber irgendeine „Bundesverpflichtung“ einzugehen. Diese „Verfassung“ ist nun aber nicht die Bibel, sondern Simsons eigener Extrakt und eigenwillige Auslegung davon, die er unter dem Titel „Die 75 Gebote Jesu“ zusammenfasst. Seine Nachfolger sollen also offenbar nicht eine eigenständige Beziehung zu Jesus aufbauen oder selber um ein richtiges Verständnis der biblischen Aussagen ringen, sondern exakt Simsons spezieller Auswahl und Auslegung folgen. Unter seiner Auslegung des Gebots „Hortet nicht …“ findet man z.B. die eingangs zitierte Forderung, aller nicht lebensnotwendige Besitz müsse zentralistisch „zu Füssen der Apostel“ gesammelt werden.

Liebe Nachfolger von Jesus Christus, bitte lasst euch von niemandem enteignen, weder materiell noch geistlich. Jesus allein hat die Verfügungsgewalt über unsere Zeit, unseren Besitz, unsere Talente und Fähigkeiten, unsere Beziehungen, unsere Berufung und unseren Platz in seinem Reich. Er hat nie irgendeinen seiner Jünger bevollmächtigt, diese Verfügungsgewalt über andere Jünger auszuüben. Deshalb wollten die neutestamentlichen Apostel weder Vermögensverwalter (Apg.6,2-4) noch „Herren über jemandes Glauben“ (2.Kor.1,24) sein. Erst neuere Strömungen wie Dominionismus, Peter Wagners „Neue Apostolische Reformation“ (NAR), und eben Wolfgang Simsons „Königreichslehre“, wollen Apostel zu Herrschern, Regierungsfunktionären und Bankern machen.

In der Bibel ist klar, dass die sichtbare Aufrichtung des Reiches Gottes dann geschieht, wenn Jesus wiederkommt (Matth.25,31-34; Luk.19,11-15; Offb.19,11-16; 20,4). Zu jenem Zeitpunkt werden tatsächlich manche seiner Jünger „Regierungsfunktionen“ erhalten (Luk.19,16-19; 22,29-30; Offb.20,4.6) – aber nicht vorher.
Wolfgang Simson erklärt aber Stellen wie Daniel 2,44-45 als eine esoterische „Kingdom Singularity“, einen nahe bevorstehenden Moment, wo sich Gottes Königreich auf der Erde manifestieren würde aufgrund der Wirksamkeit der „Königreichsbürger“. (So in seinem „Kingdom Manifesto“.) Die Wiederkunft Jesu kommt in diesem Zusammenhang nicht vor! Das ist genau die „Kingdom Now“ („Königreich jetzt“) – Theologie, die den Kern des Dominionismus und verwandter Strömungen bildet: Nachfolger Jesu würden schon vor seiner Wiederkunft auf dieser Erde die Zustände des Reiches Gottes einführen, und würden damit zu einem dominierenden Einfluss werden.
Der Verdacht liegt daher nahe, dass Simson Strömungen wie Dominionismus, „Neue Apostolische Reformation“ (NAR) und ähnliche nur deshalb kritisiert, damit er umso einfacher seine eigene Konkurrenzversion davon einführen kann.

Man mag mir vorwerfen, ich hätte seine Anliegen falsch verstanden. Doch in diesem Fall hätte er über ein Jahr Zeit gehabt für eine Klarstellung. Ich habe ihm per e-Mail mehrmals meine Bedenken unterbreitet, und er hat jedes Mal ausweichend oder gar nicht darauf geantwortet. Dies ist mein letztes Mail an ihn, vom März 2018 (nicht 2019!), welches bis heute ohne Antwort blieb:

Lieber Wolfgang,

danke für Dein Mail. Danke für den Hinweis, dass nicht nur das Königtum, sondern auch die Vaterschaft Gottes von Menschen usurpiert und verfälscht werden kann.

Eine Antwort auf meine Anfragen finde ich in Deinem Artikel („Father-Son-Wineskins“) allerdings nicht. Er hat ja nur ganz am Rande etwas zu tun mit dem, was ich Dir geschrieben habe. Ja, Du grenzt Dich darin verbal von autoritären Strömungen ab, und sprichst schön von „horizontaler Bruderschaft“ usw… – aber nur da, wo Du andere kritisierst. Dein eigenes Konzept kommt in diesem Artikel ja gar nicht zur Sprache. Wo kommen diese Gedanken in Deinem eigenen Modell vor, und wie werden sie da praktisch verwirklicht? Du sprichst ja u.a. von einer „Regierungsbildung im Königreich Gottes“, die gegenwärtig vorbereitet werden soll; und Du forderst sogar, Apostel zu Verwaltern von Millionen- und gar Milliardenbeträgen zu machen – also praktisch eine Enteignung der Staatsbürger nach kommunistischem Muster. Damit gehst Du bezüglich Autoritarismus noch weiter als die meisten Vertreter von Dominionismus, NAR, usw. – in eklatantem Widerspruch zu dem, was Du in dem mir zugesandten Artikel schreibst. Und einer Beantwortung meiner diesbezüglichen Anfragen bist Du nun zum zweiten Mal ausgewichen.

Also, zum dritten Mal, und etwas klarer ausgeführt:

– Was für Machtbefugnisse haben Apostel genau, gemäss Deinem Modell?
– Was verstehst Du unter der „Regierungsbildung im Königreich Gottes“ in der gegenwärtigen Zeit, und wie soll diese konkret verwirklicht bzw. vorbereitet werden?
– Inwiefern unterscheidet sich Deiner Meinung nach Dein eigener Ansatz wesensmässig von den autoritären Strömungen, die Du kritisierst?
– Und was triffst Du konkret für Vorkehrungen, damit dieser wesensmässige Unterschied nicht nur in der Theorie besteht, sondern auch in der Praxis? D.h. was tust Du konkret, um der Errichtung autoritärer Strukturen unter Deinen Mitarbeitern und Nachfolgern vorzubeugen?

Falls ich etwas an Deinen Aussagen missverstanden haben sollte, wäre ich für eine Klarstellung dankbar. Solange Du aber meine Anfragen einfach nicht oder nur ausweichend beantwortest, trägt das nur dazu bei, meine Bedenken zu verstärken und Dich und Deine Projekte als zumindest „verdächtig“ einzustufen. Ich hoffe, Du verstehst das. Mangelnde Transparenz ist auch ein Kennzeichen autoritärer Strukturen und Leiter.

Mit vielen Grüssen,

Hans

Abschliessend möchte ich kurz versuchen, ein biblisches Gegengewicht zu Simsons Königreichslehre aufzuzeigen.

Das Königtum und die Souveränität Gottes sind tatsächlich wichtige biblische Wahrheiten. Und ich habe den Eindruck, manche christliche Gemeinschaften brauchen tatsächlich eine Korrektur in dieser Richtung. Doch wenn dieser Aspekt einseitig überhöht wird, dann entsteht auch wieder ein verzerrtes Bild von Gottes Plan, und führt zu einer frommen Diktatur.

Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Ihr wisst, dass die Regierenden der Völker über sie dominieren, und ihre Grossen unterdrücken sie. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch gross werden will, sei euer Diener; und wer unter euch der erste sein will, sei euer Sklave; so wie auch der Menschensohn nicht gekommen ist, um bedient zu werden sondern zu dienen, und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ (Matth.20,25-28; ebenso Mk.10,42-25; Luk.22,25-27.)
Bezeichnenderweise hat Wolfgang Simson genau dieses Gebot in seiner „Verfassung des Königreichs“ ausgelassen. Jesus sagt, dass in seinem Reich Autorität gerade nicht so verstanden und ausgeübt werden solle wie in einem weltlichen Staat. Das bedeutet aber auch, dass der Begriff „Reich Gottes“ nicht mit Inhalten gefüllt werden darf, die weltlichen Regierungsformen entnommen sind. Damit werden alle Vergleiche hinfällig, welche das Reich Gottes in den Begriffen eines heutigen Staatswesens erklären wollen.

So sagt z.B. das Neue Testament nicht, man werde „ins Reich Gottes eingebürgert“, sondern man werde „in Gottes Familie hineingeboren“. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Metaphern besteht darin, dass Einbürgerung ein bürokratisch-institutioneller Vorgang ist, Geburt dagegen ein natürlich-organischer. Wer daraus eine „Einbürgerung“ machen möchte, der ist mit Volldampf auf dem Weg zurück zur institutionellen Amtskirche, ob er das nun wahrhaben will oder nicht. – Und wer sind dann die „Einbürgerungsbeamten“ (die ein Gesuch annehmen oder ablehnen können)? Muss sich von jetzt an jeder Anwärter auf das Reich Gottes von einem Simson-Anhänger überprüfen lassen, ob er Simsons Eintrittsbedingungen erfüllt?

Im übrigen ist das „Königreich Gottes“ nur eines von mehreren Bildern, die uns die Ordnungen Gottes verdeutlichen wollen. Dieses Bild wird aber nirgends im Neuen Testament mit bürokratischen und aus weltlichen Regierungsordnungen übernommenen Details ausgestaltet.
Ein anderes Bild ist z.B. die Familie Gottes. Die Vorstellung von Gott als gestrengem König wandelt sich sofort, wenn wir in Betracht ziehen, dass dieser König zugleich unser liebender Vater ist. Wir sind dann nicht einfach „Befehlsempfänger“, sondern Söhne und Töchter im königlichen Haushalt. Und insbesondere haben wir dann keinerlei Veranlassung, von irgendwelchen Unterkönigen oder Funktionären Befehle entgegenzunehmen, sondern nur von unserem Vater selber.
Wieder ein anderes Bild ist der Leib Christi. Im Gegensatz zu einem Staat ist ein Leib kein künstliches oder institutionelles Gebilde, sondern ein organisch gewachsenes. Die Glieder eines Leibes brauchen kein Organigramm und keine „Regierungsorgane“. Sie üben auf natürlich-organische Weise ihre jeweilige Funktion aus. Sie werden alle gleichermassen vom „Haupt“ (bzw. Zentralnervensystem) koordiniert, ohne dass ein Glied dem anderen Befehle erteilen müsste.

Den aktuellen Gegensatz zwischen der neutestamentlichen christlichen Gemeinschaft und dem traditionellen institutionellen Kirchensystem sehe ich hauptsächlich in den folgenden Aspekten:

– Ist die Struktur der christlichen Gemeinschaft organisch, lebendig, aus der Beziehung zum lebendigen Herrn und zueinander gewachsen; oder ist sie mechanistisch, institutionell, und bürokratisch reglementiert?

– Beruht Autorität in der christlichen Gemeinschaft auf gegenseitiger Anerkennung, Integrität, Transparenz, geistlicher Reife, usw; oder beruht sie auf einer hierarchischen Stellung, Dominanz, und der Forderung nach Gehorsam und Unterordnung?

– Beruht geistliches Leben und eine gottgefällige Lebensweise auf der direkten, persönlichen Beziehung zu Gott und der Befähigung durch den Heiligen Geist, oder auf dem Befolgen äusserlicher Anweisungen und auf der Vermittlung durch Personen mit „priesterlichen“ Funktionen?

– Ist die geistliche Wiedergeburt eine von Gott übernatürlich bewirkte Herzens- und Wesenveränderung, oder ist sie ein ritueller Vorgang, der vom Menschen selbst (oder von anderen Menschen mit „priesterlichen“ Funktionen) vollzogen oder vermittelt wird?

Simson ist zwar weiterhin ein heftiger Kirchenkritiker. Aber in den vier genannten Punkten widerspiegelt sein eigenes neueres Modell, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, den Standpunkt der institutionellen Amtskirche. In der Vergangenheit hat er viel Gutes und Wichtiges gesagt. Sein Buch „Häuser, die die Welt verändern“ würde ich auch heute noch empfehlen. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass er, nach den vielversprechenden Anfängen, nun bei solchen Positionen landet.

Es ist natürlich eine raffinierte Strategie, eine neue Kolonialisierung der Welt ausgerechnet unter dem Banner des Antikolonialismus voranzutreiben. Und mit Hilfe der Kritik an autoritärer Leiterschaft ein Machtvakuum zu schaffen, das man dann selber ausfüllen kann. Aber wenn wir einmal den „Hype“ weglassen, das verbale Brimborium, das Simson so meisterhaft beherrscht, dann steckt dahinter wohl „nichts Neues unter der Sonne“. Anscheinend nur ein weiterer Versuch zur Errichtung einer irdischen Autoritätspyramide, die dann als das Reich Gottes gelten soll. Falls das nicht Simsons eigene Absicht sein sollte, so werden zumindest seine Anhänger dafür sorgen, dass es so weit kommt.

Die neutestamentliche Gemeinde in Matthäus 23 (Teil 1)

3. November 2016

In einer Reihe früherer Betrachtungen haben wir die Worte des Herrn in Matthäus 18 über die Gemeinde untersucht. Ich möchte mich nun einer anderen Schriftstelle zuwenden:

„Aber ihr sollt euch nicht ‚Rabbi‘ nennen lassen; denn einer ist euer Meister, der Christus; und ihr alle seid Brüder. Und nennt niemanden auf Erden euren Vater, denn einer ist euer Vater, der in den Himmeln ist. Lasst euch auch nicht Meister(Lehrer) nennen, denn einer ist euer Meister, der Christus. Aber der grösste von euch sei euer Diener. Und jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und jeder, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Matthäus 23,8-12)

Es lohnt sich, das ganze Kapitel zu lesen, denn es ist eines, über das in den heutigen Kirchen kaum je gepredigt wird!

In diesem Abschnitt kommt zwar das Wort „Gemeinde“ nicht vor; aber er sagt uns einige wesentliche Dinge über die Beziehungen zwischen ihren Gliedern.

Die neutestamentliche Gemeinde ist keine Hierarchie.

„Ihr alle seid Brüder.“ Mit diesen Worten (Zusammenhang beachten!) stellte Jesus alle seine Nachfolger auf dieselbe Stufe. Es sollte unter ihnen keine „Meister“ über „Schülern“ geben, keine „Väter“ über „Söhnen“. Es gibt nur Einen, der über die Gemeinde herrscht: Jesus selber.

Wir dürfen diese Stelle nicht so spitzfindig auslegen, als ob Jesus hier nur den Gebrauch der drei Titel „Rabbi“, „Vater“ und „Meister“ verboten hätte. Tun wir etwa besser, wenn wir stattdessen die Titel „Pfarrer“, „Pastor“, oder vielleicht „Professor“ oder „Doktor“ benützen? – Lesen wir den Zusammenhang. Jesus spricht hier gegen jede besondere Behandlung, die jemand seines „höheren Ranges“ wegen beansprucht oder erhält. Als Beispiel erwähnt er die Schriftgelehrten (Rabbiner, Theologen) seiner Zeit: „… und sie lieben die Ehrenplätze bei den Banketten und in den Synagogen, und die Begrüssungen auf den Plätzen, und dass die Menschen sie ‚Rabbi, Rabbi‘ nennen.“ (Verse 6-7) Die Parallelstellen Markus 12,38 und Lukas 20,46 erwähnen ausserdem, dass sie „gerne in feinen Kleidern umhergehen.“ All dies sind typische Attribute einer Person, die eine gewisse hierarchische Position innehat; und wir können dieselben Attribute bei den Leitern vieler heutiger Kirchen beobachten:

  • Sie tragen besondere Kleidung.
  • Sie werden besonders respektvoll begrüsst.
  • Sie tragen einen besonderen Titel.
  • Bei Anlässen haben sie herausgehobene (Sitz-)Plätze inne.

Nach den Worten Jesu hat nichts von dem Platz in der neutestamentlichen Gemeinde!

Es ist immer gut nachzuforschen, an wen sich eine bestimmte Bibelstelle richtet. Matthäus 23,1: „Dann sprach Jesus zu der Volksmenge und zu seinen Jüngern (den zukünftigen Aposteln): …“ Damit ist klar, dass es nach der Absicht Jesu auch keine hierarchischen Unterschiede zwischen den Aposteln und den „gewöhnlichen Christen“ geben sollte.

Und die Apostel hielten sich daran! Wenn wir die Apostelgeschichte und die apostolischen Briefe lesen, finden wir nirgends, dass jemand das Wort „Apostel“ als einen Ehrentitel gebraucht hätte, wenn er einen Apostel ansprach. Nirgends lesen wir, dass sich die Apostel durch besondere Kleidung oder besondere Sitzplätze ausgezeichnet hätten, oder dass sie irgendein anderes besonderes Vorrecht von seiten anderer Christen eingefordert oder erhalten hätten.

Es ist richtig, dass die Apostel eine besondere Funktion in der Gemeinde erfüllten. Wir müssen verstehen, dass jeder Christ seine besondere „Funktion“ im „Leib Christi“ hat. (Siehe Römer 12,3-8, 1.Korinther 12,4-31). Aber diese Verschiedenheit der Funktionen begründet keine hierarchische Rangordnung. (Die Unterscheidung zwischen „Funktion“ und „Rang“ ist schwierig zu verstehen in der heutigen Zeit, wo wir daran gewöhnt sind, dass jede Institution hierarchisch funktioniert. So Gott will, werde ich in zukünftigen Betrachtungen auf diesen Punkt zurückkommen.) – Und die Apostel erfreuten sich eines besonderen Respekts in den Gemeinden – aber nicht, weil sie eine bestimmte „hierarchische Position“ innegehabt hätten, sondern wegen ihrer geistlichen Reife, ihrer Nähe zu Jesus, und ihrer besonderen Eigenschaft als Zeugen der Auferstehung.

Die Tendenz zu einer hierarchischen Organisation der Gemeinden begann allmählich im Lauf des zweiten Jahrhunderts, nach dem Tod der Apostel, und war die Erfüllung von Paulus‘ Warnung in Apostelgeschichte 20,29-32. Aber diese Tendenz konnte sich nicht vollständig durchsetzen, solange die christliche Gemeinde eine machtlose Minderheit in der Welt war. Die grosse Veränderung geschah erst dreihundert Jahre nach den Anfängen der Gemeinde, zur Zeit der Kaiser Konstantin und Theodosius. Konstantin tat den ersten Schritt, indem der das Christentum als „erlaubte Religion“ im Römischen Reich offiziell anerkannte. Damit hörten die Verfolgungen auf, und Konstantin gewann die Sympathie vieler Christen. Dann wagte er es, in innerkirchliche Angelegenheiten einzugreifen: Es war Konstantin, der das berühmte Konzil von Nicäa (325) einberief, und er war es, der das Konzil entscheidend beeinflusste, das Nicänische Glaubensbekenntnis zu unterschreiben.

Heute feiern viele Historiker dieses Konzil als einen Sieg der biblischen Lehre über die Irrlehre des Arianismus. Aber Konstantin interessierte sich kaum für diese Lehrfrage. Sein einziges Interesse lag darin, die Einheit des Reiches zu bewahren; und zu diesem Zweck musste er erreichen, dass eine der streitenden Parteien einen vollständigen Sieg über die andere errang. So masste er sich eine kirchliche Funktion an, die ihm nicht zukam. (Tatsächlich war Nicäa nur ein vorübergehender „Sieg“. Kurz danach errang der Arianismus mehr Einfluss als je zuvor.)
Aber Konstantin ist nicht der einzige, der hier getadelt werden muss. Warum beschlossen die Kirchenführer nicht, die Angelegenheit unter sich zu regeln? Warum erlaubten sie Konstantin, über innere Angelegenheiten der Kirche zu entscheiden? Hatte die damalige Kirche bereits ihr geistliches Unterscheidungsvermögen verloren? und gab es auch dort „keinen Weisen, der unter seinen Brüdern hätte Recht sprechen können“?

Wie dem auch immer sei, mit Konstantin begann die Verstaatlichung der Kirche. Theodosius führte diesen Prozess zu Ende, indem er das Christentum zur obligatorischen Staatsreligion des Römischen Reiches erklärte. Wir können uns leicht die Folgen dieses Erlasses vorstellen. Die Kirchen füllten sich mit falschen Christen!
Zu jener selben Zeit wurde die Kirche neu strukturiert nach dem Vorbild der weltlichen Verwaltung. D.h. die Kirche nahm dieselben hierarchischen Strukturen an und dieselben geographischen Einteilungen, welche die römischen Kaiser zur Verwaltung ihres Reiches benützten. Diese Veränderung beunruhigte kaum noch jemanden, da die Kirche bereits daran gewöhnt war, sich mit dem Staat zu vermischen; und die echten Christen waren zu jener Zeit bereits eine kleine Minderheit in der Kirche. So kam es, dass die Kirche römisch wurde.

Die hierarchische Struktur, die wir im römischen Katholizismus sehen, und die auch von den meisten evangelischen und evangelikalen Kirchen mit nur geringfügigen Änderungen übernommen wurde, beruht also nicht auf dem Neuen Testament. Sie ist ein Erbe der weltlichen Regierung Roms.

Das Neue Testament – „Amtliche Version“ – Teil 3

5. April 2012

Weitere „amtliche“ Erscheinungen

In der Lutherbibel werden noch einige weitere Ausdrücke mit „Amt“ übersetzt. Zwei davon sind vielleicht von Interesse:

„Oikonomía“ bedeutet etwa „Verwaltung“ oder „(An-)Ordnung, Plan“. Davon kommt unser Wort „Ökonomie“. Paulus bezeichnet mit diesem Wort Gottes Heilsplan, bzw. den Auftrag, den er selber im Zusammenhang mit diesem Heilsplan von Gott erhalten hat, nämlich die Offenbarung Gottes zu „verwalten“. Die Lutherbibel übersetzt dieses Wort in 1.Kor.9,17 und Eph.3,2 mit „Amt“, in der Parallelstelle Kol.1,25 mit „Predigtamt“. Die Zürcher Bibel sagt stattdessen in Eph.3,2 und Kol.1,25 „Veranstaltung“, in 1.Kor.9,17 „Haushalteramt“, wobei sie in einer Anmerkung hinzufügt: „Das nämlich ohne Aussicht auf Lohn zu solchem Tun verpflichtet.“
Dasselbe Wort wird in der Lutherbibel in Eph.3,9 mit „Gemeinschaft“ übersetzt und in 1.Tim.1,4 mit „Besserung“.

„Allotri(o)epískopos“ erscheint nur ein einziges Mal in der Bibel, und ist auch in der übrigen griechischen Literatur äusserst selten, sodass die genaue Bedeutung unsicher ist. Wörtlich bedeutet es etwa „Fremdaufseher“, und es erscheint in einer Liste zusammen mit verschiedenen Arten von Kriminellen:
„Denn niemand unter euch leide als Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder als allotri(o)epískopos; leidet aber jemand als Christ, so schäme er sich nicht …“ (1.Petrus 4,15-16)
Die Zürcher Bibel übersetzt hier „einer, der in fremde Sachen eingreift“, und fügt in einer Anmerkung hinzu: „Es ist wohl eine gewerbsmässige, gewinnsüchtige Angeberei vor den Gerichten gemeint, die so gut wie Mord, Diebstahl usw. unter das Strafgesetz fiel.“
Das „Wörterbuch zum Neuen Testament“ von Bauer/Aland sagt: „ein Wort mit noch nicht genügend geklärter Bedeutung, vielleicht Hehler, auch wohl Spitzel, Denunziant (…) oder allg. jemand, der sich in fremde Dinge einmischt.
Die Lutherbibel dagegen übersetzt: „einer, der in ein fremdes Amt eingreift„. Angesichts des sonstigen Gebrauchs von „Amt“ bei Luther (als kirchliche Leitungsfunktion) hat sich diese Übersetzung als ziemlich verhängnisvoll erwiesen. Es ist nämlich dadurch die Anschauung aufgekommen, als ob die Verrichtung gewisser kirchlicher „amtlicher Privilegien“ (z.B. predigen, Abendmahl austeilen, usw.) durch „Laien“ ein Vergehen wäre, so schlimm wie Mord oder Diebstahl. Sieht man den Textzusammenhang an, so kommt eine solche Auslegung natürlich nicht in Frage. Es geht ja hier um das Leiden, das Christen von ihrer ungläubigen Umwelt zugefügt wird. Diese ungläubige Umwelt hatte sicher kein Interesse daran, einen Christen wegen einer innerkirchlichen „Übertretung“ anzuklagen. Abgesehen davon, dass es im Neuen Testament solche „amtlichen Privilegien“ gar nicht gibt. Luthers Übersetzung hat aber anscheinend dazu beigetragen, das hierarchische und „amtliche“ Denken in evangelischen Kirchen ebenso weiterzuführen wie in der römisch-katholischen.

Die „Sonntagspredigt“?

Ein weiteres von den amtlichen Übersetzungen misshandeltes Wort ist „predigen“. Was stellen wir uns unter einer „Predigt“ vor? Wiederum wird in den Gedanken das unvermeidliche Bild eines „Pfarrers“ oder „Pastors“ aufsteigen (wie falsch diese Vorstellung ist, haben wir in den früheren Folgen schon besprochen), der auf der Kanzel steht. Und wiederum gehen wir damit einem Wort in die Falle, das speziell für solche „amtlichen“ Zwecke neu erfunden wurde. Im Neuen Testament gibt es das Wort „predigen“ nicht. Wo es in den Übersetzungen vorkommt, da sagt das Original einfach „ankündigen“.

Hier müssen wir uns glücklicherweise in der Hauptsache mit einem einzigen griechischen Wort beschäftigen: „kerysso“. (Mit Ausnahme der oben erwähnten Stelle Kol.1,25, wo die Lutherbibel unbegründeterweise „oikonomía“ mit „Predigtamt“ übersetzt.) Dieses Wort kommt vom Hauptwort „kéryx“, welches „Herold“ bedeutet. „Kerysso“ bedeutet also „herolden“, „als Herold öffentlich ankündigen“. In einigen wenigen Stellen des Neuen Testaments hat sogar die Lutherbibel diese ursprüngliche Bedeutung beibehalten:

„Und ich sah einen starken Engel, der rief aus mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“ (Offenbarung 5,2)

„Er aber, da er hinauskam, hob er an und sagte viel davon und machte die Geschichte ruchbar …“ (Markus 1,45)

„Und er ging hin und fing an, auszurufen in den zehn Städten, wie große Wohltat ihm Jesus getan hatte …“ (Markus 5,20)

„Und er verbot ihnen, sie sollten’s niemand sagen. Je mehr er aber verbot, je mehr sie es ausbreiteten.“ (Markus 7,36)

„Und er ging hin und verkündigte durch die ganze Stadt, wie grosse Dinge ihm Jesus getan hatte.“ (Lukas 8,39)

Im Original steht hier überall „kerysso“. Warum wird dann dieses Wort nicht auch an den anderen Stellen mit „ausrufen“, „verkündigen“, „bekanntmachen“ o.ä. übersetzt? Wozu dieses neue Kunstwort „predigen“, das nirgendwo sonst auf der Welt existiert, ausser im Bereich der traditionellen Kirchen? Was ist an dem „Verkündigen“ der von Jesus Geheilten anders als am „Predigen“ in: „… und was ihr hört in das Ohr, das ‚predigt‘ auf den Dächern“ (Matth.10,27)? Oder in: „… zu ‚predigen‘ den Gefangenen, daß sie los sein sollten“ (Lukas 4,18)? (In der letztgenannten Stelle sagt die Zürcher Bibel „verkündigen“. Im übrigen wird aber auch in der Zürcher Bibel noch viel zu viel „gepredigt“.)

Es gibt da einige Unterschiede zwischen einer „Ankündigung“ und einer traditionellen kirchlichen „Predigt“. Erstens wird eine Ankündigung nur dann gemacht, wenn es wirklich etwas Wichtiges anzukündigen gibt. Der Herold geht dann zum Ankündigen in die Stadt, wenn der König ihn mit einer wichtigen Neuigkeit losschickt. Kein Herold bemüht sich, jede Woche eine neue Ankündigung zu erfinden, nur weil irgendeine Tradition von ihm verlangt, wöchentlich eine einstündige Ankündigung zu machen.
So gingen auch die Apostel, Propheten und Evangelisten des Neuen Testaments nicht nach einem festgelegten Stundenplan ihre Botschaft ankündigen, noch erfanden sie ihre eigenen Ankündigungen. In erster Linie verkündigten sie die Nachricht vom Tod und der Auferstehung Jesu (wovon sie selber Zeugen gewesen waren), und von seiner Herrschaft. Das war damals tatsächlich eine „Neuheit“, eine noch unbekannte Nachricht an den Orten, wo sie hingingen. Deshalb war diese Nachricht es wert, „geheroldet“ zu werden. Von den heutigen Predigten lässt sich schwerlich dasselbe sagen: es handelt sich meistens um ausgefeilte Abhandlungen über Dinge, die den Zuhörern längst bekannt sind.
Deshalb „heroldeten“ auch die Apostel nicht die ganze Zeit, sondern nur am Anfang, wenn sie ein neues Gebiet betraten. Später „lehrten“ sie vor allem die gläubig Geworden.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass ein Herold seine Botschaft auf einem öffentlichen Platz verkündigt, wo ihn jedermann hört. Kein Herold verschliesst sich hinter den vier Wänden eines institutionellen Saales, um seine Ankündigung zu machen.

Lehre im Neuen Testament

Diese ganze Idee der „Sonntagspredigt“ findet sich also nicht im Neuen Testament. Was die heutigen Kirchen „predigen“ nennen, liegt näher bei dem, was die Bibel „lehren“ nennt; und das ist Aufgabe des Lehrers, nicht des Hirten/Pastors. Die Lutherübersetzung hat leider diesen Unterschied verwischt, indem sie an manchen Stellen auch das Wort „lehren“ (didasko) mit „predigen“ übersetzt. So z.B. in Markus 4,2 und in Markus 6,34 – an dieser Stelle wird man nachgerade zu Mitleid mit den armen Schäfchen bewegt, wenn man sie in der Lutherübersetzung liest:
„Und Jesus ging heraus und sah das grosse Volk; und es jammerte ihn derselben; denn sie waren wie die Schafe, die keinen Hirten haben; und er fing an eine lange Predigt.“ (Die Zürcher Bibel übersetzt hier richtig: „Und er fing an, sie vieles zu lehren.“)

Das „Lehren“ findet normalerweise in einer mehr oder weniger konstanten Gruppe von Menschen statt, die wirklich daran interessiert sind zu lernen. Die Apostel taten das auch (z.B. Apg. 4,2; 5,25.42; 19,9), aber es sollte nicht mit dem „Predigen“ („herolden“) verwechselt werden.
Und wir sollten nicht denken, die Versammlungen der ersten Christen hätten hauptsächlich dazu gedient, „belehrt zu werden“. Ein echter Christ braucht das am wenigsten, gemäss 1.Johannes 2,27:

„Und was euch betrifft, so bleibt in euch die Salbung, die ihr von ihm her empfangen habt, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand belehrt; sondern wie euch seine Salbung über alles belehrt, so ist es auch wahr und ist keine Lüge, und wie sie euch belehrt hat, so bleibt ihr in ihm.“

Die Versammlungen der ersten Christen dienten in erster Linie zur gegenseitigen Auferbauung mit den Gaben, die jeder von Gott empfangen hatte (1.Kor.14,26; Eph. 5,18-20), zum gemeinsamen Gebet, je nachdem wichtige Anliegen vorlagen (Apg. 1,14; 4,23-31; 12,12; Matth.18,19-20), und um gemeinsam zu essen, Gemeinschaft zu pflegen, und sich dabei an den Tod und die Auferstehung Jesu zu erinnern (Apg.2,44-46, 1.Kor.11,21.33).

Zudem gab es ausserordentliche Versammlungen, wenn irgendein herausragender Apostel oder Lehrer zu Besuch kam, der tatsächlich Wichtiges zu sagen hatte. Solcher Art waren die Versammlungen, die in Apg.20,1-12 und 20,17-38 beschrieben sind. Solche Besuche wichtiger Apostel oder Lehrer geschahen nicht jeden Tag (und auch nicht jede Woche). Das waren nicht die „normalen Sonntagsgottesdienste“!
Auch geschah die Lehre jener urchristlichen Lehrer nicht in der Form, die wir von heutigen Schulen oder Kirchen kennen. Wir sehen das am Beispiel von Jesus selber. Der grösste Teil seiner Lehre geschah durch sein eigenes Beispiel. Ein anderer wichtiger Teil bestand darin, dass er Fragen seiner Jünger (oder seiner Feinde) beantwortete. Wieder ein anderer Teil bestand in Anweisungen für praktische Handlungen (so z.B. Matthäus 10). Und nur ein sehr kleiner Teil geschah in der Form von Vorträgen oder „Unterricht“, wie wir es heute verstehen.
So benutzt auch die Apostelgeschichte, wenn sie von der Lehre des Paulus spricht, sehr selten das Wort „lehren“. Viel häufiger kommt das Wort „dialégomai“ („einen Dialog führen“) vor. (Apg. 17,2.17; 18,4.19; 19,8-9; 20,7.9; 24,12.25) Sowohl die Zürcher wie auch die Lutherbibel gebrauchen dafür das Wort „(be-)reden“ – ausser in Apg.20,7, wo Luther einmal mehr „predigen“ sagt. Offenbar ist damit nicht ein Monolog gemeint, sondern ein Lehrgespräch, in welchem auch Fragen beantwortet und Kommentare der Zuhörer mit aufgenommen werden.

Sehen wir auch, wie Paulus die „Jüngerschaft“ beschreibt, die er Timotheus zukommen liess:

„Du aber bist mir nachgefolgt in der Lehre, in der Lebensführung, im Streben, im Glauben, in der Langmut, in der Liebe, in der Geduld, im den Verfolgungen, in den Leiden …“ (2.Tim.3,10-11)

Von den neun verwendeten Begriffen hat ein einziger mit „Lehre“ im intellektuellen Sinn zu tun. Die übrigen acht beziehen sich auf Paulus‘ praktisches Beispiel, und auf Charaktereigenschaften.

Ich hoffe, wir haben jetzt ein etwas klareres Bild davon, was „Lehre“ im Neuen Testament ist. Nicht einfach „Vorträge halten“; nicht nur intellektuelles Wissen weitergeben; erst recht nicht „Prüfungen ablegen und dafür ein Diplom erhalten“. Alle diese Vorstellungen, die wir heute von „Lehre“ oder „Unterricht“ haben, kommen aus dem weltlichen Schulsystem; und dieses System entsprang seinerseits der heidnischen griechischen Philosophie. Die alten Griechen brachten diese Idee hervor, der Mensch könne sein Leben und seinen Charakter mit Hilfe des Unterrichts der Philosophen vervollkommnen.
Jesus Christus zeigte uns dagegen, dass wir uns selber mit keiner menschlichen Anstrengung verbessern können. Das einzige, was einen Menschen verbessern kann, ist die Wiedergeburt in Christus. Der „alte Mensch“ muss sich nicht vervollkommnen; er muss sterben. (Siehe Römer 6.) Paulus sagt, dass wir mit unserer Weisheit (Lehre, Wissen) Gott nicht erkennen können (1.Kor.1,20-21; 2,1-5). In diesem Abschnitt – wie auch in Römer 1,18-32 – spielt Paulus deutlich auf die griechische Philosophie an.
Deshalb ist „Lehre“ im Neuen Testament nicht gleich „Wissensvermittlung“. Im christlichen Leben beruht „Lehre“ darauf, dieses christliche Leben miteinander zu teilen und selber ein Beispiel zu geben. Wer durch das eigene Beispiel abgedeckt ist, in enger Gemeinschaft mit seinen Glaubensgeschwistern, der kann dann auch „lehren“, d.h. dieses christliche Leben und seine Quelle, Jesus selber, besser erklären.

Aber nicht genug damit, haben die Übersetzer von englischen und spanischen Bibelausgaben an vielen Stellen den Begriff „Lehre“ durch das hochgestochene Wort „Doktrin“ ersetzt. Ich bin froh, dass deutsche Bibelübersetzer – soweit mir bekannt ist – noch nicht auf diese Idee gekommen sind!

Auch so schon hat die lutherische Überbetonung des „Lehramts“ zu manchen Missverständnissen und kirchlichen Missbildungen geführt.

Z.B. ist die Idee aufgekommen, „an Christus zu glauben“ bedeute einfach mit den „lehrmässigen Wahrheiten“ über ihn einverstanden zu sein, und sich einer Kirche anzuschliessen, die diese Wahrheiten lehrt. Deshalb kam es im 17.Jahrhundert zu einer Erscheinung, die von Kirchengeschichtlern „die tote Orthodoxie“ genannt wird: Die Kirchen lehrten zwar noch die biblischen Wahrheiten über Jesus, aber das Leben der Kirchenmitglieder war weit von Gott entfernt. Als Gegen- und Protestbewegung entstand dann der Pietismus. Aber auch heute gibt es wahrscheinlich Millionen von „Evangelischen/Evangelikalen“, die sich ihrer „rechten Lehre“ rühmen, aber zugleich mit ihrer Lebensführung zeigen, dass sie nie von ihren Sünden umgekehrt sind und nie wiedergeboren wurden.

Auch gibt es Kirchenleitungen, die ihr „Lehramt“ in ähnlich „doktrinärer“ Weise handhaben wie die römisch-katholische Kirche: Sie gebrauchen die „rechte Lehre“ als Vorwand, um jene Christen zu bestrafen und auszuschliessen, die es wagten, ihre Leiter anhand der Bibel zu prüfen. Und aus demselben Grund hat es unzählige Kirchenspaltungen gegeben wegen zweitrangigen Lehrfragen wie z.B. die rechte Art, Gottes Vorherbestimmung zu verstehen; das „Zungenreden“; die Entrückung; das Tausendjährige Reich, und ähnliche Streitigkeiten, die Paulus „nichtiges Geschwätz“ nennen würde (1.Tim.1,6) und „Wortgezänk, woraus Neid entsteht, Hader, Lästerungen, böse Verdächtigungen, fortwährende Zänkereien von Menschen, die in ihrem Verstand zerrüttet sind …“ (1.Tim.6,4-5).

In Markus 1,27 heisst es: „Und sie erstaunten alle, sodass sie sich besprachen und sagten: Was ist das? Was ist das für eine neue Lehre, dass er mit Autorität sogar den unreinen Geistern befiehlt, und sie gehorchen ihm?“ – Die unreinen Geister gehorchten Jesus, aber nicht aufgrund einiger „Lehrpunkte“, die sie von ihm hörten. Sie gehorchten ihm aufgrund dessen, wer er war. Christliche „Lehre“ ist nicht einfach systematische Theologie: sie kommt aus einem Leben im Gehorsam Jesus gegenüber.

Was ist die Kirche/Gemeinde?

Der letzte Begriff, den ich untersuchen möchte, ist „Kirche“ bzw. „Gemeinde“. Das Wort „Kirche“ ist ebenfalls ein Kunstwort, vom griechischen „kyriakä oikía“, „Haus des Herrn“ (ein Begriff, der aber im Neuen Testament so nicht vorkommt). „Gemeinde“ ist eine neutralere Übersetzung; aber vor dem Hintergrund der gegenwärtigen „Kirchen/Gemeinden“ hat dieses Wort im christlichen Umfeld schon fast dieselbe Färbung erhalten wie „Kirche“.
Das entsprechende griechische Wort ist „ekklesía“. Es ist heute nicht mehr eindeutig zu klären, warum die Schreiber des Neuen Testamentes gerade dieses Wort verwendeten, um die Gemeinschaften der Christen zu bezeichnen. Es werden mindestens drei verschiedene Erklärungen vorgeschlagen:

– Ursprünglich bedeutete „ekklesía“: „(Volks-)Versammlung“; insbesondere die offizielle Versammlung der stimmberechtigten Bürger in den griechischen Städten, die eine demokratische Regierungsform angenommen hatten. (In diesem Sinn kommt das Wort z.B. in Apg.19,39 und 41 vor.)
– Vor dem Hintergrund des Alten Testamentes bedeutete „ekklesía“ die „heilige Versammlung“ Israels, des von Gott erwählten Volkes. Die entsprechenden alttestamentlichen Stellen werden verschieden übersetzt: „Volk“, „Gemeinde“, „Versammlung“.
– Einige Ausleger leiten das Wort ab von „eklégomai“ („auswählen“ oder „herausrufen“). „Ekklesía“ würde dann bedeuten „die Gesamtheit der Erwählten“ bzw. „die Gesamtheit der Herausgerufenen“.

Es ist gut möglich, dass die ersten Christen mit der Verwendung des Wortes „ekklesía“ sagen wollten: „Wir sind ein besonderes Volk, ein von und für Gott abgesondertes Volk.“ Die Gemeinde Jesu ist tatsächlich etwas Neues, was vorher in dieser Form nicht existierte. So kann es vielleicht gerechtfertigt sein, dass bei der Übersetzung des Neuen Testamentes in andere Sprachen jeweils ein neues Wort dafür erfunden wurde.

En Problem besteht nun aber darin, dass im Lauf der Geschichte dieses Wort „Kirche“ bzw. „christliche Gemeinde“ seine Bedeutung geändert hat. Woran denken wir heute, wenn wir das Wort „Kirche“ hören?

– Viele werden zuerst an ein Gebäude denken, wahrscheinlich ein recht grosses und luxuriöses; ein Gebäude, wo man gewohnheitsmässig an bestimmten Anlässen und Versammlungen teilnimmt; ein Gebäude, das man sich angewöhnt hat „Haus Gottes“ zu nennen.
Kein Christ zur Zeit des Neuen Testamentes wäre auf eine solche Idee gekommen! Im Gegenteil, während der ganzen neutestamentlichen Zeit (d.h. mindestens während den ersten sechzig oder siebzig Jahren der Kirchengeschichte) wurde kein einziges Gebäude zu „kirchlichen“ Zwecken errichtet; und wir finden auch die Idee nicht, das könnte zu irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt nötig werden. Noch anfangs des 3.Jahrhunderts schrieb der römische Apologet Minucius Felix:

„Aber denkst du, dass wir verbergen, was wir anbeten, weil wir weder Tempel noch Altäre haben? Aber was für ein Bild soll ich denn von Gott machen, wenn doch, wenn wir richtig darüber nachdenken, der Mensch selber das Bild Gottes ist? Was für einen Tempel soll ich ihm erbauen, wenn doch diese ganze durch sein Werk geschaffene Welt ihn nicht aufnehmen kann? Und wenn ich, ein Mensch, mich weit und breit bewegen kann, soll ich die Macht einer so grossen Majestät in ein einziges kleines Gebäude einschliessen? Ist es nicht besser, in unserem Sinn seiner zu gedenken und ihn im Innersten unseres Herzens heilig zu halten?“
(Minucius Felix, „Octavius“, Kapitel 32 – ca. 210 n.Chr.)

Das einzige „Haus Gottes“, das die ersten Christen kannten, war der Tempel in Jerusalem; und dieser war ein jüdisches, kein christliches Gebäude. Da sie selber Juden waren, fühlten sich die ersten Christen berechtigt, diesen Tempel für ihre Zwecke zu gebrauchen (besser gesagt, den Vorhof des Tempels, ein ausgedehnter öffentlicher Platz, der u.a. auch als Markt diente). Aber sie wussten auch sehr gut, dass Gott verboten hatte, irgendein anderes „Haus Gottes“ zu erbauen an irgendeinem anderen Ort ausser Jerusalem. (Siehe 5.Mose 12.) Für ihre täglichen Versammlungen brauchten sie ihre eigenen Häuser; und für ausserordentliche Grossversammlungen benutzten sie öffentlichen Grund. Keinem Christen des Neuen Testamentes wäre es je in den Sinn gekommen, bei „Kirche“ an ein Gebäude zu denken.

– Andere denken beim Wort „Kirche“ an eine denominationelle Institution oder Organisation, die sich mit einem besonderen Namen identifiziert: „die lutherische Kirche“, „die Baptistenkirche“, „die Pfingstgemeinde“. So ist es üblich geworden, wenn sich Christen aus verschiedenen Hintergründen bei einer Veranstaltung kennenlernen, einander zu fragen: „Welche Kirche/Gemeinde besuchst du?“
Auch das ist eine Idee, die keinem Christen des Neuen Testamentes in den Sinn gekommen wäre. Für sie war „Kirche“ oder „Gemeinde“ nicht ein Ort, den man „besucht“. Sie selber waren die Gemeinde, alle Christen der jeweiligen Ortschaft. Und es war Christus selber, der sie „organisierte“, nicht irgendeine denominationelle Leiterschaft.
Der einzige Ort, von dem wir lesen, dass sich dort so etwas wie „Denominationen“ bildeten, war Korinth; und in jenem Fall verurteilte Paulus diese Entwicklung aufs Entschiedenste (1.Kor.1,11-15; 3,1-11). Es fiel ihm gar nicht ein, diese unter sich konkurrenzierenden Gruppen „Kirchen“ oder „Gemeinden“ zu nennen. Vom Standpunkt des Apostels aus gesehen gab es eine einzige Kirche/Gemeinde Gottes in Korinth (1.Kor.1,2), und deren Mitglieder hatten weder ein Recht, einander konkurrenzierende Parteien zu bilden, noch „Organisationen“ in Anlehnung an irgendeinen bedeutenden Leiter zu gründen. (Siehe auch 3.Joh.9-10.)

Aber heute gibt es (zu) viele denominationelle Leiter, die sich ein „Eigentumsrecht“ auf die Mitglieder „ihrer“ Kirchen anmassen. Einige dieser Leiter verbieten den Mitgliedern sogar, Anlässe anderer Denominationen zu besuchen. So denkt der durchschnittliche Evangelische/Evangelikale, die „Kirche/Gemeinde“ sei eine menschliche Institution, von Menschen geleitet und beherrscht, und in „Denominationen“ aufgeteilt. Nichts liegt dem Neuen Testament ferner!

Eine der wenigen Stellen, wo Jesus selber das Wort „Kirche/Gemeinde“ braucht, ist in Matthäus 18,15-22. Seine Definition von „Kirche/Gemeinde“ ist äusserst einfach:

„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Matthäus 18,20)

Das ist alles, was dazu nötig ist, „Kirche/Gemeinde“ zu sein. Sich zu versammeln, sei es auch nur zu zweit oder zu dritt – aber im Namen und unter der Herrschaft des Herrn Jesus Christus. Letzteres scheint gegenwärtig die am schwierigsten zu erfüllende Bedingung zu sein, angesichts der vielen, die sich im Namen ihrer eigenen Denomination versammeln. Um diese denominationellen und institutionellen Missverständnisse zu vermeiden, wäre es vielleicht sinnvoll, „Kirche/Gemeinde“ durch ein neutraleres und alltäglicheres Wort wie „Versammlung“ oder „Volk“ zu ersetzen.

Jedenfalls glaube ich, wir brauchen eine „nicht-amtliche“ Übersetzung des Neuen Testaments, um die hier aufgezeigten Missverständnisse zu vermeiden, und um mit grösserer Klarheit davon sprechen zu können, was die Gemeinde Jesu ist.

95 Thesen über die Lage der evangelischen (evangelikalen) Kirchen – 2.Teil

11. Februar 2011

Zum Sinn und Hintergrund dieser „95 Thesen“, siehe das Vorwort im 1.Teil.  Hier die Fortsetzung:

V) Über einige Aspekte des Gemeindelebens

36. In den Versammlungen der neutestamentlichen Gemeinde „hat jeder“ etwas, um seine Geschwister aufzubauen (1.Kor.14,26).
In den heutigen evangelischen Kirchen ist dagegen die Mehrheit in den Versammlungen passiv und hat weder die Initiative noch die Möglichkeit, etwas beizutragen. Sogar in jenen Kirchen, die das Wirken des Heiligen Geistes betonen, werden nur einige wenige der Geistesgaben betont, und der durchschnittliche Gläubige erhält wenig bis keine Gelegenheit, sie wirklich auszuüben.

37. In der neutestamentlichen Gemeinde gab es „Einfachheit des Herzens“ (Apg.2,46) und Transparenz (1.Joh.1,6-7), gegenseitige Hilfe (Apg.2,32) und ungeheuchelte Liebe (1.Petrus 1,22).
In den heutigen evangelischen Kirchen gibt es im allgemeinen keine solche Gemeinschaft zwischen Gläubigen; stattdessen scheint es wichtiger zu sein, den äusseren Anschein und den „Status“ aufrechtzuerhalten.

38. Die heutigen evangelischen Gemeinden haben im allgemeinen eine Tendenz, sich immer weiter in verschiedene Denominationen und Parteien aufzuspalten. Die tiefere Ursache dieser Spaltungen ist meistens, dass „die Liebe erkaltet“ (Matth.24,12), und dass mit der Sünde nicht in der richtigen, biblischen Weise umgegangen wird.
Diese Tendenz zu Spaltungen und Parteiungen ist ebenfalls mit dem Mangel an wahrer Gemeinschaft unter Gläubigen verbunden.

39. In der neutestamentlichen Gemeinde bekannten die Christen einander ihre Sünden (Jak.5,16).
In den heutigen evangelischen Kirchen werden im allgemeinen entweder die Sünden überhaupt nicht bekannt; oder es gibt eine vertikale hierarchische Struktur wie in der katholischen Kirche, wo alle vor dem Pastor bekennen, aber der Pastor bekennt vor niemandem (ausser vor seinem übergeordneten Leiter); und der Pastor berät alle, aber niemand darf den Pastor beraten. Deshalb sind insbesondere die Leiter nicht transparent und legen vor der Gemeinde keine Rechenschaft ab, und es gibt keine echte, tiefe Gemeinschaft unter Geschwistern.

40. Die neutestamentliche Gemeinde investierte ihr Geld in die Hilfe an bedürftige Geschwister, und in die Unterstützung an die vollzeitlichen Verkündiger. (Apg.2,45, 4,34-35, 1.Kor.9,14, 2.Kor.8,14-15, Gal.2,10, Gal.6,6, Eph.4,28)
In anderen Worten, alle ihre Investitionen waren in Menschen, nicht in materielle Dinge (da die materiellen Dinge vergehen, aber die Menschen sind ewig). Insbesondere investierten sie nichts in Versammlungsgebäude, da sie sich an öffentlichen Plätzen versammelten und in ihren eigenen Häusern.

41. Die heutigen evangelischen Kirchen legen sich selbst im allgemeinen eine sehr schwere Last an Finanzen, Kräften und Zeit auf, wegen ihrer Bauvorhaben. Diese Mittel fehlen dann der eigentlichen Arbeit Gottes.

42. Die Christen im Neuen Testament öffneten ihre Häuser für (unangemeldete) Besucher und Versammlungen, und beherbergten wandernde Diener Gottes; sie waren bekannt für ihre Gastfreundschaft. (Apg.2,46, 5,42, Röm.16,23, 1.Kor.16,19, Kol.4,15, Phlm.2, Heb.13,2, 1.Petrus 4,9, 3.Joh.5-10)
Viele Mitglieder heutiger evangelischer Gemeinden haben nicht das Vertrauen, ihre Häuser anderen Geschwistern zu öffnen oder spontan andere Geschwister in deren Häusern zu besuchen (ausser sie werden offiziell zu Hauskreis-Gastgebern bestimmt). Das deutet auf einen Mangel an Gastfreundschaft hin, und auf einen Mangel an echter Gemeinschaft und Vertrauen unter Geschwistern.

43. Keine menschliche Organisation ist identisch mit „der Gemeinde“, und keine menschliche Person darf sich „Haupt der Gemeinde“ nennen. Die Gemeinde gehört Jesus dem Herrn, und niemandem sonst.
Deshalb ist es entgegen dem Wort Gottes, wenn ein Pastor, eine örtliche Gemeinde oder ein Gemeindeverband sich ein besonderes Recht über die Personen anmasst, die sich bei ihnen versammeln („meine Gemeinde“, „meine Schafe“). Die Bekehrung, Hingabe und Loyalität eines Christen richten sich an Christus, nicht an eine Denomination oder einen menschlichen Leiter (1.Kor.1,12-17, 3,4-9, 1.Petrus 5,3).
Die menschlichen Organisationen sind unvollkommen, führen immer ein gewisses Mass an Fehlern ein, und enthalten immer eine gewisse Anzahl nicht wiedergeborener Mitglieder.

44. Das Problem des Denominationalismus kann nicht gelöst werden, indem man einfach die bestehenden Denominationen verlässt, denn das bildet nur neue Denominationen, die ihrerseits in Konkurrenz stehen zu den bestehenden. – Es kann auch nicht gelöst werden, indem man „gemeindelos“ bleibt, denn ein Christ braucht die Gemeinschaft mit den anderen Gliedern des Leibes Christi. – Das Problem wird sich nur lösen, wenn die Gemeinde wieder anfängt, das christliche Leben des Neuen Testamentes zu leben.


VI) Über die Leiterschaft der Gemeinde

45. Die Gemeinde Jesu ist keine Diktatur (2.Kor.1,24, 1.Petrus 5,2-3). Die Leiter der Gemeinde Jesu sind dazu da, den anderen Gliedern zu dienen (Luk.22,24-27). Nicht jedes Wort des Leiters ist ein „Ausspruch Gottes“.
Viele heutige evangelische Kirchen sind Diktaturen. Leiter beschämen kalkuliert die Mitglieder, um zu erreichen, dass sie sich ihren Launen unterwerfen. Sie üben eine falsche Autorität aus, mit Manipulation und Drohungen, und missbrauchen oft den Namen Gottes, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Sie lehren, implizit oder explizit, dass ein Christ die Stimme Gottes nur mittels seiner Leiter hören kann.
Von einem Leiter, der so nach eigener Massgabe regiert, kann nicht gesagt werden, er sei von Gott eingesetzt oder repräsentiere die Stimme Gottes.

46. Die Gemeinde Jesu ist keine Demokratie. Es kommt Gott zu, nicht dem Menschen, Leiter zu berufen und einzusetzen (Joh.15,16, Apg.20,28, Eph.4,11).
Viele heutige evangelische Kirchen wählen ihre Leiter nach fleischlichen Kriterien; eine Mehrheit von gottfernen Mitgliedern wählt gottferne Leiter. Von solchen Leitern kann auch nicht gesagt werden, sie seien von Gott eingesetzt, denn sie befinden sich in ihren Stellungen entgegen dem Willen Gottes.

47. Die (örtliche) Gemeinde Jesu wird von mehreren Leitern geleitet.
Das Neue Testament erwähnt keine einzige Ortsgemeinde, die von einer einzigen Person geleitet worden wäre. Dagegen werden viele Gemeinden erwähnt, die von einer Gruppe von mehreren Leitern geleitet wurden (Apg.13,1, 14,23, 15,4.6, 20,17, Phil.1,1, 1.Thess.5,12-13, Titus 1,5, Hebr.13,7), und von einer Vielfalt von Diensten (Eph.4,11-12).

48. Im Neuen Testament wurde die geistliche Autorität von Personen dadurch erkannt und anerkannt, dass sie Jesus persönlich kennen und ihm nahe sind; und dadurch, dass sie mit ihrem Leben den Gläubigen ein Beispiel sind.
Die heutigen evangelischen Kirchen haben im allgemeinen irrige Kriterien für Autorität, wie z.B:

  • Kenntnisse oder akademische Titel,
  • eine durch menschliche Wahl übertragene Position,
  • die menschliche Fähigkeit zu überzeugen, zu manipulieren oder sich durchzusetzen,
  • die finanzielle Stellung.

Nichts von dem Erwähnten ist ein biblisches Kriterium für geistliche Autorität. Deshalb sind viele der gegenwärtigen Gemeindeleiter nicht jene, die nach biblischen Kriterien Leiter sein sollten.

49. Im Neuen Testament sind die Ausdrücke „Pastor“/“Hirte“ (insofern ein Leiter einer örtlichen Gemeinde gemeint ist), „Ältester“, und „Bischof“/“Aufseher“ synonym (Apg.20,17.28, Titus 1,5-7, 1.Petrus 5,1.4).
Es gibt keine „Pastoren als Vorgesetzte von Ältesten“, und keine „Bischöfe als Vorgesetzte von Pastoren“.
(Timotheus und Titus waren keine örtlichen „Pastoren“, sondern hatten einen apostolischen oder „ko-apostolischen“ (regionalen) Dienst als Beauftragte und Nachfolger von Paulus. – Siehe Titus 1,5 „in jeder Stadt“.)

50. Von den 5 Diensten, die in Eph.4,11 erwähnt werden, anerkennen die heutigen evangelischen Kirchen im allgemeinen nur den Dienst des „Pastors“/“Hirten“, und diesen verstehen sie erst noch falsch, indem sie einen einzelnen „Hauptpastor“ über eine örtliche Gemeinde stellen, was nicht biblisch ist (s.o. No.47) Deshalb ist das Volk Gottes geistlich unterernährt.

51. Die Gemeinde Jesu wird durch Konsens geleitet (Matth.18,19-20, Apg.15,22.28).
Ein Konsens wie er in den angeführten Stellen beschrieben wird, ist nicht ein gegenseitiges Abkommen zwischen unterschiedlichen menschlichen Meinungen. Vielmehr ist er die Harmonie, die entsteht, wenn alle Leiter ehrlich und ernsthaft Gottes Willen suchen (siehe Apg.13,1-3), und so zu einer einmütigen Entscheidung kommen. Um zu dieser Art Konsens zu kommen, ist das übernatürliche Wirken Gottes erforderlich, der jeden einzelnen führt.

52. Die heutigen evangelischen Kirchen kommen im allgemeinen nicht zu einem Konsens dieser Art, weil sie nicht ernsthaft Gottes Willen suchen; und weil einige ihrer Leiter nicht einmal wiedergeboren sind. Deshalb lassen sie sich von menschlichen Entscheidungen führen statt von Gottes Willen. Dieser Mangel an Konsens ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die Kirchen und ihre Leiterschaft sich sehr weit vom Standard Gottes entfernt haben.

53. Wo die Leiterschaft das geistliche Leben hindert, oder dem geistlichen Leben gegenüber gleichgültig ist, statt dazu zu ermutigen, da handelt es sich nicht um eine wirkliche geistliche Leiterschaft.

Das geistliche Leben wird gehindert, wo z.B. …

  • … die Leiter die Zeit der Mitglieder mit geistlich unproduktiven Aktivitäten besetzen,
  • … die Mitglieder gelehrt werden, in erster Linie sich äusseren Regeln und Normen anzupassen, statt selber Gott zu suchen,
  • … die Leiter die Mitglieder von sich selber abhängig machen statt von Gott,
  • … die Leiter die Mitglieder als ihr persönliches Eigentum betrachten, indem sie z.B. verhindern, dass die Mitglieder geistliche Nahrung oder Rat erhalten von ausserhalb des Einflussbereichs des Leiters,
  • … die Leiter auf ihren Vorrechten bestehen, und besonders aktive Mitglieder mit Argwohn betrachten (insbesondere jene, die Änderungen vorschlagen),
  • … die Leiter die Mitglieder nicht zum Werk des Dienstes zurüsten (Eph.4,12), und ihnen weder Platz noch Freiheit lassen, dieses Werk zu tun,
  • … jede geistliche Aktivität vom Leiter „bewilligt“ werden muss,
  • … die Leiter sich nicht um die Ausbreitung des Evangeliums an ihrem Ort und in der Welt kümmern,
  • … die Leiter ihre Macht missbrauchen,
  • … die Leiter sich in das Privatleben der Mitglieder einmischen,
  • … die Leiter ihre Fehler nicht anerkennen, und keine Verantwortung dafür übernehmen,
  • … die Mitglieder den Leitern dienen müssen, statt dass ihnen geholfen wird, Gott zu dienen,
  • … die Leiter mit ihrem eigenen Leben zeigen, dass Gott nicht den ersten Platz in ihrem Leben hat,
  • … die Mitglieder entmutigt oder abgelehnt werden, wenn sie anfangen mit anderen zu teilen, was sie mit Gott erlebt haben.

Wo eine Leiterschaft in beschriebener Weise oder ähnlich handelt, da hat ein Christ KEINERLEI Verpflichtung, dieser Leiterschaft zu gehorchen oder sich ihr unterzuordnen (Apg.5,29).

54. Im Neuen Testament gibt es keine menschliche Leiterschaftsautorität, die über die örtliche Gemeinde hinausginge, mit Ausnahme des apostolischen Dienstes.
(Die Dienste der Propheten, Evangelisten und Lehrer können regional oder überregional sein, aber sie üben keine Leiterschaftsautorität über die Gemeinden aus.)

55. Die heutigen evangelischen Kirchen errichten im allgemeinen apostolische Strukturen (regionale und nationale Leiterschaften, Synoden, usw.), ohne dass sie überhaupt abgeklärt hätten, ob der apostolische Dienst heute noch existiert; und noch viel weniger, was die Kriterien dazu wären, dass jemand einen solchen Dienst ausübte. Deshalb haben sie Leiterschaftsstrukturen, für die sie keine lehrmässige Grundlage haben, und besetzen diese Strukturen mit Menschen, die die biblischen Kriterien nicht erfüllen für die Funktion, die sie innehaben.

56. Alle Christen sind Priester. (1.Petrus 2,5.9, Offb.1,6; 5,10; 20,6 – dies sind die einzigen Bibelstellen, wo das Wort „Priester“ für Christen gebraucht wird, und alle diese Stellen beziehen sich auf die Gesamtheit der Christen.) Kein Christ braucht einen anderen Priester (Mittler) ausser Jesus, um sich Gott zu nähern (1.Tim.2,5, Hebr.4,14-16, 10,19-22). Deshalb ist es unbiblisch und gotteslästerlich, wenn ein christlicher Leiter sich priesterliche Vorrechte über andere Christen anmasst. Nicht einmal die Apostel selber massten sich solche Vorrechte an.

57. Die Position eines „ordinierten Pastors“ gibt es im Neuen Testament nicht.
Die Leiter wurden aufgrund ihrer offensichtlichen geistlichen Autorität anerkannt (s.o. No.48), nicht durch einen Akt der „Ordination“. Niemand wird zu einem Pastor durch einen Akt der Ordination; sondern die Gemeinde anerkennt jene, die bereits „von gutem Zeugnis, voll von Heiligem Geist und Weisheit“ sind (Apg.6,3).
– Im Neuen Testament gab es zwar „Älteste“, und es gab die fünf Dienste, die in Epheser 4,11 erwähnt sind; aber beides war sehr verschieden von dem, was heute unter einem „ordinierten Pfarrer“ verstanden wird.
(Die einzigen neutestamentlichen Stellen, die im Sinn einer „Ordination“ verstanden werden könnten, sind die Hinweise auf die „Handauflegung“ in 1.Tim.4,14, 5,22, und 2.Tim.1,6. Aber diese Stellen sprechen einfach von einer „Gabe“, die verliehen wurde. Wenn einige Ausleger diese Stellen als „Ordination“ interpretieren, dann kommt das daher, dass sie bereits vom römisch-katholischen Konzept beeinflusst sind, s.u. No.58.
– Im Alten Testament wurden Priester ordiniert; aber das kann nicht auf die neutestamentliche Gemeinde übertragen werden, weil alle Christen Priester sind, s.o.
No.56.)

58. Das gegenwärtige Konzept eines „ordinierten Pastors“ kommt vom katholischen Sakrament der Priesterweihe, welche den „Klerus“ von den „Laien“ trennt und die „Laien“ vom Dienst des Herrn ausschliesst (während Eph.4,12 erklärt, dass es Aufgabe der „Pastoren“ etc. ist, alle Christen zuzurüsten, damit sie „das Werk des Dienstes“ tun). Deshalb haben die heutigen evangelischen Kirchen im allgemeinen noch ein viel eher römisch-katholisches als biblisches Amtsverständnis.
Eine andere Wurzel dieses irrigen Verständnisses liegt (in Südamerika) im Schamanismus, mit dem Glauben, der „Pastor“ besässe aufgrund seiner „Ordination“ gewisse mystische Kräfte (ähnlich einem Medizinmann), die andere Gläubige nicht haben.
Aus all diesen Gründen behindern oder entmutigen viele heutige „Pastoren“, „Pfarrer“ und „Leiter“ in Wirklichkeit Gottes Werk mehr als dass sie es voranbringen. Das geschieht, weil diese Leiter sich unersetzbar machen, und das verhindert, dass die „Laien“ effizient und vollmächtig dienen könnten. Die „Laien“ bleiben unreif und abhängig.

59. Die Austeilung des Abendmahls und das Taufen wird nirgends im Neuen Testament mit einer bestimmten Position der Leiterschaft oder des Dienstes in Verbindung gebracht.
Das Abendmahl im Speziellen ist die Fortsetzung des jüdischen Passah, und wurde in den Privathäusern gefeiert wie das Passah (Apg.2,46). Deshalb ist anzunehmen, dass das Abendmahl genauso wie die Passahfeier vom Familienvater geleitet wurde.
Was die Taufe betrifft, so wurde der Apostel Paulus von Ananias getauft (Apg.22,16), der weder Apostel noch Ältester war, sondern ein einfacher „Jünger“ und „gottesfürchtiger Mann“. Paulus selber erklärt, dass er nicht gesandt wurde zu taufen; somit waren es andere, die seine Bekehrten tauften (1.Kor.1,13-17). Der Missionsbefehl Jesu an alle seine Jünger (Matth.28,18-20) schliesst den Taufbefehl mit ein.
(Wir können nicht sagen, dass dieses Gebot sich nur an die Apostel richtete, denn es erstreckt sich „bis zum Ende der Welt“; und die Apostel werden beauftragt, „sie zu lehren, dass sie alles halten, was ich euch geboten habe“, was mit Sicherheit ebendiesen Taufbefehl mit einschliesst.)
Die logische Schlussfolgerung ist, dass das Neue Testament keinerlei Einschränkungen kennt, wer unter den Christen das Abendmahl austeilen oder taufen dürfte. Diese Funktionen gehören zum allgemeinen Priestertum aller Gläubigen.

60. Die heutigen evangelischen Kirchen sind jedoch nicht in der Lage, dieses allgemeine Priestertum auszuüben, weil viele ihrer Mitglieder keine wirklichen Christen sind; und auch unter den wirklichen Christen sind viele, die die Anzeichen einer echten Bekehrung in anderen nicht erkennen. Deshalb kann das allgemeine Priestertum nicht wirklich ausgeübt werden, solange die Kirche sich nicht wirklich reformiert.

61. In der neutestamentlichen Gemeinde wurden Personen, die in Sünde weiterlebten, ohne diese zu bereuen, von den anderen Christen gemieden (1.Kor.5,1-5, 5,11, 6,9-10), mit dem Ziel, sie zur Umkehr und zur Wiederherstellung zu bringen, wo immer möglich (2.Kor.2,6-11, 7,8-11).

62. In vielen heutigen evangelischen Kirchen wird eine verkehrte Art von „Gemeindezucht“ angewandt, mit dem Ziel, die Mitglieder zu manipulieren und zu bedrohen, damit sie den Forderungen der Leiter nachgeben.
Diese „Gemeindezucht“ wird nicht aus den biblischen Gründen angewandt, sondern um jene zum Schweigen zu bringen, die einem Leiter widersprechen oder ihn kritisieren (wie berechtigt die Kritik auch sein möge), usw. In allzuvielen Fällen, wo jemand eine Sünde eines Leiters aufdeckt, wird nicht der schuldige Leiter unter „Gemeindezucht“ gestellt, sondern derjenige, der die Sünde aufdeckte.

Apostel heute?

16. Januar 2011

Folgendes war ursprünglich als Antwort auf einen Kommentar zum Artikel „Auf der Suche nach dem neutestamentlichen Christentum“ gedacht. Aber da es etwas länger geworden ist, dachte ich, ich mache gleich einen eigenen Artikel daraus.

Gibt es heute noch Apostel? Sollten wir wieder Apostel haben? Das ist eine heisse Frage, die in manchen Kreisen eifrig diskutiert wird.

Tatsache ist, dass die allermeisten Denominationen und Gemeindeverbände schon längst Strukturen und Ämter eingerichtet haben, die einem Apostelamt entsprechen. Nur nennen sie sie anders: sie nennen sie z.B. „Bischöfe“, „Landesvorsitzende“, „Superintendenten“, „Bundesvorstände“, usw. Da die meisten dieser Denominationen in der Theorie bestreiten, dass es heute noch Apostel gäbe oder geben sollte, kümmern sie sich auch nicht darum, ob die Personen, die diese Ämter besetzen, tatsächlich apostolische Qualifikationen besitzen. In der Praxis aber verleihen sie ihnen Autorität und Aufsichtsrechte über eine Vielzahl von Gemeinden; und das ist gerade eines der Kennzeichen des Apostelamtes.

Das ist eine Situation höchster Inkonsequenz: die tatsächlichen Leiterschaftsstrukturen widersprechen der theologischen Lehre; und diese ungeeigneten Strukturen werden mit (aus biblischer Sicht) ungeeigneten Personen besetzt. Nicht davon zu reden, dass kaum eine Denomination diese „apostolischen Leiter“ einer anderen Denomination für sich anerkennt. Nach 1.Korinther 1:10-13 und 3:1-4 ist das ein Zeichen von Zerspaltenheit und „Fleischlichkeit“. Die gegenwärtige Situation ist also mit Sicherheit nicht das, was Gott will.

Wie gehen wir damit um? Soll das Apostelamt „offiziell“ wieder eingeführt werden?

Was die biblische Grundlage betrifft, so muss ich offen sagen, ich konnte mich in dieser Frage bis jetzt noch nicht festlegen. Ich kann schlicht im ganzen Neuen Testament keine eindeutige Antwort finden darauf. Die ursprünglichen Apostel haben kein „Testament“ darüber hinterlassen, ob und wer nach ihrem Ableben ihren Platz einnehmen sollte. Ich sehe zwei mögliche Wege:

1. Wir rechnen damit, dass es auch nach den ursprünglichen Aposteln weiterhin Autoritäten über eine Vielzahl von Gemeinden geben soll. Das wird nahegelegt durch die Position von Leitern wie Timotheus und Titus, die tatsächlich im Auftrag von Paulus eine Vielzahl von Gemeinden beaufsichtigten. Sie werden aber nirgends „Apostel“ genannt. (Timotheus wird dagegen „Evangelist“ genannt). – Auch gibt es über den ursprünglichen Apostelkreis hinaus einige weitere Personen im Neuen Testament, die „Apostel“ genannt werden; z.B. Barnabas (Apg.14,14). – Es gibt also gute Gründe, dies als den biblischen Weg anzusehen, und das wird auch von den meisten heutigen Denominationen zwar nicht in der Theorie, aber durch ihre Praxis bestätigt.

Es gibt aber einige Gefahren auf diesem Weg, denen wir uns sehr bewusst sein sollten:

Die Gefahr, dass neue „Apostel“ unbiblische Sonderlehren einführen.

Es sollte immer klar bleiben, dass kein gegenwärtiger Apostel die Autorität der ursprünglichen Apostel haben kann, nämlich autoritativ die christliche Lehre festzulegen oder in diesem Sinn als direkter „Gesandter Jesu“ aufzutreten. Diese Autorität kam eindeutig nur jenen zu, die selber Zeugen des Lebens, Sterbens und der Auferstehung Jesu waren (Apg.1,21-22).
Ich beobachte leider in vielen Kreisen eine Tendenz, gewisse vollmächtige (oder lediglich redegewandte und manipulative) Leiter mit einer Art „mystischer Aura“ zu umgeben und ihnen eine höhere Glaubwürdigkeit zuzusprechen, als ihnen zukommt. So gibt es tatsächlich schon viele Kirchenmitglieder, die statt bibeltreu „leitertreu“ geworden sind und sich dadurch immer weiter von der biblischen Wahrheit entfernen. Die Aufforderung, „alles zu prüfen“ (1.Kor.14,29, 1.Thess.5,21) gilt auch und gerade gegenüber einem Apostel (siehe Galater 1,8 !!).

Die Gefahr des Machtmissbrauchs

In Amerika ist in gewissen Kreisen der Aposteltitel bereits Mode geworden. Manche, die sich früher „Pastor“ oder „Bischof“ genannt hätten, nennen sich jetzt „Apostel“. Oft handelt es sich dabei aber einfach um eine Verlängerung des unbiblischen Ein-Mann-Pastor-Systems, wo die bereits bestehenden Machtstrukturen noch weiter ausgebaut und zementiert werden. Sehr oft sind das dieselben Kreise, die z.B. lehren: „Du musst dich deinem Pastor unterordnen, selbst wenn er unrecht hat“; oder: „Auf Gott zu hören bedeutet auf deinen Pastor zu hören, denn er ist der Gesalbte Gottes.“ Es ist für Aussenstehende fast unvorstellbar, was in solchen Machtsystemen für Zerstörungen angerichtet werden im Glaubens-, Privat- und Familienleben der Menschen, die solchen Pastoren unterworfen sind. Mit einer Google-Suche nach „geistlicher Missbrauch“ bzw. „spiritual abuse“ können Dutzende von Leidensgeschichten Betroffener gefunden werden.

Hiergegen muss ganz klar festgehalten werden: Im Neuen Testament ist Leiterschaft in der christlichen Gemeinde keine „Machtposition“! Im Gegenteil, Jesus hat gesagt: „Der Grösste unter euch soll werden wie der Jüngste, und der Herrschende wie der Dienende!“ (Lukas 22,26). Die Autorität der Apostel bestand nicht in Machtausübung und Manipulation. Sie wurden als Autoritäten anerkannt, weil ihre Nähe zum Herrn, ihre geistliche Reife, ihre von Gott gegebene Befähigung und ihre Hingabe offenkundig waren. In den wenigen Situationen, wo Paulus sich gezwungen sah, sein Apostelamt zu verteidigen, da spricht er gerade nicht als „mächtiger Leiter“, sondern da spricht er von den Leiden und Entbehrungen, die er um Jesu willen auf sich nahm (1.Korinther Kap.4, 2.Korinther Kap.11). Auch die Beschreibung seines Wirkens in Thessalonich (1.Thessalonicher Kap.2) ist in dieser Hinsicht lehrreich und vorbildlich. Gerade Apostel müssen zuallererst dazu bereit sein, den „letzten Platz“ einzunehmen.

Die Gefahr des Klerikalismus und Hierarchismus

Das Pastorenkirchensystem hat zu einer Trennung zwischen „Klerus“ und „Laien“ geführt, wo der eigentliche geistliche Dienst nur noch von eigens dazu eingesetzten „Klerikern“ wahrgenommen werden kann. (Siehe „Bist du pastorisiert worden?„). Wenn vor diesem Hintergrund ein Apostelamt eingeführt wird, dann kann das nur zu einem weiteren Ausbau der klerikalen Hierarchie führen. Z.B. könnte dann ein Gemeindeverband auf die Idee kommen, nur noch solche Pastoren als „gültig“ anzuerkennen, die von einem Apostel in ihr Amt eingesetzt wurden; oder zu verbieten, dass Nicht-Apostel Gemeinden gründen.

In der Urgemeinde waren aber die Apostel nicht dazu da, Aspekte des geistlichen Dienstes zu monopolisieren. Im Gegenteil, sie waren dazu da – wie die anderen „Dienste“ auch -, alle Gläubigen zum geistlichen Dienst auszurüsten und freizusetzen (Epheser 4,12).

Die drei genannten Gefahren werden uns ganz deutlich in den Verirrungen der römisch-katholischen Kirche vor Augen gestellt. Schon das sollte uns eine Warnung sein. Wenn eine Kirche das Apostelamt wieder einführen wollte (und das gilt auch für die bereits bestehenden faktischen „Apostelämter“ mit anderen Benennungen!), dann müsste zuallererst sichergestellt werden, dass nur Christen von ganz aussergewöhnlicher Integrität, Ehrenhaftigkeit und Leidensbereitschaft als „Apostel“ anerkannt werden; Christen, die ihre Leiterschaft voll und ganz im Sinne Jesu und der ersten Apostel ausüben. Sonst werden wir nur zu bald ein evangelikales Papsttum haben.

2. Nun habe ich aber von zwei Wegen gesprochen, die apostolische Autorität zu verstehen. Der zweite Weg besteht darin, diese apostolische Autorität in den Lehren der ursprünglichen Apostel zu suchen, die uns in den Schriften des Neuen Testaments überliefert sind. Das würde bedeuten, dass kein heute lebender Mensch Autorität über eine Vielzahl von christlichen Gemeinden hätte. Jede Einzelgemeinde, und jeder einzelne Christ, hätte sich dann direkt unter die apostolische Autorität des Neuen Testamentes zu stellen, und die einzelnen Gemeinden wären organisatorisch unabhängig voneinander. Es könnte sehr wohl eine Vernetzung der Gemeinden untereinander geben durch reisende Verkündiger mit verschiedensten Diensten; aber keiner dieser „Reisedienste“ hätte Autorität, über innere Angelegenheiten von Gemeinden zu entscheiden.

Auch für diesen Weg gibt es biblische Gründe. Als Paulus sich von den Ältesten von Ephesus verabschiedete, warnte er sie, dass nach seinem Weggang „reissende Wölfe zu euch kommen werden“. In dieser Situation sagt er zu den Ältesten: „Und jetzt befehle ich euch Gott an und dem Wort seiner Gnade, das die Kraft hat, zu erbauen und das Erbe unter allen Geheiligten zu geben“ (Apg.20,32). Er sagt nicht: „Jetzt befehle ich euch meinem Nachfolger XY an.“ Nein, die Ältesten von Ephesus sollten sich in Krisensituationen (und auch sonst) direkt an Gott wenden und sich auf sein Wort abstützen, nicht auf irgendeinen neuen Apostel.
Man könnte hier auch noch anführen, dass Petrus in seinem Abschnitt über die Gemeindeleitung (1.Petrus 5,1-5) nur Älteste erwähnt, aber keine Apostel. „Älteste“ sind aber nur je für ihre örtliche Gemeinde zuständig und nicht darüber hinaus.

Natürlich besteht hier die Gefahr, dass einzelne Gemeinden sich so weit verselbständigen könnten, dass sie zu Sekten werden. Dazu muss aber gesagt werden, dass falsche Lehren und Praktiken sehr oft nicht durch „Sonderlinge“ oder abgesonderte Gemeinden eingeführt werden, sondern oft gerade durch die Leiter an der Spitze, die „apostolische“ Funktionen ausüben. Augenfällige Beispiele sind z.B. die Lehren des Papsttums; die bibelkritische Universitätstheologie; das amerikanische Wohlstandsevangelium; u.a. – Festgefügte, zentralistische Strukturen können genausogut vom Glauben abfallen wie unabhängige Gemeinden; und dann mit viel weitreichenderen Auswirkungen.

Wenn ich nun die gegenwärtige Gemeindesituation ansehe, dann muss ich ernüchtert feststellen, dass gegenwärtig für den grössten Teil der Christenheit keiner der beiden genannten Wege wirklich gangbar ist! Ich sehe, dass die meisten Gemeinden zu orientierungslos sind, um in echter Unabhängigkeit voll und ganz der apostolischen Autorität des Neuen Testamentes zu folgen. Die meisten rufen geradezu nach einer übergeordneten Leiterschaft, die ihnen Richtungsweisung und „Sicherheit“ gibt – und die dadurch weitgehend an die Stelle der Richtungsangaben des Neuen Testamentes tritt. Andererseits gibt es gegenwärtig kaum Leiter von wirklich apostolischer Integrität, die eine solche Leiterschaft wirklich „nach dem Herzen Gottes“ ausüben könnten. In anderen Worten: Es herrscht ein riesiges Vakuum an wirklich gottesfürchtigen und integren Leitern, sowohl innergemeindlich wie übergemeindlich.

Das ist nicht verwunderlich, wenn man in Betracht zieht, dass ein Grossteil derer, die sich „Christen“ nennen, gar nicht wiedergeboren sind. Die beschriebene Situation ist einfach ein Ausdruck des allgemein desolaten Zustands der Christenheit. Ich schlage deshalb vor, dass wir nicht zuerst nach neuen Aposteln Ausschau halten, und auch nicht zuerst darüber debattieren, ob es solche Apostel überhaupt geben soll; sondern dass wir zuerst Gott suchen und uns vor ihm demütigen und ihn inständig bitten, dass er uns selber zu „apostolischen Menschen“ macht. Darunter verstehe ich: Menschen, die in ihrem innersten Wesen so sehr an Gott gebunden sind, wie es die Apostel waren; und die deshalb zunehmend in die Denk- und Lebensweise eines echten Jüngers Jesu hineinwachsen. Oder, wie man früher sagte, „erweckte Christen“. (Heute ist leider auch das Wort „Erweckung“ von anderen Bedeutungen besetzt worden.)

Ich glaube, wo Gemeinden von solchen apostolischen Jüngern Jesu entstehen, da wird sich das oben beschriebene Dilemma auflösen: Eine solche Gemeinde wird in der Lage sein, sich klar am Neuen Testament auszurichten, ohne von Menschenmeinungen hin- und hergeworfen zu werden. Sie wird sich deshalb als unabhängige Gemeinde behaupten können. Sie wird aber auch, wenn Gott es so will und führt, gottesfürchtige und integre Leiter hervorbringen, denen guten Gewissens ein „apostolischer Dienst“ anvertraut werden kann, ohne die oben beschriebenen Gefahren.