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Wenn „Bildung“ zum Kindsmissbrauch wird

3. März 2014

Eine andere Perspektive zur geistigen Gesundheit von Kindern

Von Raymond S.Moore und Dorothy Moore

In „Acres of Diamonds“, Russell Conwells berühmtester Chautauqua-Geschichte, verkaufte Al Hafed seine Farm, um seine Suche nach einer legendären Diamantenmine zu finanzieren. Er suchte die ganze Welt ab, bis sein Vermögen dahin war. Er starb in völliger Armut, ohne je zu erfahren, dass eine grosse Diamantenablagerung entdeckt worden war im Sand des Flüsschens, das sich durch seine eigene Farm schlängelte; heute die bekannte Golconda-Diamantenmine. Amerikas Suche nach Überlegenheit – nach gesunden, selbständig denkenden Studentenhirnen – könnte sehr wohl dasselbe Ende nehmen.

Vom Weissen Haus bis zum schlichtesten Heim tasten Amerikaner nach Antworten auf den Niedergang im Leseverständnis, in der Ethik und im allgemeinen Verhalten, der unsere Nation bedroht. Anscheinend haben wenige den engen Zusammenhang bemerkt zwischen dem Erfolg, dem Verhalten und der Gemeinschaftsfähigkeit, die wir bevorzugen, und dem Lebensstil, den wir unseren Kindern täglich aufzwingen, und der möglicherweise unserer meistverbreiteten Form von Kindsmissbrauch gleichkommt. Z.B. herrscht eine überraschende Unwissenheit und Gleichgültigkeit gegenüber der Abhängigkeit von Gleichaltrigen – eine Verderbnis der geistigen Gesundheit, die bereits in Kindergärten überhandnimmt.

Statt zu untersuchen, wie wir am besten auf ihre Bedürfnisse eingehen, schicken wir oft unsere „Kleinen“ ausser Haus, weg von der Art von Umgebung, die am ehesten kontaktfreudige, gesunde, glückliche und kreative Kinder hervorbringt. In einer vom Bund geförderten Analyse von über 8000 Untersuchungen über die Entwicklung von Kleinkindern kam die Moore-Stiftung zum Schluss, dass die USA ihre Kleinkinder viel zu schnell aus dem Haus und in die Schule drängen – lange bevor die meisten, insbesondere Jungen, dazu bereit sind. (1) Die Auswirkungen auf die geistige und psychische Gesundheit sind äusserst beunruhigend. Auch der Prozentsatz an Schulabbrechern ist ein stummes Zeugnis. Obwohl in einigen Fällen der Schulabbrecher – wie Thomas Edison – besser dran ist als jene, die bleiben.

Vom Piaget-Nachfolger David Elkind bis zu William Rohwer in Berkeley, Kalifornien, warnen führende Lern- und Entwicklungsspezialisten, dass die frühe formelle Schulung zum „Ausbrennen“ der Kinder führt. Auch die Lehrer, die versuchen, mit diesen Kleinen zurechtzukommen, brennen aus. Die „Lernwerkzeuge“ des Durchschnittskindes, das heute mit vier bis sechs oder sieben Jahren in die Schule (oder Vorschule) kommt, sind nicht genügend entwickelt für die strukturierten akademischen Aufgaben, die ihnen in immer grösserem Mass aufgebürdet werden. Noch schlimmer: wir zerstören die positive Gemeinschaftsfähigkeit.

Der Ablauf für das heutige Durchschnittskind bedeutet oft eine Katastrophe für dessen geistige und psychische Gesundheit, da sich der Reihe nach folgen:
1) Unsicherheit, wenn das Kind das familiäre „Nest“ zu früh verlässt und in eine unbekannte Umgebung kommt,
2) Verwirrung angesichts des schulischen Drucks und der Einschränkungen,
3) Frustration, weil die „Lernwerkzeuge“ des Kindes (die Sinne, das Erkennen, die Gehirnhälften, die Koordination) noch nicht dazu bereit sind, den formellen Unterricht und den damit verbundenen Druck zu verarbeiten,
4) Hyperaktivität aufgrund der Nervosität, die von der Frustration ausgelöst wird,
5) Versagen, das natürlicherweise aus den vier obengenannten Erfahrungen folgt,
und 6) Kriminalität, welche die Zwillingsschwester des Versagens ist und anscheinend aus denselben Gründen gefördert wird.

Was die Untersuchungen sagen

Die Gleichgültigkeit gegenüber der geistigen und psychischen Gesundheit von Kindern ist nicht neu. Die Weltgeschichte beschreibt grosse Zyklen, die jeweils mit kraftvollen Kulturen begannen, welche sich der Bedürfnisse der Kinder bewusst waren, und die mit der Aufgabe der Familienbande und dem Tod von Gesellschaften und Imperien endeten.

Die Untersuchungen stellen ein Bindeglied von der Vergangenheit zur Gegenwart dar und bieten eine bewegende Perspektive der heutigen Kinder. Es gibt einsichtige Gründe für den Niedergang im Leseverständnis, das Schulversagen, die weitverbreitete Kriminalität, und die wuchernde Abhängigkeit von Gleichaltrigen. Alle vier wirken zusammen unserem Ziel entgegen, glückliche und vertrauensvolle Kinder zu erziehen, die an Körper, Geist und Seele gesund sind. Der Niedergang der Lesefertigkeiten in Amerika, von geschätzten 90 Prozentpunkten im letzten (19.) Jahrhundert auf 50 Prozentpunkte heute, geht parallel mit dem elterlichen Wettrennen, Kinder in einem immer früheren Alter zu institutionalisieren. (2)

Schulleistungen

Die Analysen der Moore-Stiftung (1) kamen zum Schluss, dass Kinder wenn immer möglich von formellem Unterricht ferngehalten werden sollten, bis sie mindestens acht bis zehn Jahre alt sind. Elkind (3) warnte vor dem Schüler-Burnout, der in amerikanischen Schulen alltäglich geworden ist. Rohwer (4) stimmt damit überein und gründet seine Schlussfolgerungen teilweise auf Untersuchungen in 12 Ländern von Torsten Husen (Schweden). Husen bestätigte in der Folge Rohwers Erkenntnisse in einem Brief vom 23.November 1972. Hinsichtlich der begrifflichen Anforderungen des Lesens und Rechnens schlug Rohwer folgende Lösung vor:

„Alles Wissen, das für einen erfolgreichen Abschluss der Sekundarschule nötig ist, kann in lediglich zwei oder drei Jahren formellen Unterrichts erworben werden. Den obligatorischen Unterricht in den Grundfertigkeiten bis zum Sekundarschulalter hinauszuschieben, könnte akademischen Erfolg bewirken für Millionen von Schulkindern, die unter dem (gegenwärtigen) traditionellen Schulsystem zum Scheitern verurteilt sind.“

Diese Lösung würde das Schuleintrittsalter auf mindestens 11 bis 12 Jahre hinausschieben.

Wie können diese Bemerkungen gerechtfertigt werden angesichts der gegenwärtigen Praxis? Seien wir uns bewusst, dass die gegenwärtige und zukünftige Gesundheit der Kinder auf dem Spiel steht. Erstens sind Kinder normalerweise nicht genügend reif für formelle Schulprogramme, solange ihre Sinne, Koordination, neurologische Entwicklung und ihr Erkenntnisvermögen nicht bereit sind. Experimente nach Piaget haben wiederholt gezeigt, dass die erkenntnismässige Reife oft erst gegen das Alter von 12 Jahren eintritt.

Interessanterweise beinhaltete die alte Bar Mitzvah der orthodoxen Juden keinen Schulunterricht bis nach dem Alter von 12 Jahren, wo das Kind als fähig erachtet wurde, volle Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Fisher, der seinerzeit als der „Dekan“ der amerikanischen Psychiater galt, beschrieb 1950, wie er mit 13 Jahren in die Schule eintrat und noch nicht lesen oder schreiben konnte. Mit 16 Jahren schloss er eine Bostoner Sekundarschule ab und dachte, er sei ein Genie, bis er herausfand, dass jedes „normale“ Kind zu dieser Leistung fähig wäre. Er fügte hinzu: „Wenn man sicherstellen könnte, dass Kinder ein gesundes Familienleben und eine angemessene körperliche Entwicklung erhalten, dann könnte dies die Antwort darstellen auf (…) den Mangel an qualifizierten Lehrern.“ (5)

Vor fast einem Jahrhundert verlangte Dewey (6) ein Schuleintrittsalter von acht Jahren oder später. Vor einem halben Jahrhundert bewies Skeels (7), dass liebevolle, aber geistig zurückgebliebene Teenager bemerkenswert gute Lehrer abgaben. Vor einem Vierteljahrhundert zeigte Geber (8), dass Mütter im afrikanischen Busch Kinder grosszogen, die sozial und geistig aufgeweckter waren als Elite-Kinder, deren Eltern sich einen Kindergarten leisten konnten. Zuneigung war der Schlüssel. Noch später bewiesen Mermelstein u.a. (9), dass mindestens bis zum Alter von neun oder zehn Jahren Kinder, die zur Schule gingen, keine besseren Leistungen erbrachten als Kinder, die nicht zur Schule gingen. De Rebello (unveröffentlichte Daten, Januar 1985) berichtete, dass Schulabbrecher, die Arbeit finden, Gleichaltrigen im geistigen und sozialen Auffassungsvermögen voraus sind.

Nur wenige konventionelle Erzieher verstehen diese Situation. Wir verstehen nicht wirklich den Schaden, den die Frustration anrichtet oder der Entzug der Möglichkeiten zum freien Entdecken. Wir verstehen auch nicht wirklich den Wert menschlicher Wärme als motivierenden Faktor zum Lernen, noch die Mentoren-Methode, der während der ganzen Geschichte keine andere Methode gleichkam. Eine Studie der Universität von Kalifornien, Los Angeles (10), von 1016 Staatsschulen fand, dass die Lehrer im Durchschnitt nur sieben Minuten pro Tag im persönlichen Austausch mit ihren Schülern verbrachten. Das bedeutet lediglich eine oder zwei persönliche Reaktionen pro Schüler. Im Kontrast dazu bewegen sich unsere Zählungen von persönlichen Reaktionen auf Kinder, die zuhause ausgebildet werden, im Rahmen von etwa 100 bis über 300 pro Tag.

Wir sollten also nicht schockiert sein über den Bericht des Smithsonian-Instituts (11) über die Entwicklung von Genies, welcher das folgende dreiteilige Erfolgsrezept anbietet:
1) Viel Zeit verbringen mit liebevollen, aufmerksamen Eltern und anderen Erwachsenen,
2) Sehr wenig Zeit verbringen mit Gleichaltrigen,
3) Viele Gelegenheiten zu freiem Entdecken, mit elterlicher Orientierungshilfe.
Der Leiter dieser Studie, Harold McCurdy, schloss:

„Die Massen-Bildung unseres Staatsschulsystems ist auf seine Art ein grossangelegtes Experiment darüber (…), alle drei Faktoren auf ein Minimum zu reduzieren; dementsprechend tendiert es dazu, das Vorkommen von Genies zu vermeiden.“ (11)

An der Moore-Stiftung erhielten wir kürzlich die gerichtlich überprüften standardisierten Prüfungsnoten von Kindern, deren Eltern verhaftet worden waren, weil sie ihre Kinder zuhause ausbildeten. Die meisten dieser Eltern hatten ein niedriges Einkommen und eine unterdurchschnittliche formelle Schulbildung; aber die Durchschnittsnoten der Kinder lagen bei 80,1%, d.h. 30 Prozentpunkte höher als bei durchschnittlichen Schulkindern.
(Anm.d.Ü: Dieser Artikel wurde zu einer Zeit geschrieben, als Homeschooling in den meisten Bundesstaaten der USA noch verboten war. Inzwischen sind breit abgestützte Daten über die akademischen Leistungen von zuhause ausgebildeten Kindern verfügbar, welche dieses Ergebnis bestätigen. Siehe dazu den 
Fraser-Report.)

Kleinkinder lernen tatsächlich sehr schnell, wie allgemein geglaubt wird – aber nur im Rahmen ihrer Reife. Ein Kind, das erkenntnismässige Reife mit zusätzlichen acht bis zehn Jahren freier Entdeckungsmöglichkeiten kombinieren kann, wird tausende von „Lern-Anknüpfungspunkten“ entwickelt haben, sowie die Fähigkeit, schlüssig zu denken – was für ein Kleinkind unmöglich ist. Kinder, die diese Reife nicht haben und in ein Schulzimmer eingesperrt werden, werden oft ängstlich, frustriert, und schliesslich „lernbehindert“.

Gemeinschaftsfähigkeit

Heute wird allgemein angenommen, um gemeinschafts- und gesellschaftsfähig zu werden, müssten Kinder der „Gemeinschaft“ einer Schule unterworfen werden. Aber reproduzierbare Beweise zeigen deutlich in die entgegengesetzte Richtung. Untersuchungen von Cornell (12) fanden, dass Kinder, die bis zum Alter von 11 bis 12 Jahren mehr Zeit mit Gleichaltrigen verbringen als mit ihren Eltern, von Gleichaltrigen abhängig werden. Durch eine solche Unterordnung unter die Werte der Kameraden gehen vier Eigenschaften verloren, die für eine gute geistige Gesundheit und positive Gemeinschaftsfähigkeit unentbehrlich sind: Selbstwert, Optimismus, Respekt vor den Eltern, und Vertrauen auf Kameraden.

Dieser Verlust ist insbesondere bei Jungen Grund zu äusserster Besorgnis inbezug auf ihre intellektuelle Entwicklung, ihr Verhalten und ihre Gemeinschaftsfähigkeit. Obwohl allgemein bekannt ist, dass Jungen sich langsamer entwickeln, fordern wir dennoch ihren Schuleintritt im selben Alter wie für Mädchen. In den letzten Jahren deuteten viele Untersuchungsberichte darauf hin, dass für Jungen das Risiko um ein Mehrfaches grösser ist als für Mädchen, in der Schule zu versagen, kriminell zu werden, oder akut hyperaktiv. Kürzlich (Education Week, 14.März 1984, S.19) wurde gefunden, dass in amerikanischen Sekundarschulen in den Klassen für psychisch Geschädigte auf jedes Mädchen acht Jungen kommen, und in den Nachhilfegruppen befinden sich 13-mal so viele Jungen wie Mädchen. Der Selbstwert, die männliche Identität und der Respekt vor Frauen gehen verloren, was sehr unglückliche Ergebnisse sind, insbesondere in der heutigen Gesellschaft.

Eine Lösung, die dem gesunden Menschenverstand entspricht

Wir brauchen mehr Elternbildung und weniger Institutionalisierung von Kindern. Im Wiederaufblühen der Homeschool-Bewegung haben Hunderttausende von Eltern ihre Erziehungsaufgabe neu ernst genommen, und begannen liebevoll die Entwicklungsbedürfnisse ihrer Kinder zu untersuchen. Das Ergebnis sind leistungsstärkere, besser erzogene und selbstverantwortliche Kinder.

Einige wenden ein, dass das „Head Start“-Programm doch funktioniert. Aber die Ypsilanti-Studie, das einzige Langzeitexperiment, das konsequent auf „Head Start“ aufgebaut ist, bezieht das Elternhaus sehr viel stärker ein als andere typische Programme. Sogar Schlüsselpersonen in der Gründung von „Head Start“ wie Bloom und Nimnicht loben jetzt die Familie als den besten Lernort, und die Eltern als die besten Lehrer. (13, 14) Hinsichtlich der körperlichen Gesundheit und des Verhaltens – Exponiertheit gegenüber Krankheiten (Wall Street Journal, 5.Sept.1984) und gegenüber negativen aggressiven Handlungen – ist die Familie 15-mal sicherer als die durchschnittliche Kindertagesstätte. (15)

Folgende Vorschläge können uns helfen, die geistige und psychische Gesundheit unserer Kinder zu verbessern:

1) Mehr Familie und weniger formelle Schule.

2) Mehr freies Entdecken, mit der Orientierungshilfe von liebevollen, aufmerksamen Eltern; und weniger Einschränkungen durch Schulzimmer und Bücher.

3) Mehr Sorge um die nötige Reife zum Lesenlernen und um die Denkfähigkeit; und weniger „Training“ zum blossen Wiederholen.

4) Mehr Hilfe für Eltern, die ihre Kinder selber erziehen; und weniger für die frühe Institutionalisierung von Kindern.

5) Mehr Priorität für die Erziehung von Kindern; und weniger für materielle Wünsche.

6) Mehr altmodische Hausarbeit – wo Kinder und Eltern zusammenarbeiten -, und weniger Wettkampfsport und Unterhaltung.

Einigen Erziehern und Eltern mögen solche Ideen prosaisch oder langweilig erscheinen – wie die alte Farm, die Al Hafed verliess. Aber jedermann mag Diamanten, und diese alte Farm kann ein aufregender Ort sein. Alles andere ist möglicherweise mehr Kindsmisshandlung als Bildung.

Quellenangaben

1. Moore RS: School Can Wait. Provo, Utah, Brigham Young University Press, 1979, pp 175-186
2. The Adult Performance Level Project (APL). Austin, Texas, University of Texas, 1983
3. Elkind D: The case for the academic preschool: Fact or fiction: Young Child 1970; 25:180-188.
4. Rohwer WD Jr.: Prime time for education: Early childhood or adolescence? Harvard Education Rev 1971;41:316-341
5. Fisher JT, Hawley LSH: A Few Buttons Missing. Philadelphia JB Lippincott, 1951, p 14.
6. Dewey J: The primary education fetish. Forum 1898; 25:314-328
7. Skeels HM: Adult Status of Children with Contrasting Early Life Experiences: A  follow-up study. Chicago, Univ. of Chicago Press, 1966.
8. Geber M: The psycho-motor development of African children in the first year, and the influence of maternal behavior. J Soc Psychol 1958;47: 185-195
9. Mermelstein E, Shulman LS: Lack of formal schooling and the acquisition of conversation. Child Dev 1967;38:39-52
10. Goodlad JI: A study of schooling: Some findings and hypotheses. Phi Delta Kappan 1983;64(7):465
11. McCurdy HG: The childhood pattern of genius. Horizon 1960;2:33-38
12. Bronfenbrenner U: Two Worlds of Childhood; US and USSR. New York, Simon and Schuster, 1970, pp97-101.
13. Bloom BS: All Our Children Learning. Wash. DC, McGraw-Hill, 1980
14. Hoffman BH: Do you know how to play with your child? Women’s Day 1972; 46:118-120.
15. Farran D: Now for the bad news… Parents Magazin1982 (Sept.)

Anm.d.Ü: Das englische Original dieses Artikels wurde gefunden auf http://www.moorefoundation.com. Zuerst veröffentlicht im „Journal of School Health“, Februar 1986.

Vom Sinn oder Unsinn der Schulnoten – 6.Teil

17. Februar 2013

Noten u.ä. als diagnostisches Instrument – Wie wir es handhaben

Unseren eigenen Kindern musste ich nach dem System der Moore-Academy jeweils jährliche Noten erteilen; aber normalerweise bekamen sie diese gar nicht zu Gesicht. Und wenn, dann interessierten sie sich nicht besonders dafür. Diese Noten haben auch nichts mit Selektion zu tun; sie stellen lediglich eine grobe Beurteilung der Qualität der schriftlichen Arbeiten dar, sowie des persönlichen Fleisses und Interesses für ein bestimmtes Thema. (Dr. Raymond Moore rät aufgrund seiner Forschungen über die Entwicklung des Kindes, wenn immer möglich Kinder unter zehn bis zwölf Jahren keinen formellen Prüfungen auszusetzen.)
Was unsere Kinder zum Lernen motiviert, ist weitgehend ihre eigene Neugier und ihr Interesse an verschiedensten Themen, sowie die sicht- und spürbaren Ergebnisse ihrer Arbeit. Z.B. wenn mein Sohn sein Flugzeugmodell in der Hand hält, das er selber konstruiert und zusammengebaut hat. Oder wenn er seinen deutschsprachigen Verwandten einen Brief auf Deutsch geschrieben hat und tatsächlich verstanden wird und eine Antwort erhält. (Unsere Kinder wachsen ja spanischprachig auf; Deutsch ist für sie eine Fremdsprache.)

Natürlich erhalten unsere Kinder Fehler-Feedback nach den im 5.Teil beschriebenen Prinzipien. Manchmal geschieht dies in Form von schriftlichen Korrekturen; häufiger aber in Form einer kurzen persönlichen Besprechung und nachfolgender Nachholarbeit. Das heisst: Ich bewerte nicht einen „momentanen Leistungsstand“, wie das Schulnoten tun; sondern ich gebe von Anfang an ein (erreichbares) Ziel vor, bzw. mein Sohn steckt sich selbst ein solches Ziel, und dann arbeitet er, bis das Ziel erreicht ist – ob das nun im ersten Anlauf geschieht oder mehrere Wochen dauert. (Das gilt für jetzt, wo meine Kinder in die Pubertät eintreten. Jüngere Schüler haben normalerweise nicht die Ausdauer, länger als eine Woche auf ein bestimmtes Lernziel hinzuarbeiten.) Ein solches Ziel kann z.B. darin bestehen, ein bestimmtes Buch zu lesen und eine Zusammenfassung davon zu schreiben; oder in der Lage zu sein, Multiplikationen und Divisionen mit Dezimalbrüchen richtig zu lösen; oder einen Bumerang zu bauen, der beim Werfen wirklich zurückkommt. (Das letztgenannte Ziel trägt übrigens sein Feedback in sich selbst – das ist meistens noch wirksamer als die Fremdbeurteilung durch den Vater bzw. Lehrer.)

Unseren Nachhilfeschülern geben wir überhaupt keine Noten – sie haben in der Schule schon zuviel davon. Mit Ausnahme einer Schülerin, die eines Tages wünschte, Rechnungen zu üben und dafür benotet zu werden. Ich gab ihr Rechnungen von der Art, wie sie sie gerade gelernt hatte – was nicht identisch ist mit dem, was nach dem unflexiblen schulischen Lehrplan von ihr verlangt wurde. Sie erzielte gute bis sehr gute Noten und freute sich sehr darüber, weil sie in der Schule höchst selten so gute Noten erhielt. Dennoch waren das keine „guten Noten aus Mitleid“, sondern streng nach einer linearen Skala errechnete „wahre“ Noten. Nur war die Aufgabenstellung – im Gegensatz zu den schulischen Aufgaben – dem tatsächlichen Lernen des Mädchens angemessen, sodass die Noten ihren tatsächlich eingetretenen Lernerfolg massen.

Was wir hingegen mit den meisten unserer Nachhilfeschüler tun, ist eine Beurteilung mit Hilfe einiger der von Jean Piaget vorgeschlagenen Experimente zur Einschätzung des mentalen Entwicklungsstandes. Also eine „diagnostische“ Beurteilung wie oben beschrieben. Die Ergebnisse helfen uns zu verstehen, was und wieviel wir von jedem Schüler verlangen können, und erklären manchmal auch, woher die schulischen Probleme der Kinder kommen. Normalerweise sprechen wir auch mit den Eltern über unsere Beobachtungen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Z.B. kommt es oft vor, dass Kinder zu uns kommen, die bereits in der zweiten Klasse sind, aber dann stellt sich heraus, dass die mit „konkreten Operationen“ verbundenen Fähigkeiten bei ihnen noch gar nicht entwickelt sind und sie demnach noch gar nicht in der Schule sein sollten. Leider haben aber unsere Elterngespräche meistens keine weiteren Konsequenzen, weil wir keinen „offiziellen“ Status haben und deshalb keinerlei Massnahmen anordnen können, und die Eltern von sich aus selten etwas unternehmen. Die Lehrer interessieren sich in der Regel nicht für eine gesunde Entwicklung der Kinder, und die Schulbürokratie erst recht nicht. Das ist eine der grössten Frustrationen in unserer Arbeit: Wir wissen aus Erfahrung, dass diese Kinder mit viel weniger Stress, Druck und Schulstunden dasselbe (oder mehr) lernen könnten, wenn man ihnen nur zuerst genügend Zeit liesse, sich kindgemäss zu entwickeln. Aber da man ihnen diese Zeit nicht lässt, verbringen sie ihre gesamte Freizeit sinnlos hinter Aufgaben, die ihnen gar nicht angemessen sind, und werden erst noch als „faul“ oder „dumm“ etikettiert.

Für die Zeit, wo die Kinder bei uns sind, hilft uns aber eine solche „Diagnose“, ihnen Tätigkeiten vorzuschlagen, die ihrem Entwicklungsstand und Können angemessen sind. Als Bestätigung sehen wir dann meistens, dass sie zu diesen Tätigkeiten viel motivierter sind als zu den Schularbeiten – und dabei tatsächlich etwas lernen.

Vom Sinn oder Unsinn der Schulnoten – 5.Teil

13. Februar 2013

Noten u.ä. als diagnostisches Instrument

In den vorhergehenden Folgen dieser Artikelserie haben wir gesehen, dass Schulnoten
– jahrtausendelang an den Schulen unnötig waren und erst in neuester Zeit erfunden wurden,
– verschiedene institutionelle und persönliche Folgen haben, die das Lernen nicht fördern, sondern es im Gegenteil behindern,
– weder objektiv noch angemessen sind zur Beurteilung der effektiven „Leistung“ und/oder Intelligenz,
– in keinerlei Korrelation stehen zum effektiven beruflichen Erfolg einer Person.

Sollen dann Schüler überhaupt nicht beurteilt werden? – Ich zitiere meinen kritischen Kommentator weiter:

„…dass es für einen Schüler mit einer schlechten Note zunächst einmal wertvoll sein kann, zu akzeptieren, dass er selbst etwas falsch gemacht hat. Heutzutage wird ja oft der Fehler bei den Anderen gesucht. Wenn man also eine schlechte Note bekommt, dann ist nach dieser Logik in irgendeiner Form der Lehrer schuld. Dies hindert den Schüler jedoch daran, sich mit seinem Leistungsdefizit (nicht charakterlichen Defizit) auseinanderzusetzen und es abzustellen. „

Richtig daran ist, dass ein Feedback für den Schüler nötig und hilfreich ist (übrigens nicht nur über die Fehler, die er begeht, sondern erst recht über das, was er gut und richtig macht!) In diesem Kommentar werden aber zwei Dinge durcheinandergeworfen, die auf ganz verschiedenen Ebenen liegen, nämlich 1) das Korrigieren eines Fehlers und 2) die Beurteilung bzw. Klassifizierung aufgrund eines „Leistungsdefizits“.

Fehler zu korrigieren, ist ein normaler Teil des Lernprozesses. Dieser sollte aber nicht verwechselt werden mit einer Beurteilung. Schüler machen Fehler, entweder aus Unwissenheit (z.B. Rechtschreibefehler), oder weil sie von ihrem Entwicklungsstand her noch nicht in der Lage sind, einen Sachverhalt zu verstehen (z.B. Denkfehler bei mathematischen Problemen, bzw. Unvermögen, die Problemstellung überhaupt zu verstehen).
In ersterem Fall kann der Fehler behoben werden, indem man dem Schüler die nötige Information verschafft und ihm genügend Zeit gibt, diese zu assimilieren. In letzterem Fall ist der Fehler ein Anzeichen von Überforderung: die Aufgabenstellung war dem Entwicklungsstand des Schülers nicht angemessen und hat deshalb keinerlei Lerneffekt, sondern verwirrt nur. Ein Fehler dieser zweiten Art kann nicht unmittelbar „behoben“ werden, weil die zur Lösung der Aufgabe erforderlichen mentalen Strukturen beim Schüler schlicht noch nicht vorhanden sind. Wenn dies als „Leistungsdefizit“ bezeichnet wird, das der Schüler „abstellen“ soll, dann bürdet ihm der Lehrer damit eine unerträgliche Last auf, die er selber mit keinem Finger anzurühren bereit ist (Matthäus 23,4) – ebenso wie wenn ich unbedingt darauf bestehen würde, an einen Motor von 10 PS eine Maschine anzuschliessen, die eine Leistung von 25 PS erfordert. An einem solchen „Leistungsdefizit“ ist nicht der Motor (bzw. der Schüler) schuld, sondern tatsächlich der Lehrer, der einen solchen Motor (bzw. Schüler) auf unsachgemässe Weise überfordert. Was geschehen kann, wenn ein Schüler gezwungen wird, dennoch solche ihm unmöglichen „Leistungen“ zu erbringen, habe ich an anderer Stelle schon ein wenig ausgeführt.

Was nun die Fehler der „ersten Art“ betrifft, so braucht der Schüler zweifellos ein Feedback darüber, damit er die Fehler korrigieren kann. Seine „Leistung“ (wenn man das Wort hier unbedingt verwenden will) besteht in diesem Fall darin, dass er eine bestimmte Anzahl Fehler (z.B. Rechtschreibefehler) korrigiert und diese in Zukunft nicht mehr begeht. Wenn wir also eine solche „Leistung“ messen wollten, dann müssten wir den Fortschritt des Schülers im Vergleich zu seinem eigenen vorherigen Stand messen – d.h. nachdem er den Lernprozess des Fehler-Korrigierens durchlaufen hat.
Es ist ein wichtiges pädagogisches Prinzip, dass man ein Kind nie mit anderen Kindern vergleichen soll, sondern immer nur mit sich selber. Dieses Prinzip wird aber in der schulischen Notengebung und Beurteilung systematisch verletzt. Die Schulnoten messen nicht den persönlichen Fortschritt jedes Kindes, sondern lediglich (wenn überhaupt) dessen aktuellen Stand im Vergleich zum Klassenverband. Damit sagen die Noten überhaupt nichts darüber aus, ob das Kind tatsächlich einen Fortschritt erzielt (d.h. dazugelernt) hat, oder ob es schon vorher schon alles wusste, oder ob es sogar einfach ein bisschen weniger verdummt wurde als seine Klassenkameraden.

Wenn Kinder schon nach einer Art normierter Skala beurteilt werden sollen, dann würde ich das eher als Diagnose ihres momentanen Entwicklungsstandes verstehen, nicht als „Leistungsbeurteilung“. Als Skala würde ich auch nicht das Beherrschen von „Schulstoff“ nach Lehrplan benützen, denn damit wird (wie erwähnt) meistens nur die Fähigkeit gemessen, Daten „auf Zeit“ auswendig zu lernen. Als eine viel sinnvollere Skala betrachte ich die von Jean Piaget beschriebenen Fähigkeiten des logischen Schlussfolgerns (z.B. das Verständnis der Gesetze der Erhaltung der Anzahl und der Masse; oder die Fähigkeit zur „Umkehrung“ einer gegebenen Operation); oder die von Raymond Moore beschriebenen Indikatoren des „integralen Reifegrades“. (Letztere erfordern jedoch z.T. medizinische Diagnosen, die wir nicht stellen können; somit sind Piagets Experimente für unsere Zwecke praktischer.)

Es ist nun wichtig zu verstehen, dass diese grundlegenden mentalen Fähigkeiten nicht das Ergebnis eines Lehr- oder Lernprozesses sind, sondern der natürlichen Reifung des Kindes. Diese natürliche Reifung kann zwar durch bestimmte Umweltfaktoren in gewissem Mass begünstigt oder behindert werden (z.B. das Mass an mitmenschlicher Kommunikation und Verständnis in der Familie); es handelt sich aber dabei keinesfalls um eine „Leistung“ des Kindes. Wenn die entsprechenden Fähigkeiten einmal vorhanden sind, können sie pädagogisch gefördert werden; aber was noch nicht vorhanden ist, kann auch nicht gefördert werden.

Eine solche „diagnostische“ Beurteilung der mentalen Fähigkeiten eines Kindes misst also nicht dessen „Leistung“, sondern gibt darüber Aufschluss, was für Lernleistungen diesem Kind von seinem gegenwärtigen Entwicklungsstand her möglich sind bzw. von ihm erwartet werden können. Es geht also in erster Linie darum, dem Lehrer ein Werkzeug in die Hand zu geben, um zu verstehen, was für Arten des Lernens und was für Anforderungen jedem Kind angemessen sind von seinem Entwicklungsstand und Intelligenzprofil her. Das Ziel ist dabei, das Lehren und Lernen den Bedürfnissen des Kindes anzupassen – statt, wie es im Schulsystem geschieht, die Kinder dazu zu zwingen, sich einem unpersönlichen Einheitslehrplan mit Einheitsmethoden anzupassen.

Wenn „Schulnoten“ in diesem Sinne verstanden werden könnten, dann wären sie sogar sinnvoll und nützlich. (Ich ziehe es aber vor, in diesem Zusammenhang nicht den Begriff „Noten“ zu gebrauchen.) Auch über das Genannte hinausgehende Messungen der gegenwärtigen Kenntnisse und Fähigkeiten der Kinder könnten dann als eine Art „Landkarte“ dienen, die dem Kind (sowie seinen Eltern und Lehrern) zeigt, wo in der „Lernlandschaft“ es sich momentan befindet, und was für nächste Schritte ihm demnach anzuraten seien. Wenn der Bezug auf einen starren und jahrgangsweise vorgeschriebenen Lehrplan wegfällt, dann hat eine solche Beurteilung auch nicht mehr den Effekt einer (oft ungerechtfertigten) institutionellen Disqualifizierung der Hälfte der Schüler. Es ist dann einfach normal, dass sich nicht alle Kinder in ihrem Lernen auf derselben Stufe befinden – Hauptsache, sie schreiten von da her vorwärts.

Auf eine solche diagnostische Beurteilung muss sich der Schüler auch nicht mit viel Stress vorbereiten. Oder bereitet sich etwa ein Patient auf seinen nächsten Arztbesuch angestrengt vor, indem er z.B. vorher ausgiebig kalt badet, damit er dann etwas weniger Fieber hat und so die Diagnose etwas besser ausfällt? Der Arzt wäre kaum erfreut darüber!

Raymond und Dorothy Moore schreiben über diese schulischen Prüfungsvorbereitungen:

„Zuallererst ist die Standardisierung der Prüfungen zweifelhaft, nicht nur vom statistischen Standpunkt her, sondern auch weil so viele Schulsysteme in ihrem Bemühen, ‚die Prüfung zu knacken‘, von ihren Lehrern verlangen, auf die Prüfung hin zu lehren, d.h. Aufgaben aus früheren Prüfungen (und manchmal sogar aus aktuellen) zu behandeln, um die Kinder auf die richtigen Antworten hin zu konditionieren. Vor Jahren hätte man dies ‚Mogeln‘ genannt. Aber in vielen Schulen ist das heute die empfohlene Praktik. Solche Praktiken verfälschen die Prozesse der Standardisierung, und die Breite und Tiefe der Ausbildung wird verengt auf die Themen, die in der Prüfung abgefragt werden.“
(In „The Successful Homeschool Family Handbook“, 1994.)

Eine „Diagnose“ im genannten Sinn sollte nicht nur den quantitativen Aspekt von „Leistung“ in Betracht ziehen, sondern vor allem auch den qualitativen. Neuere Modelle (Guilford, Gardner, u.a.) zeigen, dass „Intelligenz“ mehrdimensional ist. Wenn wir verstehen, welche dieser Dimensionen bei einem Schüler stärker ausgeprägt sind und welche weniger, dann kann das nicht nur zur besseren Selbstkenntnis des Schülers beitragen (z.B. im Hinblick auf eine spätere Berufswahl). Es gibt auch Aufschluss darüber, welches die besten Lern- und Lehrmethoden sind für diesen Schüler. So könnte (wenn die Freiheit dazu gegeben wäre) die optimale Lernform für diesen Schüler gefunden werden – statt dass wie bisher einfach jene Schüler disqualifiziert werden, deren Intelligenzprofil nicht exakt zur einzigen vom Schulsystem praktizierten Lehr- und Lernmethode passt.

Erfahrungen aus der Pädagogik der „aktiven Schule“ haben übrigens gezeigt, dass Kinder in der Regel selber diese Optimierung vornehmen, wenn man ihnen die Möglichkeit und Freiheit dazu gibt: Sie wählen dann von selber jene Inhalte und Methoden bzw. Materialien aus, die ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand und ihrer persönlichen Lernweise am besten entsprechen.

(Fortsetzung folgt)

Wenn das Gehirn keine Hände hat

3. Januar 2013

Eine unserer Nachhilfeschülerinnen sollte dieses Jahr in die Sekundarschule kommen. Aber noch vor einem Jahr war sie nicht in der Lage, mit Sicherheit zwischen Rechts und Links zu unterscheiden. Sie hat auch grosse Schwierigkeiten, sich in der Stadt zurechtzufinden: Von einem Ort, der nicht gerade an ihrem Schulweg liegt, kann sie allein den Weg nach Hause nicht finden. Ebenso schwierig ist es für sie, sich in der Mathematik zurechtzufinden: Wenn ihre Aufgaben richtig herauskommen, dann liegt das meistens daran, dass sie zufällig richtig geraten hat; aber durch logisches Denken auf die Lösung zu kommen, ist ihr kaum möglich.
Ihre Eltern haben jetzt den weisen Entschluss gefasst, diesem Mädchen ein Jahr „Schulpause“ zu geben, damit sie ihren Entwicklungsrückstand aufholen kann. Offenbar hat die Schule nicht dazu beitragen, ihre Intelligenz zu entwickeln. Wir werden gleich sehen, warum nicht.

Natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen der mangelnden Orientierung in der Stadt und der mangelnden Orientierung in der Mathematik. Wie wir in Gesprächen mit der Familie herausfanden, liegt die Wurzel des Problems darin, dass dieses Mädchen vom Kleinkindalter an und bis etwa im Alter von acht Jahren nicht spielen durfte. Es wuchs völlig überbehütet auf; insbesondere Spiele im Freien waren tabu, weil dabei Unfälle passieren könnten… Auch Spiele im Haus waren kaum je erlaubt, weil das Spielen – gemäss einer verbreiteten Volksmeinung hier – nur zu Faulheit führen würde und das Kind vom Lernen abhalten würde. Ebenso fehlen dem Kind andere wichtige Erfahrungen ausser Haus. Z.B. kann sie selbst jetzt, im Alter von elf Jahren, noch nicht selber einkaufen gehen. Sie hat fast ihre ganze Kindheit mit (sogenanntem) „Lernen“ zugebracht.

Warum war dieses „Lernen“ der Entwicklung ihrer Intelligenz nicht zuträglich? – Es ist schon länger bekannt, dass die Entwicklung des Körpers und des Gehirns Hand in Hand gehen. Insbesondere die Verarbeitung vielfältiger Sinneseindrücke, und das Gewinnen von Handfertigkeiten im Spiel oder bei manueller Arbeit, tragen zur Entwicklung des Gehirns bei. Jane McGeehan beschreibt z.B. folgende Forschungsergebnisse:

„Marian Diamond betrieb Forschungen in ihrem Labor an der Universität von Kalifornien in Berkeley, um den Einfluss einer „angereicherten Umgebung“ auf die Gehirne junger Ratten zu verstehen. Sie setzte eine Gruppe von drei Rattenmüttern und neun Jungen in einen grossen leeren Käfig (Kontrollgruppe), und eine andere Gruppe in einen grossen Käfig mit Spielsachen (angereicherte Gruppe). (…) Innerhalb von nur acht Tagen entwickelten die „angereicherten“ Jungen eine um 7 bis 11 Prozent dickere Hirnrinde als die anderen.
Die Forscher Scheibel und Simonds von der Universität von Kalifornien in Los Angeles untersuchten die Gehirne von Kindern, die im Alter zwischen 13 Monaten und sechs Jahren gestorben waren. Sie beobachteten, dass die Verzweigungen der Dendriten unmittelbar nach der Geburt zunahmen, in dem Mass, wie Sinneseindrücke und motorische Erfahrungen im Leben der Babys zunahmen.
(…)
Erfahrungen, die zu bereichernden Sinneseindrücken führen (statt nur mit Büchern und Arbeitsblättern zu lernen), tragen eher dazu bei, das Wachstum der Dendriten zu beschleunigen und die Verbindungen der Synapsen zu vermehren. Erfahrungen aus erster Hand in der Welt ausserhalb der Schule, und mit wirklichen Gegenständen innerhalb der Schule, versehen das Gehirn mit reichen Eindrücken. Einen Tümpel zu besuchen, Regenwürmer zu untersuchen, Samen zu säen und zu beobachten, wie Pflanzen daraus wachsen, sind Erfahrungen, die zur Entwicklung der Netzwerke von Nervenzellen beitragen.“

(Jane McGeehan, „Gehirnkompatibles Lernen“)

Und Raymond und Dorothy Moore sagen:

„Das Spiel ist ein lebenswichtiges Lernmittel für ein Kind. In einem gewissen Sinn ist das Spiel seine Arbeit. Es erfreut sich am Spiel und an der Arbeit gleichermassen – bis jemand es mit einer negativen Haltung letzterer gegenüber enttäuscht. Es lernt zu spielen, sobald es etwas oder jemanden sehen kann, mit dem es spielen kann. Und es entdeckt selbständig Kenntnisse, die kaum auf andere Weise gelehrt werden können. Mittels seiner Sinne und mittels der Handhabung alltäglicher Gegenstände findet es bestimmte Eigenschaften der Dinge heraus – Gewicht, Beschaffenheit, Grösse, Form, Farbe – die Grundlagen akademischen Lernens. Durch die Beobachtung und Nachahmung anderer Menschen, und die Interaktion mit ihnen, lernt es über das Leben – die sozialen Fähigkeiten. Mittels einfacher alltäglicher Tätigkeiten und Erfahrungen entwickelt es allmählich die grundlegenden Konzepte von Zeit, Zahl und Raum. Das geht so weiter während der ersten neun oder zehn Lebensjahre.“
(Raymond und Dorothy Moore, „Home Grown Kids“)

Anders gesagt: Das Gehirn hat die Hände nötig – und die Bewegungen und Eindrücke des ganzen Körpers – , um sich über seine Umgebung ein „Bild“ machen zu können. Die Hände des Kindes machen diese Erfahrungen hauptsächlich im Spiel und bei alltäglichen Haus- und Handarbeiten. Unsere Nachhilfeschülerin hatte offenbar sehr wenige Gelegenheiten, solche Erfahrungen zu machen. Ihr „Lernen“ bestand hauptsächlich aus den schulischen Hilfsmitteln wie Bücher und Arbeitsblätter, abstrakte Frage- und Antwortspiele, usw. Man könnte ihre ersten acht Lebensjahre geradezu als ein unfreiwilliges Experiment bezeichnen, wie sich ein Gehirn entwickelt, dem nicht erlaubt wird, „Hand anzulegen“. Das Fehlen solcher konkreter Erfahrungen hat bei ihr offenbar eine allgemeine Orientierungslosigkeit bewirkt – insbesondere was die räumliche Orientierung und das logische Denken betrifft.

In diesem Fall mangelt es nicht nur dem Gehirn an „Hand-Erfahrungen“, sondern umgekehrt mangelt es anscheinend auch den Händen – und dem ganzen Körper – an der entsprechenden Steuerung durch das Gehirn. So ist unsere Schülerin bei Handarbeiten wie Zeichnen, Basteln, Stricken, usw. sehr unsicher. Erst letztes Jahr, und mit etwelcher Mühe, hat sie das Radfahren gelernt. Beim Versuch, Schwimmen zu lernen, wäre sie beinahe ertrunken und hat seither Panik vor dem Wasser. Immerhin spielt sie jetzt ein wenig Volleyball und andere Ballspiele.

Eine Wende im Leben unserer Schülerin begann, als ihre Mutter sie im Alter von etwa acht Jahren zu einer Psychologin brachte. Diese sagte ihr u.a, das Mädchen sollte auch Gelegenheit zum Spielen und zur Bewegung im Freien haben. Einige Monate später kam sie zum ersten Mal zu unserer Aufgabenhilfe; und im Gespräch mit der Mutter konnten wir nur bestätigen, was die Psychologin gesagt hatte. Die Eltern verstanden, dass dies ein besserer Weg war, und mit der Zeit sahen sie auch, wie ihre Tochter aufzublühen begann, nachdem sie ihr mehr Spielmöglichkeiten gaben. Nur war die Schule nicht gerade eine Hilfe: das Mädchen geht an eine der anspruchsvollsten Schulen der Stadt, welche fast ihre ganze Freizeit mit Hausaufgaben ausfüllt. Deshalb war es nicht möglich, ihren schulischen Rückstand aufzuholen. Wir freuen uns, dass ihre Eltern ihr jetzt diese einjährige „Schulpause“ geben wollen. Und wir hoffen, dass mit mehr praktischen Tätigkeiten und Herausforderungen während dieser Zeit ihr Gehirn und ihre Hände wieder zueinander finden und besser zusammenzuarbeiten lernen.

Die weisen Lektionen der Geschichte für Erzieher

15. März 2012

Von Dr. Raymond Moore

Ralph Waldo Emerson hatte recht, als er sagte: „Die Jahre lehren vieles, was die Tage niemals wissen.“ Wir täten gut daran, diese Zeile täglich zu wiederholen, denn wenn Sie und ich die Weisheit der Geschichte herausfordern, dann rufen wir den Zusammenbruch unserer Gesellschaft hervor. Einige denken, das Studium der Geschichte sei nicht viel wert. Und wenn wir sie studieren, dann denken wir oft, es könne uns nie passieren, was mit dem alten Griechenland und Rom geschah. Und wenn wir merken, dass es doch geschehen kann, dann ist es meistens zu spät.

(…)

Im alten Griechenland entwickelten Plato und Aristoteles die Idee, dass die Familien dem Staat gehörten. (Obwohl beide von ihren Eltern zuhause ausgebildet worden waren.) So propagierten sie eine Philosophie, wonach die Kinder dem Staat unterworfen werden sollten. In seinem Buch 6 betonte Plato die Wichtigkeit, den „jungen und zarten Sinn“ zu beeinflussen. Er schrieb: „Das ist die Zeit, wo der Charakter geformt wird und mit Leichtigkeit jeden Eindruck aufnimmt, den man ihm einprägen möchte.“ Und in Crito war seine Perspektive eindeutig totalitär: „Da du von uns [dem Staat] zur Welt gebracht und ernährt wurdest, kannst du da leugnen, dass du unser Kind und Sklave bist?“
Platos Jünger Aristoteles erklärte später in seiner Politik, dass „der Staat von Natur aus eindeutig vor der Familie und dem Individuum besteht, denn das Ganze hat notwendigerweise Vorrang vor seinem Teil.“ Und er verbreitete die Idee, dass der Staat die Verantwortung für alle Kinder spätestens ab sieben Jahren übernehmen solle. Von da an lebten während mehrerer Generationen die Kinder abgesondert von ihren Familien. Sie wurden überwältigt von der Rivalität zwischen Kameraden, von der Lächerlichkeit, vom Gruppendruck, von Obszönität, Drogen und Sex. Und es dauerte nicht lange, bis jener Staat zusammenbrach.

Rom wiederholte zum grössten Teil die Narrheiten Griechenlands. Mit Ausnahme von Kaiser Augustus, der mit seinen „Julianischen Gesetzen“ das Leben seiner Nation verlängerte. Diese Gesetze riefen zur Integrität der Familien auf. Der hervorragende römische Erzieher Quintilian sagte, die Bildung zuhause („homeschooling“) mit ihrem positiven Einfluss auf den Familienzusammenhalt sei besser als die staatlichen Schulen. Aber das konventionelle Denken überwog, der Totalitarismus siegte einmal mehr, und das Römische Reich brach zusammen, weil seine Gesellschaft ihre Familien geschwächt hatte.
Die Julianischen Gesetze könnten uns gut als Beispiel dienen, denn unter anderem verlangten sie von jungen Paaren: (1) dass sie heirateten, statt ohne Trauschein zusammenzuleben; (2) dass sie Kinder hätten; und (3) dass sie für ihre betagten Eltern sorgten. Letzterer Punkt ist sehr bedeutungsvoll heute, wo sich viele Söhne und Töchter anscheinend damit zufriedengeben, dass ihre Eltern und Grosseltern unnötig in irgendeiner staatlichen Einrichtung dahinschmachten. Das ist zugleich eine Lektion für die Eltern: Wenn Sie Ihre Kinder frühzeitig ausser Haus senden, bevor sie dazu bereit sind, dann werden sie eines Tages dasselbe mit Ihnen tun, wenn Sie alt sind.

Auf der Grundlage der Philosophie von Plato und Aristoteles war ihre Lehre vom „Staat als Vater“ nicht sehr überraschend, denn schliesslich war der Staat viel langlebiger als die Einzelperson. Warum also sollte der Staat nicht der Vater aller sein? Später waren Marx, Gandhi und Mao Tse-tung ebenso dazu bereit, die traditionelle Familienstruktur zugunsten des wirtschaftlichen Fortschritts des Staates zu opfern. Von ihrem atheistischen Gesichtspunkt her schlussfolgerten sie logisch, dass das Leben einer Einzelperson kurz war, während der Staat „für immer“ bestand.
Aber Jesus und das jüdisch-christliche Konzept des persönlichen ewigen Lebens ist ein Schlag ins Gesicht von solchen vergänglichen Ideen, und legt viel grösseren Wert auf die Einzelperson und die Familie. Das war es, was Moses tat; und unsere moslemischen Freunde beschämen uns Christen oft mit ihrer Hingabe an die Heiligkeit der Familienbeziehungen, und die Auferbauung von charakterstarken Kindern.
Heute, im Zeitalter von Marx, Gandhi und Mao, wiederholt sich die Geschichte des Sozialismus. Viele Menschen bestehen zunehmend darauf, dass der Staat Eigentümer der Kinder ist. Deshalb sagt Carle Zimmermann den Zusammenbruch der amerikanischen Gesellschaft voraus.

(Raymond y Dorothy Moore, „The Successful Homeschool Family Handbook“, 1994)

Mein Kommentar:

Nicht nur die amerikanische, auch die europäische Gesellschaft erlebt gegenwärtig die ersten Vorboten dieses Zusammenbruchs. Die wirtschaftliche Krise ist dabei nur eines von vielen Symptomen. Dass der zunehmende staatliche Totalitarismus von einer Mehrheit nicht nur hingenommen, sondern sogar gewünscht wird, ist ein weiteres Symptom, und ist zugleich eine der wichtigsten Ursachen für den Zusammenbruch.

Das erste Experiment in frühkindlicher Stimulation, oder: Wie man einen frühzeitigen Burnout produziert

5. März 2012

Von Dr. Raymond Moore

Frank Edwards erzählt die Geschichte des Harvard-Psychologieprofessors Boris Sidis, der anfangs des 20.Jahrhunderts von der Idee besessen wurde, „Superbabies“ zu produzieren. Sidis wollte berühmt werden mit seinem Experiment. Sein erstes Vorzeigestück würde sein gerade erst geborener Sohn William sein.
Täglich hängte er Buchstaben und Zahlen über die Wiege des Babys und sagte laut ihre Namen. Tatsächlich konnte der winzige Junge mit sechs oder acht Monaten bereits einige von ihnen erkennen. Mit zwei Jahren konnte er Schulbücher lesen; als Vierjähriger schrieb er Artikel auf Französisch und Englisch, und mit fünf Jahren schrieb er über Anatomie.
Aber im Alter von acht Jahren entwickelte William hysterische Lachanfälle, wenn er unter Stress stand. Damit erweckte er eher den Eindruck von Geistesgestörtheit als von Genialität. Als er vierzehn war, bestand sein Vater darauf, dass er an der Universität Harvard einen Vortrag hielte. Der Junge erhielt lauten Applaus, nur um mit hysterischem und unkontrollierbarem Lachen von der Bühne zu steigen. Der beschämte Vater brachte ihn schnell in ein Sanatorium, wo ihn die Reporter aufsuchten. William sagte ihnen, sein einziger Wunsch sei, wie ein normaler Mensch leben zu dürfen. Er rief seinen Vater auf, das Experiment abzubrechen.
Aber als er die Universität Harvard abgeschlossen hatte und am elitären Rice Institute in Texas zu arbeiten begann, fand er, dass er nicht mit anderen Menschen auskommen konnte.

Während er versuchte, sich mit seinen Kollegen und Studenten an dem Institut einzurichten, wurde er schuldig befunden, einen Aufruhr verursacht zu haben, und sein Unterricht wurde suspendiert. Er verschwand, und später arbeitete er in einem gewöhnlichen Kaufladen als Verkäufer. Einmal nahm er auf das Drängen eines Freundes eine Einladung an, einen Vortrag über die Wahrscheinlichkeit der Existenz von Leben auf dem Mars zu halten; aber sein geschädigtes Urteilsvermögen verleitete ihn dazu, stattdessen eine Stunde lang über Autotransfers zu sprechen.
Amerika war zu beschäftigt mit dem Krieg im Jahre 1944, um von William Sidis‘ Tod Notiz zu nehmen. Er starb im Alter von 46 Jahren in einer Pension in Brookline, Massachusetts. Bis zu seinem Tod hatte er sich geweigert, je wieder etwas mit seinem Vater zu tun zu haben, und hatte sogar sein beträchtliches Erbe ausgeschlagen.

(Aus Raymond und Dorothy Moore, „The Successful Homeschool Family Handbook“, 1994)

Bemerkenswerte Zitate: Über Schule, Lehrer und Schulpflicht (Teil 2)

15. Februar 2012

Teil 2: Vom Elend der Schule

„Ich nehme an, es liegt daran, dass heute fast alle Kinder zur Schule gehen, wo alles für sie vorgeplant ist, dass sie anscheinend so völlig unfähig sind, eigene Ideen hervorzubringen.“
Agatha Christie (Schriftstellerin)

„Der Konkurrenzgeist, der in der Schule herrscht, zerstört alle Gefühle menschlicher Bruderschaft und Zusammenarbeit, und versteht Erfolg nicht als das Ergebnis einer Liebe zu produktiver und nachdenkender Arbeit, sondern als Produkt des persönlichen Ehrgeizes und der Angst vor Ablehnung.“
Albert Einstein

(Über sein Universitätsstudium): „In Physik jedoch lernte ich bald herauszuspüren, was zu den Grundlagen führte, und mich von allem anderen abzuwenden, von den vielen Dingen, die das Denken überhäufen und vom Wesentlichen ablenken. Der Haken daran war natürlich, dass man alle diese (unwesentlichen) Dinge für die Prüfungen in sein Gedächtnis stopfen musste, ob es einem gefiel oder nicht. Dieser Zwang hatte einen derart abschreckenden Effekt (auf mich), dass ich nach meiner letzten Prüfung ein ganzes Jahr lang auch nur den Gedanken an irgendein wissenschaftliches Problem als widerwärtig empfand. (…) Es ist ein sehr grosser Fehler zu denken, dass die Freude am Sehen und Untersuchen mit Zwang und Pflichtgefühl gefördert werden könnte. Im Gegenteil, ich glaube, dass sogar ein gesundes Raubtier seine Gefrässigkeit verlöre, wenn es mit einer Peitsche dazu gezwungen würde, ständig alles zu fressen, was ihm vorgesetzt würde, selbst wenn es nicht hungrig wäre.“
Albert Einstein

„Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt? Warum erinnert ihr Lernen zuweilen an Bulimie: Informationen sammeln, Prüfungen bedienen und sich wieder entlasten?“
Reinhard Kahl (Journalist)

„Es gibt keine sicherere Art und Weise, die Begeisterung und das Interesse für ein Thema abzutöten, als es zu einem obligatorischen Bestandteil des Lehrplans zu erklären.“
Paul Lockhart (Mathematiker)

„Als ich für die Zulassungen zu den Diplomprüfungen zuständig war, und es kam ein Student mit lauter Bestnoten in seinem Zeugnis, dann wies ich ihn sofort ab. Es ist einfach nicht möglich, dass jemand in allen Fächern gleich gut oder gleich interessiert ist. (Ausser er tut es nur, um dem Lehrer zu gefallen.) Als Professor hatte ich keine Geduld mit Studenten, die dachten, das Wesentliche am akademischen Erfolg bestehe darin, mir zu wiederholen, was ich ihnen soeben gesagt hatte.“
Roger Shank

„Die Autorität der Lehrenden ist oft ein Hindernis für jene, die lernen wollen.“
Cicero

„Beim Lehren geht es nicht um Information. Es geht darum, eine ehrliche intellektuelle Beziehung zu den Schülern zu haben. Lehren erfordert keine Methode, keine Werkzeuge und keine Ausbildung. Nur die Fähigkeit, authentisch zu sein. Und wenn Sie nicht authentisch sein können, dann haben Sie kein Recht, sich unschuldigen Kindern aufzudrängen.“
Paul Lockhart

„Meine Zukunftsvision besteht darin, dass die Leute nicht mehr Prüfungen ablegen und aufgrund deren Ergebnisse von der Sekundarschule zur Universität wechseln; sondern dass sie als Einzelne von einer Stufe der Unabhängigkeit zu einer höheren gelangen, durch ihre eigene Aktivität, ihre eigene Willensanstrengung, worin die innere Enwicklung des Einzelnen besteht.“
Maria Montessori (Pionierpädagogin)

„Nur in der Theorie dienen die heutigen Bildungseinrichtungen den Schülern. Tatsächlich besteht die wirkliche Aufgabe eines Schülers an jeder ehrgeizigen Institution darin, durch seine Leistung das Ansehen dieser Institution zu steigern.“
John Holt (Homeschooling-Pionier)

„Ein Kind, das zum angemessenen Zeitpunkt und auf die angemessene Weise gelehrt wird, kann innerhalb von vier bis sieben Monaten ohne Schwierigkeiten den ganzen Stoff lernen, der in sechs Jahren Primarschule gelehrt wird. Es gibt deshalb keinen Grund, den offiziellen Lehrplan zu respektieren …“
Rebeca Wild (Pionierpädagogin in Ecuador)

„Der Psychiater J.T.Fisher ging erst mit dreizehn Jahren erstmals zur Schule, und schloss die Sekundarschule mit sechzehn Jahren ab. Später fühlte er sich enttäuscht, als er entdeckte, dass dies keineswegs ein Beweis besonderer Genialität war. Er musste akzeptieren, was die Psychologen sagten: Sie hatten gezeigt, dass ein normales Kind, das erst in der Pubertät mit seiner akademischen Bildung beginnt, bald denselben Leistungsstand erreichen kann, den es erreicht hätte, wenn es mit fünf oder sechs Jahren in die Schule eingetreten wäre.“
Raymond Moore (Psychologe, Schuldirektor und Homeschooling-Pionier)

„Die Schule ist eine Institution, die auf dem Axiom beruht, Lernen sei das Ergebnis von Lehren. Und die institutionelle Weisheit akzeptiert dieses Axiom weiterhin, trotz überwältigender Beweise für das Gegenteil.“
Ivan Illich

„Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass praktisch kein Zusammenhang besteht zwischen guten Noten in standardisierten schriftlichen Prüfungen, und Erfolg im Erwachsenenleben.“
Joe Nathan und Wayne Jennings, Phi Delta Kappan, Mai 1978

„Wenn geglaubt wird, diese Grundschulen würden vom Gouverneur und seinem Rat, von den Funktionären des Literaturfonds, oder von irgendeiner anderen Regierungsautorität besser verwaltet als von den Eltern in jedem Bezirk, dann ist das ein Glaube entgegen aller Erfahrung.“
Thomas Jefferson (Mitbegründer der USA)

„Warum wird es als normal angesehen, dass die Staatsschulen Millionen von Schulversagern produzieren; während eine einzige Familie, die ein Kind zuhause ausbildet, als grösste Bedrohung der öffentlichen Bildung und des Überlebens der Demokratie gilt?“
Stephen Arons, 1983

„(Die Schule) entreisst Kinder zwangsweise einer Welt voll von den Geheimnissen von Gottes eigener Handarbeit, voll von den Anregungen der Persönlichkeit. Sie ist lediglich eine disziplinarische Methode, die sich weigert, die Einzelperson zur Kenntnis zu nehmen. Sie ist eine Fabrik, speziell zu dem Zweck konstruiert, gleichförmige Resultate zu schleifen. (…) Gemäss der Schule ist das Leben dann vollkommen, wenn es einem erlaubt, es als tot zu behanden und es in handliche symmetrische Stücke zu schneiden. Und das war der Grund für mein Leiden, als ich zur Schule geschickt wurde. (…) Ich war keine Schöpfung des Schullehrers, und das Erziehungsministerium wurde nicht konsultiert, als ich geboren wurde. Aber war das ein Grund für sie, sich an mir zu rächen für diese Unterlassung meines Schöpfers? (…) Mein Geist musste also die Zwangsjacke der Schule akzeptieren, die wie die Schuhe einer Mandarinfrau meine Natur von allen Seiten und bei jeder Bewegung kniffen und quetschten. Glücklicherweise konnte ich mich selbst daraus befreien, bevor die Gefühllosigkeit einsetzte.“
Rabindranath Tagore (Literaturnobelpreis 1913)

„Immer mehr Kinder bilden ihre stärkste Bindung gar nicht mehr zu Erwachsenen aus, sondern zu Gleichaltrigen. Wir glauben dann, sie seien unabhängig, und freuen uns. In Wirklichkeit haben sie ihre Abhängigkeit nur auf die anderen Kinder verlagert und orientieren sich fortan an denen. Den Lehrern und Eltern fehlt damit die entscheidende Grundlage für jede Erziehung, nämlich die stabile, tiefe Bindung ihrer Kinder an sie. Deswegen ist das Unterrichten so mühsam geworden. Für die Kinder wiederum bedeutet die Gleichaltrigenorientierung höchsten Stress. Die normalen Verletzungen, die Kinder in ihrer Unreife sich schon immer zugefügt haben, treffen sie mit voller Wucht, denn die anderen Kinder sind nicht mehr einfach nur „Spielkameraden“, sondern das Wichtigste in ihrem Leben, die Erwachsenen sind blasse Randfiguren geworden. Viele dieser Kinder haben zu keinem Erwachsenen mehr eine so tiefe Bindung, dass sie bei ihm schwach sein und sich ausweinen können. Um sich in dieser Situation zu schützen, panzern sie sich gegen ihre Gefühle – sie werden „cool“. Mit den verletzlichen Gefühlen von Angst, Sorge etc., die sie verleugnen, verlieren sie aber auch den Zugang zu den anderen „weichen“ Gefühlen wie Interesse, Begeisterung, Fürsorglichkeit etc.“
Dagmar Neubronner („Die Freilerner“)

„Vielleicht denkst du nur an diese Welt, und vergisst, dass es eine zukünftige Welt gibt, und eine, die ewig dauern wird! Bitte denke ernsthaft daran, und schicke deine Kinder zu solchen Lehrern, die diese zukünftige Welt immer vor ihren Augen haben. Sonst – erlaubt mir, es klar zu sagen – ist es kaum besser, sie zur Schule zu schicken, als sie zum Teufel zu schicken.“
John Wesley (Erweckungsprediger und Begründer des Methodismus)

Diese falsch verschalteten Gehirnzellen…

21. November 2011

Haben Lernprobleme etwas damit zu tun, dass das Gehirn eines Kindes auf fehlerhafte oder ineffiziente Weise organisiert ist? Und wenn es so ist, könnte diese ungünstige Organisation des Gehirns durch den Schulunterricht verursacht worden sein?

Mehrere Foschungsarbeiten bestätigen, dass es tatsächlich so ist. Aber bevor wir uns die wissenschaftlichen Hintergründe ansehen, möchte ich ein Beispiel aus der Praxis beschreiben.

Ein Schüler der zweiten Sekundarklasse (achtes Schuljahr) braucht Hilfe bei seinen Aufgaben. „Worum geht es?“ – „Präpositionen – Propositionen – ich erinnere mich nicht mehr an das Wort, aber es war etwas mit Positionen.“ – „Mal sehen, zeige mir doch dein Heft.“ – „Hier ist es – ach ja: Proportionen.“ (Was im Deutschen auch „Dreisatz“ genannt wird.) – Während der folgenden drei Stunden beschäftigen wir uns mit Aufgaben wie diese:
„In einer Fabrik stellen 12 Maschinen in 7 Tagen 126 Stücke her. Wenn die Fabrik zwei zusätzliche Maschinen anschafft, wieviele Stücke werden dann in zehn Tagen hergestellt?“
Die Aufgaben sind nicht übertrieben schwierig. Und es handelt sich um eine Art von Problemen, die häufig im täglichen Leben vorkommen. Jede Hausfrau, die mit ihren Kindern einkaufen geht, sieht sich ab und zu einer solchen Situation gegenübergestellt: In einem Laden gibt es 16 Eier zu 4.50, im anderen Laden kostet das Dutzend 3.50. Wo sind die Eier günstiger?
Aber mein Schüler hat enorme Schwierigkeiten. In seinen Rechnungen vergisst er ständig, mit welcher Zahl multipliziert und durch welche geteilt werden soll; und oft verrechnet er sich. Er verfängt sich in den Einzelheiten der mechanischen Vorgehensweisen, und er gelangt nicht zum Verständnis des Prinzips, das der Proportionalität zugrunde liegt. (Siehe dazu auch: „Mathematikunterricht: eine Frage der Bürokratie oder der Prinzipien?“.)
In Wirklichkeit ist das ein sehr einfaches Prinzip. Zwei Grössen sind proportional, wenn sie „gleichmässig“ miteinander zu- bzw. abnehmen. D.h. sie nehmen jeweils um den gleichen Faktor zu bzw. ab. Wenn sich die eine Zahl verzehnfacht, dann verzehnfacht sich auch die andere. Wenn sich die eine Zahl halbiert, dann halbiert sich auch die andere. Wie in dieser Abbildung, welche die proportionale Vergösserung einer Zeichnung zeigt:

Dieses Prinzip kommt in der Mathematik häufig vor: beim Erweitern und Kürzen von Brüchen; in den ähnlichen geometrischen Figuren; in der Gleichung einer Geraden. Und im Alltagsleben im Verhältnis zwischen Menge und Preis einer Ware; zwischen Geschwindigkeit bzw. Zeit und zurückgelegter Distanz, usw. Mein junger Freund ist recht intelligent; dennoch hat er grösste Schwierigkeiten, dieses Prinzip zu begreifen.

– Einige Wochen später bringt derselbe Schüler Hausaufgaben zu einem anderen Thema: Lineare Funktionen und ihre graphische Darstellung. Wir machen einige Beispiele und untersuchen einige Graphiken, und mein Schüler versteht bald die wichtigsten Prinzipien. Z.B. dass in der Gleichung y = ax + b die Konstante bdem Abschnitt der y-Achse entspricht, der von der Geraden abgeschnitten wird (wo x Null ist); und dass der Koeffizient a der „Steigung“ der Geraden entspricht. – Nur hat er wiederum Mühe mit den technischen Details seiner Multiplikationen und Divisionen.

Warum war dieses Thema der Funktionen „einfach“ für ihn, während die Proportionalität „schwierig“ war? (In gewisser Hinsicht handelte es sich sogar umdasselbe Thema!) – In der Primarschule, als er erst zehnjährig war, wurde er bereits gezwungen, Aufgaben mit Proportionen zu lösen. Und nicht etwa nach dem noch eher verständlichen Dreisatz-Schema, sondern als abstrakte Gleichung mit Brüchen („wenn 15 : x = 24 : 16, dann x = 16 · 15 : 24“). Er wurde gelehrt, dieses Vorgehen mechanisch zu wiederholen („diese Zahl wird hier oben hingeschrieben und diese andere dort unten“), ohne irgendeine Erfahrung aus dem wirklichen Leben damit in Verbindung zu bringen, und ohne die zugrundeliegenden Prinzipien zu verstehen. – Mit der Analyse von Funktionen hingegen war er in der Primarschule noch nicht belästigt worden.

Das ist etwas, was ich so häufig beobachte, dass es bereits voraussagbar geworden ist: Die Sekundarschüler haben ihre grössten Lernschwierigkeiten in genau jenen Themen, die ihnen bereits in der Primarschule (zu früh) beigebracht wurden. Sie haben weniger Probleme mit jenen Themen, von denen sie in der Sekundarschule zum ersten Mal hören. Offenbar hat ihnen der Unterricht, den sie in der Primarschule erhielten, überhaupt nicht geholfen, irgendetwas zu verstehen.

(Anmerkung: Ich bin nicht genau darüber informiert, wie das im deutschsprachigen Raum ist. Hier in Perú – und überhaupt in ganz Amerika, Nord und Süd – findet ein ehrgeiziges und völlig fehlgeleitetes Bildungs-Wettrennen statt nach dem Motto: „Immer mehr immer früher“. Sechsjährige Kinder müssen jetzt lernen, bis tausend zu rechnen; Achtjährige müssen das Bruchrechnen lernen und Neunjährige müssen Gleichungen lösen. Falls es auf der anderen Seite des Atlantiks noch nicht so weit ist, springt bitte gar nicht erst auf diesen Zug auf! Die Fortsetzung wird klarstellen weshalb.)

Sehen wir uns jetzt also einige Forschungsergebnisse an, welche die soeben gemachte Beobachtung bestätigen und erklären.

Jean Piaget, der Pionier in der Erforschung der Entwicklung der kindlichen Intelligenz, fand, dass sich das Denken eines Primarschülers hauptsächlich auf „konkrete Operationen“ stützt – das Verschieben und Neuanordnen von Gegenständen, Handhabung von Werkzeugen, Erfahrungen des täglichen Lebens… -, dass sein Denken aber noch nicht nach abstrakten Konzepten funktioniert. Diese Phase der „konkreten Operationen“ beginnt durchschnittlich im Alter von etwa sieben bis acht Jahren (wobei es eine sehr grosse Bandbreite von individuellen „Entwicklungsfahrplänen“ gibt) und kann bis zum Alter von dreizehn Jahren oder noch später dauern, wo sich schliesslich die Fähigkeit zum abstrakten Denken voll entwickelt. In Piagets Worten:

„Bis zu diesem Alter (etwa elf bis zwölf Jahre) sind die Operationen der kindlichen Intelligenz ausschliesslich ‚konkret‘, d.h. sie beziehen sich auf nichts anderes als die Wirklichkeit an sich, und insbesondere auf die berührbaren Gegenstände, die manipuliert werden können und mit denen tatsächliche Erfahrungen gemacht werden. (…) Wenn wir sie hingegen bitten, über reine Hypothesen nachzudenken, über eine nur verbale Formulierung einer Problemstellung, dann verlieren sie sofort den Boden unter den Füssen und fallen in die vor-logische Intuition der Kleinkinder zurück. Z.B. können alle neun- bis zehnjährigen Kinder Farbtöne der Reihe nach ordnen, sogar noch besser als Grössen; aber sie sind völlig ausserstande, eine Frage wie die folgende zu beantworten, sogar wenn sie schriftlich vorgelegt wird: „Edith hat dunklere Haare als Lili. Edith ist blonder als Susanne. Welches der drei Mädchen hat die dunkelsten Haare?“ – Im allgemeinen antworten sie, da Edith und Susanne blond seien, müsse Lili die dunkelsten Haare haben. (…) Auf verbaler Ebene erreichen sie also nicht mehr als eine Anordnung unkoordinierter Paare, in derselben Weise wie die Fünf- oder Sechsjährigen beim Anordnen konkreter Gegenstände. Das ist der Grund, warum sie in der Schule so grosse Schwierigkeiten haben, insbesondere arithmetische Textaufgaben zu lösen, die sich doch auf wohlbekannte Operationen beziehen: Wenn sie die Gegenstände handhaben könnten, würden sie ohne Hindernisse schlussfolgern, aber die scheinbar gleichen Gedankengänge, wenn sie auf der Ebene sprachlicher Formulierungen verlangt werden, stellen in Wirklichkeit andere und viel schwierigere Gedankengänge dar, da sie sich auf blossen Hypothesen ohne effektive Wirklichkeit beziehen.“
(Jean Piaget, „Die mentale Enwicklung des Kindes“)

Wir haben also ein erstes Problem mit der Lehrmethode in der Primarschule: Worte abzuschreiben oder Zahlen in ein Heft zu schreiben, sind keine konkreten Operationen; das ist eine höchst abstrakte Methode. Als solche ist sie nicht geeignet für das Gehirn eines Kindes. Als Ergebnis löst das Kind seine Aufgaben auf mechanische Weise, aber es versteht nicht, was es tut. Der Mathematiker Paul Lockhart sagt dazu:

„Warum möchtest du kleine Kinder darauf trainieren, dass sie 427 + 389 zusammenzählen können? Das ist nicht die Art von Fragen, die Achtjährige normalerweise stellen. Sogar viele Erwachsene verstehen den Stellenwert im Dezimalsystem nicht wirklich, und du erwartest von Achtjährigen, eine klare Vorstellung davon zu haben? Oder kümmert es dich nicht, ob sie es verstehen? Es ist einfach zu früh für diese Art von technischem Training. Man kann es natürlich tun, aber letztlich schadet es den Kindern mehr, als es ihnen nützt.“
Paul Lockhart, „A Mathematician’s Lament“ (Klage eines Mathematikers)

Raymond und Dorothy Moore haben Hunderte von Forschungsarbeiten gesammelt über die Frage: Ab welchem Alter ist es angebracht, dass ein Kind einem formellen Unterricht ausgesetzt wird (wie er in der Schule geschieht)? Die Ergebnisse stimmen darin überein, dass die meisten Kinder nicht die dazu nötige körperliche, emotionelle und mentale Reife erreichen, bevor sie acht bis zehn Jahre alt sind. (Siehe „Besser spät als früh“.) Vor diesem Alter sollten die Kinder kreative Bastel- und andere Handarbeiten ausführen, zeichnen und malen, mit einer grossen Vielfalt von Stoffen experimentieren (Wasser und Sand; Körner und Samen; Holz; Plastillin; Stoff- und Wollresten; usw.), Geschichten hören, mit Holzklötzen und Brettspielen spielen, im Freien spielen, einen Garten anlegen, Essen zubereiten, ihre Eltern bei deren täglichen Arbeiten begleiten, bedürftigen Menschen helfen, usw. – aber sie sollten nicht unbeweglich in einem Schulzimmer sitzen und abstrakte Schulbuchaufgaben lösen. Die von den Moores vorgelegten Forschungsergebnisse zeigen, dass ein Kind in seiner späteren Entwicklung gestört wird, wenn es bereits im Alter von sechs oder fünf Jahren zur Schule gehen muss.

Damit stimmt die Erfahrung von Finnland überein – ein Land, das in internationalen Bildungsvergleichen an der Spitze steht:

„Die Sekundarschüler hier (in Finnland) haben selten mehr als eine halbe Stunde Hausaufgaben pro Nachmittag. Sie haben keine Schuluniformen, keine Ehrengesellschaften, und keine Spezialklassen für hochbegabte Schüler. Es gibt wenige normierte Prüfungen; wenige Eltern führen einen Kampf darum, ihre Kinder an die Universität zu bringen; und die Kinder gehen nicht zur Schule, bevor sie 7 Jahre alt geworden sind. Aber im internationalen Vergleich sind die finnischen Teenager unter den intelligentesten der Welt.
Ellen Gamerman, „Why are Finnish kids so smart?“ (Warum sind finnische Kinder so schlau?), bei WSJ.com

Wir haben also ein zweites Problem mit dem Alter, in welchem das Schulsystem seine Konzepte den Kindern aufzwingt. Die meisten Schulkinder können gar nicht verstehen, was ihr Lehrer ihnen beizubringen versucht! Ihr Gehirn ist einfach noch nicht bereit dazu.

Wir müssen hier verstehen, dass jedes Kind seinen eigenen „Entwicklungsfahrplan“ hat, der von Kind zu Kind höchst unterschiedlich ist. Die Altersangaben in den zitierten Forschungsarbeiten sind als grobe Durchschnittswerte zu verstehen, von denen es im Einzelfall grosse Abweichungen geben kann. Man wird deshalb immer wieder ein frühentwickeltes Kind finden, das mit dem Schulunterricht wenig Mühe hat und ihn tatsächlich versteht. Man darf aber solche Kinder nicht als „Muster“ dafür nehmen, was das Beste ist für die Mehrheit ihrer Altersgenossen! Gerade wegen der grossen Bandbreite in der Entwicklung der Kinder ist es ein Unsinn, alle Kinder gleichen Alters in dasselbe (schulische) Schema zu zwängen.

Über die mathematischen Grundoperationen sagt Piaget:

„Wir wissen, dass dem Kleinkind nur die ersten paar Zahlen zugänglich sind, weil es intuitive Zahlen sind, die wahrnehmbaren Figuren entsprechen. Die unbegrenzte Folge der Zahlen und vor allem die Operationen des Zuzählens (und dessen Umkehrung, das Wegzählen) und der Multiplikation (mit ihrer Umkehrung, der Division) sind dagegen im Durchschnitt nicht zugänglich bis zum Alter von sieben Jahren.
(Jean Piaget, „Die mentale Enwicklung des Kindes“)

Eine detailliertere Untersuchung über spezifische mathematische Operationen fand folgendes:

„Während mehrerer Jahre und in Hunderten von Städten untersuchte das ‚Siebnerkomitee‘ das mentale Alter, in welchem bestimmte Themen bis zur ‚Vollständigkeit‘ gelehrt werden können. Typischerweise fanden sie, dass das Zusammenzählen von gleichnamigen Brüchen ein mentales Alter von 10 bis 11 Jahren erforderte, und das Zusammenzählen von ungleichnamigen Brüchen 14 bis 15 Jahre. Das Teilen durch eine zweistellige Zahl erforderte ein mentales Alter von 12 bis 13 Jahren.
Vincent J. Glennon and C. W. Hunnicutt, „What does Research say about Arithmetic?“ (Was sagen die Forschungen über die Arithmetik?), National Educational Association of the USA, Washington D.C.

Nach dem etwas veralteten Konzept des „Intelligenzquotienten“ (mentales Alter geteilt durch chronologisches Alter) würde das also bedeuten, dass zehnjährige Kinder, die ungleichnamige Brüche zusammenzählen müssen, einen IQ von 140 bis 150 haben müssten, um wirklich verstehen zu können, was sie tun! Aber das gegenwärtige Schulsystem zwingt Kinder (hier in Perú) dazu, dies bereits im Alter von acht Jahren zu tun! Es erstaunt daher gar nicht, dass die Kinder verwirrt werden. Diese Kinder könnten mit viel weniger Schulstunden, Stress und Aufwand viel mehr leisten, wenn es ihnen ganz einfach erlaubt würde, ein paar Jahre länger Kinder zu sein.

„Aber meine Kinder / meine Schüler lösen Aufgaben mit solchen Operationen und können es“, wird jemand sagen. Ja, Kinder können viele Dinge tun, wenn sie dazu gezwungen werden und ihnen mit Strafe gedroht wird. Sie können sehen, was der Lehrer tut, und es nachahmen; sie können ein Vorgehen auswendiglernen und es reproduzieren. Aber sie verstehen dabei nicht, was sie tun. Wenn ich sie frage: „Warum machst du es auf diese Art?“, oder „Warum schreibst du diese Zahl hierhin?“, dann können sie keine Erklärung abgeben. Und sie sind nicht in der Lage, ihre auswendiggelernten Techniken auf wirkliche Situationen und auf konkrete Gegenstände (wie z.B. Kuchenstücke) anzuwenden. Ihr Lernen gleicht dem Lernen eines Papageis, der sagen kann: „Eins plus zwei gibt drei.“ Kann der Papagei etwa zusammenzählen? Natürlich nicht. Er hat nur gelernt, einige Worte wiederzugeben, ohne ihren Sinn zu verstehen. Ebenso bringt die Schule den Kindern bei, mathematische Symbole wiederzugeben, ohne deren Sinn zu verstehen.

Rebeca Wild, eine Pionierpädagogin in Ecuador, machte dieselbe Beobachtung:

„In dieser Etappe (der operativen Phase, von ca. 7-8 bis 13-15 Jahren) beginnt das Kind, sich die Konzepte der Erhaltung der Masse, des Gewichts, der Zahl, der Länge und des Raumes anzueignen. Diese Konzepte assimiliert es einzig und allein mit Hilfe konkreter Materialien und Situationen. Wenn man in dieser Phase versucht, Symbole zur Unterstützung des Lernprozesses zu verwenden, wie vereinfacht sie auch sein mögen – sehr graphische und „kindliche“ Symbole -, dann sieht sich das Kind gezwungen, als eine Art Verteidigungsmassnahme auf das Auswendiglernenzurückzugreifen, um auf Verlangen das gewünschte Wissen wiederholen zu können.
(…) Die Anzahl Stunden, die gerade in einem Land wie Ecuador darauf verwendet werden, Regeln zu diktieren und auswendigzulernen, ist eindrücklich: Grammatikregeln, Rechenregeln, Rechtschreibregeln, Verhaltensregeln, usw. Claparède formulierte das folgende Gesetz: Alles, was seinerzeit auswendiggelernt wurde, ist später viel schwieriger zu verstehen. Es erstaunt nicht, dass wir so oft beobachten, wie sehr diese Praxis des Lernens von Regeln deren intelligente Anwendung erschwert. Diese Tatsache wird gewohnheitsmässig anerkannt in den Kritiken am Schulsystem, die in Ecuador so oft vorgebracht werden; aber selten werden die Gründe verstanden, die in Wirklichkeit dazu führen.“
Rebeca Wild, „Erziehung zum Sein“

Die Schlussfolgerung aus all diesen Daten ist offensichtlich: Es ist viel besser für die Kinder, einige Jahre länger zu warten, bevor sie zur Schule gehen. Sie sollten zuerst und vor allem einfach Kinder sein dürfen, spielen und experimentieren und vieles selber entdecken. Und wenn sie dann zur Schule gehen (wenn überhaupt), dann sollten sie nicht gezwungen werden, Dinge zu lernen, die sie noch nicht verstehen können. Der Unterricht muss sich dem Verständnis des Kindes anpassen, nicht das Verständnis des Kindes an den Unterricht.

Wenn ich mit Eltern und Lehrern über diese Dinge spreche, dann sind die meisten entsetzt: „Mein fünfjähriges Kind nicht zur Schule schicken? Aber dann verliert es doch ein Jahr!“ Nach ihrer Ansicht scheint „ein Jahr zu verlieren“ (nach den Normen des Schulsystems) das Allerschlimmste zu sein, was einem Kind passieren kann. Diese Vorstellung ruft bei ihnen schreckliche irrationale Ängste hervor. Aber in Wirklichkeit würde dieses Kind ein Jahr gewinnen. Es gewönne ein Jahr mehr, um Kind zu sein und viele Dinge auf kindgemässe Weise zu lernen und zu entdecken. Es gewönne ein Jahr mehr, um sein Gehirn reifen zu lassen und dann besser verstehen zu können, was ihm beigebracht wird.
Ein Jahr älter und reifer zu sein schadet keinem Kind. Vielmehr schadet ihm ein Unterricht, der es zwingt, Dinge zu tun, die es nicht versteht; und der bewirkt, dass seine Gehirnzellen falsch verschaltet werden (wie wir bald sehen werden).

„Aber ist dann dieses Kind nicht ‚zu alt‘, wenn es die Schule abschliesst?“ – Keineswegs. Die Forschungen zeigen, dass in der Pubertät innerhalb von kurzer Zeit sämtliche Kenntnisse erworben werden können, die während sechs Jahren Primarschule gelehrt werden:

William Rohwer legt nahe, dass für viele Kinder die Anstrengungen zur Förderung der unabhängigen Wahrnehmung oder der kognitiven Fähigkeiten mit grösserer Wahrscheinlichkeit Erfolg hätten, ‚wenn sie … bis gegen Ende des Primarschulalters verschoben würden.‘Rohwer meint auch, dass das gesamte Wissen, ‚das nötig ist, um die Anforderungen der Sekundarschule erfolgreich zu meistern, innerhalb von nur zwei oder drei Jahren erworben werden kann, wenn der formelle Unterricht bis zu diesem Alter hinausgeschoben wird.‘ (…)
Der Psychiater J.T.Fisher unterstützt Rohwer aufgrund seiner persönlichen und klinischen Erfahrung. Dr. Fisher begann die Schule im Alter von dreizehn Jahren und schloss die Sekundarschule mit sechzehn Jahren ab. Er fühlte sich ’später enttäuscht, als er herausfand, dass dies nicht bewies, dass er ein Genie sei‘. Vielmehr musste er akzeptieren, was die Psychologen sagten, die ‚bewiesen hatten, dass ein normales Kind, das seine Schulbildung in der Pubertät beginnt, bald denselben Stand erreichen kann, zu dem es gelangt wäre, wenn es mit fünf oder sechs Jahren in die Schule eingetreten wäre.“
(…) Mit anderen Worten, die Eltern brauchen nicht zu fürchten, dass die ersten Jahre ihrer Kinder verschwendet seien, wenn sie sie nicht zur Schule schicken. Im Gegenteil, wenn man die Kinder für sich selber in einer relativ freien Umgebung Dinge erfinden oder lösen lässt, dann können sie kreativere Persönlichkeiten werden und bessere Problemlösungsfähigkeiten entwickeln. (…)
Oft wurde Piaget gefragt, ob er für die nordamerikanischen Programme sei, die für immer kleinere Kinder formellen Unterricht anbieten. Nach John L.Phillip antwortete er auf die Frage, ob die Gehirnentwicklung des Kindes beschleunigt werden könne, das sei die ‚amerikanische Frage‘. Er dachte, es sei ‚wahrscheinlich möglich, aber man sollte sie nicht beschleunigen.
Raymond y Dorothy Moore, „Better Late Than Early“ (Besser spät als früh)

Die Primarschule ist also nicht einmal nötig – der Kindergarten erst recht nicht. Und wie wir gesehen haben, bewirkt der Primarschulunterricht in vielen Kindern mehr Verwirrung als echtes Lernen.

Die Befunde der Gehirnforschung lassen uns besser verstehen, warum das so ist:

„Der Prozess der Myelinisation im menschlichen Gehirn ist erst abgeschlossen, wenn die meisten von uns über zwanzig Jahre alt sind. Obwohl einige Versuche mit Tieren zeigten, dass die Gesamtmenge an Myelin einige Grade der Stimulierung widerspiegeln könnte, glauben die Wissenschafter, dass dessen Entwicklungsordnung hauptsächlich von einem genetischen Programm vorherbestimmt ist.
(…) Die Gehirnregionen funktionieren nicht effizient, solange sie nicht myelinisiert sind. Wenn man deshalb versucht, Kinder dazu zu bringen, dass sie akademische Fähigkeiten beherrschen, bevor das Gehirn die nötige Reife erreicht hat, können Störungen in ihren Lernmustern auftreten. Wie wir gesehen haben, besteht die funktionelle Plastizität im Kern darin, dass irgendeine Form des Lernens – Lesen, Mathematik, Rechtschreibung, Schönschreiben, usw. – von irgendeinem von mehreren Gehirnsystemen übernommen werden kann. Natürlich möchten wir, dass die Kinder jeden Bereich des Lernens mit jenem System verbinden, das für die jeweilige Aufgabe das beste ist. Aber wenn das geeignete System noch nicht verfügbar ist, oder noch nicht richtig funktioniert, und die Kinder werden zum Lernen gezwungen, dann organisiert sich das Gehirn in einer Weise, wo die weniger anpassungsfähigen und „untergeordneten“ Systeme dazu trainiert werden, diese Aufgaben zu erledigen.

(…) Jene Bereiche, welche ihre Myelindosis am spätesten erhalten, sind die Assoziationsbereiche, die für die Manipulation von sehr abstrakten Konzepten verantwortlich sind, wie z.B. Symbole (X, Y, Z; Graphen von Funktionen), die andere Symbole darstellen (Zahlenverhältnisse), die wiederum wirkliche Dinge darstellen (Flugzeuge, Eisenbahnzüge, Wasserquellen). Diese Art des Lernen hängt stark von der [konkreten]Erfahrung ab, und kann deshalb auf vielen möglichen neuralen Wegen geschehen. Wenn unreife Gehirne zu einem Lernen auf höherer Ebene gezwungen werden, dann müssen sie gezwungenermassen mit Systemen einer niedrigeren Ebene arbeiten, und das schädigt die gewünschte Fähigkeit.

Ich behaupte, dass viele der gegenwärtigen schulischen Misserfolge das Ergebnis von akademischen Anforderungen sind, die den Schülern wie mit einer Dampfwalze aufgezwungen wurden, bevor ihre Gehirne dazu bereit waren.

(…) Die abstrakten Regeln der Grammatik und des Sprachgebrauchs sollten nicht vor der Sekundarschule [7. Schuljahr] gelehrt werden. Dann, wenn die Schüler dazu bereit sind, kann ihnen die Herausforderung dieser Art abstrakten und logischen Denkens sogar Freude bereiten. Aber nur wenn die Schaltungen [ihrer Gehirne] nicht schon zu sehr verstopft sind von einem stümperhaften Regeln-Lernen.

Eine Schülerin der dritten Sekundarklasse, die meine Hilfe in Grammatik suchte, war verzweifelt verwirrt über die einfachsten Bestandteile der Sprache. Obwohl sie intelligent war und in ihrem Alter diesen Stoff innerhalb einer Woche hätte beherrschen können, war sie ein Opfer von sinnlosem „Grammatikdrill“ seit der zweiten Primarschulklasse gewesen. Während Michelle und ich um den einfachen Unterschied zwischen Adjektiven und Verben kämpften, wünschte ich oft, ich könnte einen neurologischen Staubsauger nehmen und alle diese unorganisierten Synapsen einfach herausblasen, die sich ständig in unseren Weg stellten. Wir brauchten sechs Monate . . . Aber schliesslich ging ihr eines Tages das Licht auf. „Das ist ja einfach!“, rief sie aus. Ja, es ist einfach, wenn die Gehirne reif sind zum Lernen, und wenn der Schüler einen Grund hat, das Gelernte auf echte literarische Vorbilder anzuwenden.“
Jane M. Healy, „Endangered Minds, Why Children Don’t Think and What We Can Do About It“ (Gefährdete Gehirne: Warum die Kinder nicht denken, und was wir dagegen tun können), New York, 1990.

Das erklärt nun vollkommen meine Beobachtungen mit den Sekundarschülern. Sie waren in der Primarschule gezwungen worden, allzu fortgeschrittene Konzepte zu lernen. Deshalb hatte diese Art des Lernens zu einer mangelhaften Organisation ihres Gehirns geführt. Noch viele Jahre später litten sie unter den Auswirkungen dieser falsch verschalteten Gehirnzellen: Sie konnten nicht richtig verstehen, was sie in jenen Jahren gezwungenermassen mechanisch wiedergeben mussten. Im allgemeinen haben die Sekundarschüler genau mit jenen Themen Schwierigkeiten, welche in der Primarschule allzu frühzeitig forciert werden: Teilen durch mehrstellige Zahlen; Bruchrechnen und Dezimalbrüche; z.T. jetzt auch Gleichungen; und in der Grammatik das Bestimmen der Satzglieder.

Woher also diese ganze Hysterie, die Kinder in immer früherem Alter zur Schule zu schicken, und in immer kürzerer Zeit immer mehr Wissen in ihre kleinen Köpfe zu stopfen? Wir haben gesehen, dass die wissenschaftlichen Befunde in keiner Weise dieses „Bildungswettrennen“ unterstützen. Im Gegenteil, es schadet den Kindern und bewirkt, dass sie später grössere Lernprobleme haben. Warum nehmen die Bildungsplaner, die Schuldirektoren und Lehrer, ganz zu schweigen von den Eltern, diese Untersuchungen über die Entwicklung des Kindes einfach nicht zur Kenntnis? Warum werden Millionen von Kindern einem Schulsystem unterworfen, das den Eigenheiten und Bedürfnissen der Kinder völlig widerspricht?

Über die Gründe kann ich nur spekulieren; es könnten folgende sein:

– Das Gewicht der Tradition? Die Lehrer von heute wurden von Lehrern ausgebildet, die von Lehrern ausgebildet wurden, die von Lehrern ausgebildet wurden … usw, und keiner von ihnen hielt inne und dachte darüber nach, warum wir eigentlich die Dinge so tun, wie wir sie tun. Einfach weil es einfacher ist, auf dem gewohnten Weg weiterzugehen. Mit anderen Worten: Wenn die Lehrer selber unter falsch verschalteten Gehirnzellen leiden (aufgrund ihrer eigenen Ausbildung), dann können wir von ihnen nicht erwarten, dass sie es mit ihren Schülern besser machen…

– Die verborgenen Einflüsse hinter dem Schulsystem? Enorme wirtschaftliche und politische Interessen profitieren davon, dass das Schulsystem so bleibt, wie es ist. (Nur schon der Verkauf von Schulbüchern ist ein Millionengeschäft. Und natürlich sind die Lehrer eine wichtige politische „pressure group“.)

– Die Ausbildung der Lehrer? Der Staat ist kein Erzieher; der Staat ist lediglich eine Verwaltungsinstanz. Er verwaltet Schulen, Lehrer, Kinder… Wenn es der Staat ist, der die zukünftigen Lehrer ausbildet, dann ist es nur natürlich, dass diese nicht zu Erziehern ausgebildet werden, sondern zu Funktionären des Staates. Das könnte erklären, warum die hier zitierten Daten in der Lehrerausbildung überhaupt nicht erwähnt werden – oder wenn, dann rein theoretisch, ohne nachzufragen, wie das Schulsystem in Anwendung dieser Daten geändert werden müsste.

– Die Verantwortungslosigkeit der Eltern? In den letzten Jahren haben sich mehr und mehr Eltern angewöhnt, ihre Kinder der Obhut anderer Personen zu überlassen, von früh bis spät und in immer früherem Alter. Wenn die Eltern keine Verantwortung mehr übernehmen wollen für die Erziehung ihrer eigenen Kinder, wer kümmert sich dann um sie? Es bleibt niemand mehr übrig ausser dem höchst mangelhaften Schulsystem.

– Oder vielmehr ein verdrehter Ehrgeiz und Konkurrenzkampf unter den Eltern und Lehrern? „Mein vierjähriges Kind kann schon lesen.“ – „Meine Schüler können im Alter von acht Jahren schon Gleichungen lösen.“ – „Was, dein Kind ist schon sechs Jahre alt und kann noch nicht zweistellige Zahlen zusammenzählen?“ – Was für eine verkehrte Persönlichkeit muss jemand haben, der es nötig hat, auf solche Weise sein Selbstvertrauen zu heben! – indem er unerträgliche Lasten auf die Schultern der Kinder legt, nur um zu beweisen, dass er selber „etwas wert ist“ als Vater, Mutter, Lehrer oder Lehrerin. Der beste Lehrer ist nicht der, der in der kürzesten Zeit das meiste Wissen in die Köpfe der Kinder stopft. Ein guter Lehrer ist der, der das Interesse der Kinder am Entdecken und Verstehen zu wecken weiss; der die Kinder ernst nimmt und sich um ihr Wohlergehen kümmert; der die Kinder gemäss ihrem eigenen Verständnis zu lehren weiss.
Jesus sagte:
„Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer also sich selbst erniedrigt wie dieses Kind, der ist der Grösste im Himmelreich. Und wer in meinem Namen ein Kind wie dieses aufnimmt, der nimmt mich auf. Und wer einem dieser Kleinen, die an mich glauben, Anstoss gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt würde und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde.“ (Matthäus 18,3-6)

– Bis hierher sind das alles noch mehr oder weniger unschuldige Mutmassungen. John Taylor Gatto kam nach dreissigjähriger Erfahrung als Lehrer in New York und nach ausgedehnten Forschungen über die Ursprünge des amerikanischen (und deutschen!) Schulsystems zu einer noch unfreundlicheren Schlussfolgerung: Die Mängel des gegenwärtigen Schulsystems wurden geplant mit der Absicht, auf diese mangelhafte Weise zu funktionieren. Viele grosse Unternehmer, Politiker, und andere einflussreiche Leute profitieren davon, dass die grosse Masse der Bevölkerung es gewohnt ist, mechanisch den erhaltenen Befehlen Folge zu leisten, ohne sie zu verstehen und ohne nachzudenken. (Siehe dazu auch über das Milgram-Experiment und dessen erschreckende Ergebnisse.) Sie profitieren von einer Bevölkerungsmehrheit ohne Kreativität, ohne Originalität, ohne eigenständiges Denken. Und das ist genau die Art Menschen, die vom gegenwärtigen Schulsystem hervorgebracht werden. Gatto zitiert eine Menge historischer Quellen und persönlicher Zeugnisse, die nahelegen, dass das Schulsystem genau zu diesem Zweck geplant wurde.
(Siehe „Underground History of American Education“ bei http://www.johntaylorgatto.com.)

Unabhängig davon, welche der angeführten Gründe wirklich zutreffen: ist irgendeiner von ihnen wichtiger als das Wohlergehen der Kinder? Rechtfertigt irgendeiner dieser Gründe die intellektuelle, psychische (und hier in Perú immer noch auch körperliche) Misshandlung, die in so vielen Schulen im Namen einer falsch verstandenen „Bildung“ geschieht? Ist es gerechtfertigt, die gesunde Entwicklung der Kinder zu behindern, indem ihnen unangebrachte Methoden, Bücher und Lehrpläne aufgezwungen werden, entworfen von Menschen, die selber weder aufrichtige persönliche Beziehungen zu Kindern haben, noch deren Bedürfnisse verstehen?

Eltern, Lehrer, Bildungspolitiker: Im Namen Gottes und der Kinder, haltet dieses Bildungswettrennen und diese sinnlose Konkurrenz auf! Erlaubt den Kindern, Kinder zu sein und auf kindgemässe Weise zu lernen. Ihr selber werdet davon profitieren, denn später werdet ihr die Kinder mit viel weniger Mühe, Stress und nervlichem Aufwand lernen sehen. Wenn einem Kind erlaubt wird, auf natürliche Weise zu reifen, dann wird es die Dinge mit viel weniger Schulstunden lernen und verstehen können.

Gut, und warum erscheint dies in einem Blog mit dem Namen „Christlicher Aussteiger“? – Alle die angeführten Forschungen bestätigen, was Gott uns schon lange in der Bibel gesagt hat: Die Familie ist die einzige „Erziehungs- und Bildungseinrichtung“, die Gott angeordnet hat. Die Kinder entwickeln sich besser, wenn sie in einer gesunden Familie aufwachsen. Die Schule kann – zumindest bis zum Anfang der Pubertät – höchstens eine „Ergänzung“ zur Familie sein; und wie wir sahen, ist sie eine sehr mangelhafte Ergänzung. Das Lernen durch konkrete Operationen, die praktischen Erfahrungen des wirklichen Lebens, und die persönlichen Vertrauensbeziehungen, alle diese so wichtigen Elemente für die Entwicklung des Kindes, sind in der Familie natürlicherweise vorhanden. Ein echtes christliches Leben wird die Familie wieder ins Zentrum stellen als Grundlage der Gesellschaft und als grundlegende Bildungseinrichtung, und wird aus familienfeindlichen Institutionen wie z.B. dem gegenwärtigen Schulsystem aussteigen.

Vom Lesenlernen

13. Juni 2011

Heutzutage wird ganz allgemein angenommen, dass man zur Schule gehen müsse, um lesen zu lernen. Lehrer und Pädagogikexperten ihrerseits zerbrechen sich die Köpfe darüber, mit was für einer Methode man den Kindern das Lesen beibringen könne; und sie erwecken mit ihren Fachdiskussionen den Eindruck, das Lesenlernen und Lesenlehren sei etwas unheimlich Kompliziertes. Und gerade dadurch machen sie es kompliziert für die Kinder.

Stellen wir dieser allgemeinen Auffassung eine einfache Statistik gegenüber:

„Vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht (um 1850) konnten 98% der Einwohner des Staates Massachusetts lesen und schreiben. Danach blieb die Ziffer ständig unter 91%, wo sie heute (1990) noch ist.“
(Zitiert von John Taylor Gatto in „Warum Schulen nicht bilden“.)

Offenbar ist die Schule also beim Lesenlernen keineswegs ein hilfreicher Faktor – im Gegenteil. Und die endlosen Fachdiskussionen um die „richtige“ Leselernmethode dienen meiner Ansicht nach nur dazu, ein Heer von Lehrern und Professoren beschäftigt zu halten, die sonst arbeitslos würden.

Nach meiner eigenen Beobachtung geschieht das Lesenlernen bei Kindern beinahe automatisch innerhalb von rund zwei bis drei Monaten, sofern 1.) die Kinder in einer Umgebung aufwachsen, wo Lesen und Schreiben zum Alltag gehört, und 2.) sie die dazu nötige Reife in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung erreicht haben. Die Lehrmethode ist dabei völlig nebensächlich. Das habe ich bei meinen eigenen Kindern beobachtet, sowie bei einem neunjährigen Pflegekind, das wir ein halbes Jahr lang betreuten. Dieses Mädchen war von ihrer Familie völlig vernachlässigt und unter verschiedenen Verwandten umhergeschubst worden, und sie konnte nach drei Schuljahren noch nicht lesen oder schreiben. Wir stellten fest, dass sie aufgrund ihrer Familiensituation unter verschiedenen psychologischen Problemen litt. Nachdem sie Vertrauen gefasst hatte zu uns, und wir angefangen hatten, einige dieser Probleme aufzuarbeiten, lernte sie innerhalb weniger Wochen zu lesen und zu schreiben.

Mein älterer Sohn lernte im Alter von fünfeinhalb Jahren lesen. Hauptsächlich beobachtete er die Aufschriften auf Lebensmittelpackungen und Konservenbüchsen, und wir erklärten ihm, was sie bedeuteten. (Die einzelnen Buchstaben hatte er schon etwas früher kennengelernt.) In der Zeit war ich gerade daran, eigene Arbeitsblätter zum Lesenlernen zu entwerfen, und probierte diese natürlich mit meinem Sohn aus. Er machte aber so schnelle Fortschritte, dass ich mit dem Ausarbeiten von Arbeitsblättern gar nicht nachkam – als meine Blätter etwa die Hälfte der Buchstaben eingeführt hatten, konnte er bereits fliessend lesen.
Sein damals vierjähriger Bruder beobachtete das alles und kam ziemlich bald mit dem Wunsch, auch lesen zu lernen. Zuerst sagte ich ihm, er sei noch etwas zu klein dafür. Als er nicht nachgab, setzte ich mich hin mit ihm und mit meinen Arbeitsblättern. Die Buchstaben lernte er ziemlich schnell kennen, aber er konnte sie einfach nicht zu Silben oder Wörtern zusammensetzen. Nach mehrmaligen Versuchen gab ich es auf und sagte: „Wollen wir nicht warten, bis du etwas älter bist?“ Diesmal akzeptierte er es. Es war zwar öfters eine Quelle der Frustration für ihn, dass sein Bruder lesen konnte und er nicht. Aber er war offensichtlich in seiner Entwicklung noch nicht so weit. – Ein Jahr später versuchten wir es wieder, aber wieder mit demselben Ergebnis. Also legten wir das Lesen für ihn wieder beiseite. – Als er sechseinhalb Jahre alt war, spürten wir plötzlich, dass es jetzt so weit war. Und tatsächlich tat da auch er innerhalb von etwa zwei Monaten den Schritt vom Nichtleser zum fliessenden Lesen.
Nachdem sie einmal lesen konnten, suchten unsere Kinder immer neuen Lesestoff und hatten bald alle in unserem Haus befindlichen Hefte und Bücher, die ihrem Alter angemessen waren, von vorne bis hinten durchgelesen, sodass ich nach neuem Lesematerial Ausschau halten musste.

Bei Kindern, die einem schulischen Leselernprogramm unterworfen werden, einfach weil das im Lehrplan für ihr Alter jetzt dran ist, beobachte ich dagegen etwas ganz anderes: Der Leselernprozess dauert viel länger (manchmal über ein Jahr), und ist sowohl für das Kind wie für dessen Eltern und Lehrer mit viel mehr Stress und Frustration verbunden. Manche dieser Kinder lesen noch jahrelang stockend, Silbe für Silbe, und ohne viel von dem Gelesenen zu verstehen. Und nur ganz wenigen von ihnen macht das Lesen Freude.

Diese Beobachtungen haben einen wissenschaftlichen Hintergrund – der allerdings von Lehrern und Schulplanern nicht zur Kenntnis genommen wird. Dr.Raymond und Dorothy Moore schreiben in „Better Late Than Early“:

„Die vorschulische Bildung (gemeint ist: zuhause) muss die Entwicklung des kindlichen Gehirns berücksichtigen, seinen Gesichts- und Gehörsinn, seine Wahrnehmungen und Gefühle, seine Geselligkeit und seine familiären Beziehungen, zusammen mit seinem körperlichen Wachstum, und die Schule selber. Anscheinend gibt es für jeden dieser Faktoren einen Reifegrad, bei welchem die Mehrheit der Kinder eine normale Familie verlassen können und schulische Aufgaben beginnen können, ohne ernsthafte Risiken einzugehen. Wenn wir alle diese Faktoren zusammennehmen, erhalten wir einen Anzeiger der Reife, den wir den integralen Reifegrad des Kindes nennen.“

Und an anderer Stelle:

„Das Wichtigste ist hier die Geduld. Man muss dem kindlichen Gehirn Zeit geben, um sich in allen seinen Aspekten zu entwickeln. (…) Eine Verzögerung in der Entwicklung einer bestimmten Gehirnfunktion bedeutet normalerweise noch nicht, dass eine Hirnschädigung oder Behinderung vorläge. Trotzdem wird aber vom Kind (in der Schule) verlangt, dass es grundlegende Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen entwickle, bevor es zu einem Gleichgewicht der verschiedenen Hirnfunktionen gelangt ist. Oft entsteht dann der Eindruck, das Kind sei geistig zurückgeblieben oder behindert. Sehr oft verschwinden aber solche Lernprobleme, wenn die Eltern das Kind aus dem Kindergarten oder der Schule nach Hause nehmen und ihm die Freiheit geben, ein oder zwei Jahre später mit der Schule zu beginnen. Aber wenn es mit Lernaufgaben belastet wird, bevor es dazu bereit ist, dann kann es auf verschiedenste Weise im Lernen scheitern.“

Hier liegt wahrscheinlich die Ursache für die allermeisten schulischen Probleme während der ersten Schuljahre (und möglicherweise noch später)! – Da in letzter Zeit an immer mehr Orten Gesetze erlassen werden, die eine späte Einschulung verunmöglichen (hier in Perú z.B. müssen die Kinder von Gesetzes wegen spätestens mit sechs Jahren in die Primarschule eintreten und diese spätestens mit zwölf Jahren beenden), bleibt homeschooling als einzige Alternative, Kinder ihrer Entwicklung gemäss zu fördern

– Dann untersuchen die Moores die verschiedenen Aspekte des integralen Reifegrades genauer, gestützt auf eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen:

Das Gehirn:
(…) Dr.David Metcalf von der medizinischen Fakultät der Universität Colorado glaubt, dass die Arbeitsteilung zwischen den beiden Gehirnhälften etwa zwischen dem siebten und dem neunten Altersjahr festgelegt wird. Bis zu diesem Punkt sind Kinder eher emotionelle als rationale Wesen. (…) Aber die Fähigkeit, logisch zu denken, ist grundlegend, um Lesen und Rechnen zu lernen.
Es stellt sich die Frage, ob das Gehirn durch Anregung zu schnellerer Reife gebracht werden kann, oder ob die Schularbeiten leichter erledigt werden, wenn man dem Gehirn des Kindes vorher Zeit gibt zum Reifen. Die Untersuchungen zeigen, dass die frühkindliche Stimulierung ein grösseres Risiko für das Kind bedeutet, als wenn man ihm Zeit gibt zum Reifen. (…) Die Ergebnisse von Dr.Paul Yakovlev von Harvard über Struktur und Funktion des Gehirns, und die klinischen Studien des Kinderpsychiaters Humberto Nagera von der Universität Michigan, stimmen deutlich mit den Schlussfolgerungen des Schweizer Psychologen Jean Piaget überein, der sagte, das Gehirn des Kleinkindes sollte beim Lernen nicht zu schnellerer Entwicklung angetrieben werden.

Der Gesichtssinn:
Der Prozess der visuellen Wahrnehmung ist äusserst kompliziert. Um zu verstehen, was es liest, muss das Kind neue Gedanken mit bereits Gelerntem verbinden können. Dann muss es das bereits Gelernte aus dem Gedächtnis aufrufen und es mit der neuen Information integrieren. (…) Einige Kinder können im Schulalter noch viele Buchstaben oder Teile von Buchstaben nicht unterscheiden. Z.B. sieht für sie ein „E“ gleich aus wie ein „F“, oder sie sehen keinen Unterschied zwischen den Buchstaben „p“ und „b“ oder „d“. Um gut lesen zu lernen, muss ein Kind die Formen von Buchstaben und Wörtern visualisieren können. (…) Solange es nicht auf diese Weise logisch überlegen kann, kann es nicht stressfrei lesen lernen. Aber das logische und konsequente Denken entwickelt sich in der Regel erst um die acht Jahre herum.
(…) Der berühmte amerikanische Philosoph John Dewey führte Augenspezialisten an, die bemerkten, dass die Augen von Kindern in erster Linie dazu geschaffen sind, in die Weite zu blicken oder grosse Gegenstände zu betrachten. Wenn das Kind gezwungen wird, sich auf eine Arbeit in kurzer Distanz oder auf kleine Gegenstände zu konzentrieren, dann entsteht mehr nervlicher Stress als nötig. Kinder unter acht Jahren sollten keine solche exakten und kleinen Bewegungen ausführen müssen. (…) Während der darauffolgenden Jahrzehnte haben viele hervorragende Kinderspezialisten diese Befunde bestätigt.
(…) In Texas um 1900, als die Kinder mit acht Jahren eingeschult wurden, war im Durchschnitt eines von acht Kindern kurzsichtig. Um 1930, als das Schuleintrittsalter bei sieben Jahren lag, war bereits ein Drittel aller Kinder kurzsichtig. Im Jahre 1940, als die Kinder mit sechs Jahren zur Schule gingen, war das Verhältnis eins zu eins. Um 1962 – nachdem das Fernsehen aufgekommen war -, waren fünf von sechs Kindern kurzsichtig.“

Das Gehör:
Um lesen lernen zu können, muss ein Kind auch mit dem Gehör ähnliche Laute wie „k“ und „g“ oder „p“ und „b“ unterscheiden können. Aber Joseph Wepman von der Universität Chicago sagt, dass einige Kinder selbst im Alter von acht Jahren die Laute noch nicht unterscheiden und im Gedächtnis behalten können. Die Wichtigkeit des Gehörs beim Lesenlernen ist erst in den letzten Jahren erkannt worden.“

Die Moores warnen sogar vor zu vielem Lesen: Bei kleineren Kindern (bis 8 Jahre) sei eine halbe Stunde pro Tag genug, dann sollten sie wieder eine Tätigkeit aufnehmen, bei der sie ins Weite blicken müssen, weil sonst die Augen Schaden nehmen können. Kinder, die überaus viel lesen, seien ausserdem in der Gefahr, eine passive Geisteshaltung zu entwickeln, weil sie sich daran gewöhnen, ständig fremde Gedanken aufzunehmen, statt selber über die Dinge nachzudenken, eine eigene Ansicht zu entwickeln, selber kreativ zu sein und Neues zu schaffen.

Zusammenfassend kommen die Moores zum Schluss: Ein Kind, das zum Lesenlernen oder zum Schulbesuch gezwungen wird, bevor es die integrale Reife erreicht hat, ist unnötigem Stress ausgesetzt und entwickelt dadurch Lernschwierigkeiten, Frustrationen, usw. Diese integrale Reife wird nur von wenigen Kindern vor dem Alter von acht Jahren erreicht; von einigen sogar erst mit zehn Jahren oder noch später.

Tatsächlich hatten mehrere weltbekannte Persönlichkeiten in ihrer Kindheit eine sehr langsame Sprachentwicklung. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson lernte erst mit zehn Jahren lesen. Der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen war ein schlechter Schüler, hatte grosse Schwierigkeiten beim Lesen, und seine Lehrer rieten ihm vom Schreiben ab. Albert Einstein sprach bis zum Alter von vier Jahren kein Wort, und noch als Neunjähriger hatte er Sprachprobleme. Als Erwachsener sagte er, dass es wahrscheinlich gerade seine Langsamkeit gewesen sei, die ihn dazu befähigt habe, Probleme gründlicher zu durchdenken als andere Menschen. Man sieht daran: Eine Intelligenz, die sich langsamer entwickelt, braucht deswegen keine schwächere Intelligenz zu sein – es kann sogar gerade umgekehrt sein!

Man stelle sich jetzt aber ein solches sich langsamer entwickelndes Kind im heutigen Schulsystem vor! Es muss von Gesetz wegen dieselbe Klasse besuchen und dieselben Dinge lernen wie seine Altersgenossen, obwohl es von seiner ganzen Entwicklung her überhaupt noch nicht bereit ist dazu. Es wird von Lehrern und Kameraden ausgelacht, gedemütigt, beschimpft, vielleicht sogar geschlagen. Die Eltern reagieren ähnlich (ausser sie lassen sich nicht von der schulischen Propaganda einwickeln und informieren sich selbständig über die kindliche Entwicklung). Es werden alle möglichen Lernstörungen und Behinderungen diagnostiziert. Bis das Kind endlich so weit ist, dass es tatsächlich ohne Stress lesen lernen könnte, ist es bereits derart entmutigt, dass es sich selber für dumm hält und nicht mehr daran glaubt, es könne überhaupt je einmal etwas lernen. Wieviele potentielle Woodrow Wilsons, Hans Christian Andersens und Albert Einsteins sind wohl bereits vom herrschenden Schulsystem zugrunde gerichtet worden?

Zudem sind die Anforderungen und Altersgrenzen im gegenwärtigen Schulsystem (zumindest hier in Perú) derart übertrieben, dass selbst sich „normal“ entwickelnde Kinder (d.h. im durchschnittlichen Zeitrahmen) den Schulstoff nicht wirklich verstehen. Somit empfinden sie das Lesen als eine unerträgliche Last, der man so weit wie möglich aus dem Weg geht. – Den Kindern, die nachmittags zu uns zur Aufgabenhilfe kommen, sagen wir immer, dass sie sich von unseren Büchern zum Lesen aussuchen dürfen, was sie interessiert. Während des vergangenen Schuljahres habe ich erst zweimal ein Kind aus eigenem Interesse ein Buch aus dem Gestell nehmen sehen – und dann nur um die Bilder anzusehen, aber nicht um zu lesen. Nur während des Ferienprogramms, als der schulische Druck wegfiel, begannen einige Kinder selbständig zu lesen. Das ist ein ganz auffälliger Gegensatz zu unseren eigenen Kindern, die ausgesprochene Leseratten sind. Offenbar ist die Schule nicht nur nicht hilfreich zum Lesenlernen; sie nimmt den Kindern sogar jede Lust dazu!

Als „Methode“ würde ich also vorschlagen (wenn man überhaupt von „Methode“ sprechen kann; wie wir gesehen haben, ist der Reifegrad des Kindes viel entscheidender als die „Lehrmethode“), kleineren Kindern z.B. aus Büchern vorzulesen, ihnen durchaus auch die Buchstaben und Wörter zu zeigen und auf ihre entsprechenden Fragen einzugehen; aber nicht von ihnen zu fordern, das Lesen zu lernen, bevor erkennbar wird, dass sie selber in der Lage sind, Buchstaben zu Silben und Wörtern zusammenzusetzen. (Die einzelnen Buchstaben können Kinder schon in einem früheren Stadium kennenlernen; aber daraus Silben und Wörter zu bilden, erfordert eine weitere Reifung.) Wie wir gesehen haben, kann das Alter, in dem diese Reife erreicht wird, von Kind zu Kind sehr unterschiedlich sein.
Nur noch ein einziger zusätzlicher methodischer Hinweis (den die Schulen im deutschsprachigen Raum, soweit ich informiert bin, verstanden haben; die peruanischen jedoch noch nicht): Kinder werden verwirrt, wenn wir die Buchstaben mit ihren „Namen“ einführen, also z.B. ein N „enn“ nennen. (NU werden sie „enn-u“ lesen.) Sie verstehen das Lesen besser, wenn wir jeden Buchstaben mit dem Laut benennen, den er in einem Wort tatsächlich hat; wenn wir also das N „nn“ nennen und die Wörter „lautieren“ statt „buchstabieren“.

Mein bisher einziges einigermassen erfolgreiches Experiment, die Kinder (während des Schuljahres) zum Lesen und Schreiben zu motivieren, war dieses: Wir eröffneten in unserer Stube ein Postbüro, wo die Kinder einander Briefe schreiben und schicken konnten. Zuerst falteten und klebten wir zusammen Briefumschläge aus farbigem Papier und schnitten kleine Briefpapierbögen zurecht. Ausserdem fabrizierten wir mit einem Stempelkasten unseren eigenen Poststempel. Aus Karton und Plastikfolie bastelten wir einen Postschalter. Zum Anfang brachte ich einige bereits geschriebene Briefe an einige der Kinder zum Schalter. Dann rissen sich die Kinder darum, wer bedienen und die Briefe abstempeln durfte. Jeden Tag wurde ein Kind zum Schalterbeamten und ein anderes zum Briefträger ernannt. Tatsächlich hatten sie ziemlich viel Arbeit: Schon am ersten Tag brauchten die Kinder alle zwanzig vorbereiteten Umschläge auf, und wir mussten neue machen. Wenn es darum ging, persönliche Botschaften zu schreiben und zu erhalten, dann wurde das Lesen und Schreiben plötzlich sinnvoll und interessant. Einige Kinder fragten, ob sie auch Briefe an nicht anwesende Nachbarskinder schreiben dürften. (Ich antwortete, das hänge von der Bereitschaft des „Briefträgers“ ab, die Briefe zu überbringen.) – Leider kamen dann einige Tage, an denen die Kinder so viel Schulaufgaben hatten (wo sie viel weniger interessante Dinge schreiben mussten), dass für die Post keine Zeit mehr übrigblieb.

Kinder an ihrem Postbüro

Ein weiterer Punkt wird durch dieses Beispiel illustriert: „Lesen“ ist ja eigentlich viel mehr als nur Buchstaben zu Wörtern und Sätzen zusammenzusetzen. Der entscheidende Wert des Lesens liegt darin, dass diese Wörter und Sätze eine Bedeutung übermitteln, einen Sinn, eine Botschaft. (Ich hatte schon Schüler, die einen Satz fast ohne zu stocken laut vorlesen konnten, aber kein Wort davon verstanden!) Es ist daher eine grundsätzlich richtige Idee, dass dieses Schulfach neuerdings nicht mehr „Lesen“ oder „Sprache“ genannt wird, sondern „Kommunikation“. (Zumindest hier in Perú.) Dennoch kann ich in dieser Umbenennung nur eine riesige Ironie sehen: Wo gibt es weniger echte Kommunikation als in einer Schulstunde? Echte Kommunikation beruht darauf, dass ich auf eine empfangene Botschaft eine Antwort geben kann und so mit dem Absender der Botschaft in eine persönliche Beziehung trete. „Massenkommunikation“ ist in diesem Sinn keine echte Kommunikation; und der Schulunterricht steht hierin der Massenkommunikation sehr nahe: Er besteht hauptsächlich aus unpersönlichen Botschaften eines Einzelmenschen (des Lehrers) an eine grössere Gruppe, und aus einigen wenigen ebenso unpersönlichen Antworten von Mitgliedern dieser Gruppe. Ein Schüler hat während einer durchschnittlichen Schulstunde höchstens einige wenige Sekunden echter, persönlicher Kommunikation mit seinem Lehrer; und die Kommunikation der Schüler untereinander wird aus Disziplingründen unterbunden.

Nun haben aber Untersuchungen ergeben (wie Raymond und Dorothy Moore erwähnen), dass der persönliche, bedeutungsvolle Austausch zwischen Eltern und ihren Kleinkindern fast der einzige äussere Faktor ist, der tatsächlich die Entwicklung der Denkfähigkeit beschleunigt oder begünstigt. Dieser Austausch findet in der Regel auf informelle Weise und ungeplant während des Tages statt, wo Eltern sich Zeit nehmen für ihre Kinder. Dieser persönliche Austausch ist Grundlage dafür, dass die Kinder später auch verstehen, was sie lesen, und sich über das Gelesene Gedanken machen können. Eine solche persönliche Beziehung zu den Kindern kann durch nichts ersetzt werden – erst recht nicht durch ein „Kommunikation“ genanntes Schulfach.

Im Umgang mit meinen eigenen Kindern erkannte ich z.B, dass ihre Fähigkeit zum logischen Denken stark gefördert wird, wenn wir mit ihnen über alle möglichen Dinge sprechen, auf ihre Fragen eingehen und selber neue Fragen stellen, die zum Denken anregen. Das kann am Mittagstisch geschehen, beim Spazierengehen, beim Spielen, usw. Wir beobachten z.B. Wolken: Woraus besteht eigentlich eine Wolke? Warum bewegen sich die Wolken? Warum regnet es aus einigen Wolken, aber aus anderen nicht? Warum sehen einige Wolken hell aus, und andere dunkel? Kann man sich wirklich auf eine Wolke legen, wie es manchmal in Bilderbüchern dargestellt wird? – Oder die Kinder bauen einen Turm aus Bauklötzen, Legos, o.ä: Wie hoch kann man einen Turm bauen, ohne dass er umfällt? Wie muss er gebaut sein, damit er so hoch wie möglich werden kann? – Oder wir sprechen darüber, woher unser Essen kommt, was unser Körper braucht um wachsen zu können, warum wir Gott danke sagen für das Essen (z.B. auch für das Brot, das doch vom Bäcker kommt), usw.
– Jetzt, wo unsere Kinder schon etwas grösser sind, werden natürlich auch ihre Fragen anspruchsvoller. Fragt z.B. mein Zehnjähriger beim Bauen eines Flugzeugmodells: „Könnte man nicht ein Propellerflugzeug bauen, dessen Propellerachse zugleich einen Stromgenerator antreibt, der wiederum den Flugzeugmotor antreibt, sodass das Flugzeug seinen eigenen Strom produzierte?“ Das ist natürlich die klassische Frage nach dem perpetuum mobile, und da sind ziemlich fortgeschrittene physikalische Konzepte wie Energieerhaltungssatz und Entropiesatz involviert. Das praktische Beispiel des Flugzeugmodells (das mein Bub bereits zu bauen begonnen hatte) bot aber die Gelegenheit, diese Konzepte anschaulich zu erklären, auch ohne schon alle entsprechenden Fachbegriffe einzuführen. Den Energieverlust durch Reibung hatte er bereits selber erfahren: Beim ersten Versuch drehte sich der Propeller überhaupt nicht, weil er nicht richtig gelagert war und die Reibung zu gross war.

Solche herausfordernde Fragen und Gespräche in Alltagssituationen tragen viel dazu bei, das Denken zu schärfen. Ich stelle bei meinen Nachhilfeschülern fest, dass die meisten von ihnen diese Art Kommunikation überhaupt nicht gewohnt sind. (Trotz – oder gerade wegen? – des Schulfachs „Kommunikation“ … ) Ich muss da bei ihnen mit ganz einfachen Dingen anfangen; z.B. sie ein frohes oder ein trauriges Erlebnis des Tages erzählen zu lassen. Wenn sie mit ihren Hausaufgaben kommen, bitte ich sie, mir die Aufgabe zu erklären (die Aufgabenstellung natürlich, nicht schon die Lösung). Die meisten waren die ersten paar Male nur schon damit überfordert! – Jene, die schon länger zu uns kommen, sind jetzt immerhin so weit, dass sie spontan und einigermassen zusammenhängend von Ereignissen in ihrem persönlichen Leben und in ihrer Familie erzählen.

Manchmal stelle ich auch einige nicht ganz ernst gemeinte Fragen, die die Kinder herausfordern, nochmals zu überdenken, was sie sagen. Erzählt ein Kind: „Meine Mami hat eine Torte gekauft, aber am nächsten Tag war sie schon nicht mehr gut, und sie sagte, man müsse sie fortwerfen … “ – „Wer war nicht mehr gut, deine Mami oder die Torte?“ – „??? – Die Torte natürlich!“ – „Ach so … dann ist ’sie‘ einmal deine Mami, und ein anderes Mal die Torte?“

Haben sich die Kinder einmal daran gewöhnt, besser nachzudenken, dann werden natürlich auch ernsthaftere Gespräche möglich; sowohl über Sachthemen wie auch über persönliche Anliegen und Probleme. Da erst wird die Kommunikation richtig bedeutungsvoll. (Aber nur, wenn ich wirklich daran interessiert bin, die Kinder persönlich kennenzulernen und ihnen zu helfen. Wo so etwas nur als „Kommunikationsübung“ gemacht wird, da werden die Kinder bald lernen, irgendwelche Erlebnisse zu erfinden, um nicht persönliche Angelegenheiten preisgeben zu müssen in einer Umgebung, die sie – mit Recht – als „unsicher“ empfinden.) Und schon öfters haben wir beobachtet, dass parallel zu einer solchen echten, persönlichen Kommunikation auch die Schulleistungen besser werden. Aber das betrachte ich als einen Randeffekt; wichtiger ist mir, dass sich die Kinder auf gesunde Weise entwickeln.

Ferienprogramm und „aktive Schule“

15. März 2011

Wieder beginnt (hier in Perú) ein neues Schuljahr. Die grossen Schulferien umfassen hier die Monate Januar und Februar. Für uns sind die Ferien jeweils eine Gelegenheit, unseren „Aufgabenhilfe-Kindern“ ein alternatives Programm anzubieten, frei vom Schulstress und von der schulischen Gleichmacherei.

Leider sind es jedes Jahr weniger Kinder, die dieses Angebot wahrnehmen können, denn die meisten Kinder haben effektiv kaum noch Ferien. Weil sie die völlig unrealistischen Lernziele der Schule nicht erreichen können, müssen sie an schulischen Ferienprogrammen teilnehmen, die nichts anderes sind als eine Fortsetzung des Schulunterrichts während der Ferien – aber von den Eltern zusätzlich bezahlt werden müssen. Man meint also, dieselbe Art Unterricht, die während des Jahres die Schüler nur überfordert und verwirrt, müsste Erfolg haben, wenn sie während den Ferien weitergeführt wird.

In der ersten Januarwoche kamen gegen zwanzig Kinder zu uns. In den folgenden Ferienwochen hörte aber eins ums andere auf zu kommen, bis nur noch zehn übrigblieben: „Meine Eltern sagen (oder „meine Lehrerin sagt“), ich müsse zur Schule gehen.“ – Der Gipfel der Ironie war, als eines Tages der Vater eines dieser Kinder wieder mit seinem Sohn bei uns vor der Tür stand: „Bitte helfen Sie meinem Buben, er kann die Aufgaben nicht lösen, die er in der Ferienschule bekommt…“ (Das war einer der Fälle, wo der Lehrer gesagt hatte, dieser Bub müsse in den Ferien zur Schule gehen, da er nur so seinen Rückstand aufholen könne.) Wir sagten dem Vater, er solle dem Lehrer ausrichten, wenn er schon der Meinung sei, der Bub hätte seinen Unterricht so sehr nötig, dann solle er ihn wenigstens so unterrichten, dass der Bub etwas versteht. – Vielleicht war es nicht ganz nett, das zu sagen. Aber ich denke, irgendjemand muss doch diesem Vater helfen zu verstehen, wie unsinnig es ist, seinen Sohn sogar in den Ferien an eine Schule zu schicken, wo er nichts lernt! (Letztlich hat auch diese Angelegenheit einen geistlichen Hintergrund. „Schule“ und „Bildung“ ist einer der mächtigsten Götzen hier in Perú; und wenn wir wollen, dass die Leute den wahren Gott kennenlernen, dann müssen sie auch aufhören, diesen Götzen anzubeten.)

Inzwischen erfuhr ich von einem interessanten Schulprojekt in Ecuador. Rebeca und Mauricio Wild sind ein deutsch-ecuatorianisches Ehepaar, die eine alternative Schule aufgebaut haben. Sie berichten über ihre Erfahrungen in ihrem Buch „Erziehung zum Sein“, und in mehreren nachfolgenden Büchern. Ihr Ansatz ist ziemlich ähnlich wie die „Moore-Formel“, übertragen auf die Umgebung einer Schule (die sie jedoch nicht „Schule“ nannten, sondern „pädagogisches Experimentierzentrum“). Die Wilds sind zwar keine Christen, aber sie haben mit uns (und mit den Moores) zwei wichtige Überzeugungen gemeinsam: dass der Auftrag und die Verantwortung zur Kindererziehung den Eltern zukommt, nicht dem Staat; und dass Kinder gemäss ihrem eigenen Entwicklungsstand und ihrer Eigenart ausgebildet werden sollen, nicht nach einem starren und gleichmacherischen Lehrplan. Insbesondere der formale Schulunterricht ist überhaupt nicht kindgemäss (zum wissenschaftlichen Hintergrund darüber siehe „Einschulung: Besser spät – oder nie – als früh“).

Dass sie sich trotzdem nicht dem „Homeschooling“ zuwandten, hatte, wie sie in ihrem Buch berichten, vor allem kulturelle Gründe: Sie beobachteten, dass die ecuatorianischen Eltern derart abhängig waren vom staatlichen Schulsystem, dass sie auf keine Art und Weise dazu zu bewegen wären, ihre Kinder selber auszubilden. – Dasselbe beobachten wir hier in Perú, wo die Kultur nicht viel anders ist als in Ecuador. Die Eltern sind weder gewillt, noch halten sie sich für fähig, ihre Kinder selber zu erziehen. Schon im Babyalter werden die Kinder abgeschoben an Onkel und Tanten, Grosseltern, ältere Geschwister, oder in eine Kinderkrippe. Ausserdem haben sowohl Eltern wie Lehrer eine sklavische Ehrfurcht vor den staatlichen Bildungs-Gurus und folgen blindlings deren Rezepte zur Zwangsverschulung. Rebeca Wild beschreibt prägnant die Auswirkungen dieses Systems auf die Schüler:

„Die ’schlauen‘ Kinder lernen alle möglichen Tricks, damit die Erwachsenen den Eindruck schulischen Erfolgs gewinnen. Andere erfahren einen traurigen Zerfall ihrer Persönlichkeit; sie gewöhnen sich daran, mit einer ständigen Angst zu leben und zu lernen, und hassen das Lernen. Einige beginnen zu stottern, andere das Bett zu nässen, oder leiden an Kopf- oder Magenschmerzen. Nicht wenige hängen sich an die Drogen.“
(Rebeca Wild, „Erziehung zum Sein“, rückübersetzt aus der spanischen Ausgabe.)

Wir können diese (und andere ähnliche) Beobachtungen nur bestätigen. Während der letzten Monate des vergangenen Schuljahres stellten wir bei den Kindern eine zunehmende Nervosität, Erschöpfung, Verwirrung und Aggressivität fest, was es uns mit der Zeit fast unmöglich machte, weiter mit ihnen zu arbeiten. Obwohl diese Auswirkungen allen Lehrern und Eltern deutlich vor Augen stehen sollten, haben sie doch nur ein einziges Rezept dagegen: Noch mehr vom selben! (Im Oktober und November letzten Jahres mussten selbst Primarschüler täglich acht Stunden in der Schule verbringen.)

Worin besteht nun die „aktive Schule“?

Die Wilds nennen ihr Modell „aktive Schule“, weil die Kinder dazu angeregt werden, selber aktiv zu werden, Entscheidungen zu treffen, „Entdeckungen“ zu machen und kreativ zu sein – im Gegensatz zur traditionellen Schule, wo sie vor allem dazu angehalten werden, passiv zuzuhören und abzuschreiben, und einem vorgegebenen Lehrplan zu folgen. Die aktive Schule kennt keinen starren Lehrplan und keine Klasseneinteilung. Sie besteht hauptsächlich aus thematischen Arbeitsplätzen mit viel didaktischem und praktischem Material, das die Kinder zum Selber-Entdecken, Selber-Gestalten und Nachforschen einlädt. Erwachsene Betreuer helfen den Kindern beim Gebrauch der Materialien, und geben ihnen bei Bedarf weitere Anregungen; die Kinder können sich aber die Arbeitsplätze und Aktivitäten weitgehend selber aussuchen. So sind sie motivierter zum Lernen, weil sie gemäss ihren eigenen Interessen arbeiten können. Es gibt Arbeitsplätze zu traditionell „schulischen“ Themen wie Rechnen (v.a. mit Hilfe von konkreten Gegenständen), Messen und Wägen, Lesen und Schreiben (Bibliothek), usw; aber auch praktische Arbeitsplätze wie Küche, Schreinerwerkstatt, usw. Dazwischen gibt es z.T. angeleitete Aktivitäten wie Singen, Geschichten hören, Bastelarbeiten, Experimente, usw, die aber nicht obligatorisch sind.
Trotz der grossen Freiheit, die die Kinder geniessen, betonen die Wilds, dass es sich nicht um eine antiautoritäre Schule handelt: „Es gibt viele Mittelwege zwischen autoritär und antiautoritär.“ Ordnung wird aufrechterhalten mit Hilfe der Hausordnung, deren Einhaltung nicht nur von den Betreuern, sondern v.a. von den Kindern untereinander überwacht wird. Sie enthält Richtlinien z.B. zum respektvollen Umgang miteinander und zum achtsamen Umgang mit dem Lernmaterial. – Die strukturierten Materialen enthalten Anweisungen, wozu sie dienen; und Spiele haben natürlich ihre Spielregeln.

Von den Eltern wird erwartet, dass sie mindestens an einem Morgen pro Monat ebenfalls in der Schule anwesend sind, um ihre Kinder zu sehen und um die Arbeitsweise der Schule kennenzulernen.

Lernen denn die Kinder so überhaupt etwas? Natürlich – und auf dauerhaftere Weise als in der traditionellen Schule. Ein Beispiel dafür sind unsere eigenen Kinder, die täglich höchstens eine Stunde formellen „Unterrichts“ haben und dennoch (oder gerade deswegen) den meisten ihrer Altersgenossen im Verständnis weit voraus sind.
Rebeca Wild anwortet auf die Frage, was dann mit Kindern geschieht, die nie lesen oder schreiben lernen wollen: Systematische, vereinheitlichte Schulübungen sind längst nicht die einzige Art, wie lesen und schreiben gelernt werden kann. In unserer Kultur, wo auf Schritt und Tritt Geschriebenes anzutreffen ist, wird es jedermann fertigbringen, geschriebene Wörter zu entziffern, auch ohne formelle Ausbildung. Ein Kind lernt lesen und schreiben auf dieselbe Weise, wie es gehen und sprechen lernt: es probiert aus, sucht Vorbilder, die es nachahmen kann, und bittet um Hilfe, wo es nötig ist.

Wir beschlossen, unser diesjähriges Ferienprogramm weitgehend als „aktive Schule“ zu gestalten. (Wobei sich die Anwesenheit der Eltern nicht verwirklichen liess: sie sind „zu beschäftigt“, um sich um ihre Kinder zu kümmern…) Dazu mussten unsere Wohnräume neu geordnet werden, ein paar zusätzliche Materialien angeschafft oder selbst hergestellt werden, Spiel- und andere Anweisungen geschrieben werden. Als einzelne Familie sind unsere Möglichkeiten natürlich beschränkt; aber peruanische Kinder sind auch nicht so anspruchsvoll, sie fanden immer etwas Interessantes.

Wir waren gespannt, wie dieses Konzept funktionieren würde mit Kindern, die an die traditionelle Schule gewöhnt sind. Während der ersten Wochen hatten sie offenbar ganz einfach ein Bedürfnis nach Ferien. (Ist ja verständlich! Ihre letzten – kurzen – Ferien waren anfangs August gewesen.) Sie wollten vor allem draussen spielen und umherrennen. Wenn sie dann davon genug hatten, spielten sie mit Puppen oder begannen unsere Karten- und Brettspiele zu entdecken. Während dieser Zeit fanden einige Eltern, dieses Programm sei unnütz, ihre Kinder „spielten ja nur“. Genau zu der Zeit stand aber in der Zeitung ein Bericht über eine wissenschaftliche Untersuchung, wonach Brettspiele wie Schach, Dame usw. die Entwicklung bestimmter Gehirnregionen förderten, welche bei anderen Personen nicht entwickelt seien. Damit hatten wir immerhin ein gutes Argument.

Mit der Zeit begannen die kleineren Kinder auch „lehrreichere“ Materialien auszuprobieren wie z.B. Zählrahmen, Perlenketten und Cuisenaire-Stäbchen zum Rechnen; oder sie begannen auf einer alten Schreibmaschine zu tippen. Die grösseren Kinder, die schon mehrere Schuljahre hinter sich hatten, verblieben jedoch länger in der „Spielphase“ und hatten selten neue Ideen.

Etwa nach einem Monat stellte ich fest, dass manche Kinder jetzt länger, konzentrierter und ruhiger arbeiten konnten als am Anfang. Die meisten waren aber weiterhin „Mitläufer“, d.h. sie folgten einfach den Tätigkeiten anderer und hatten kaum eigene Ideen. Nur wenige waren dazu zu bewegen, neue Herausforderungen anzunehmen: „Das kann ich nicht.“ – „Komm, ich zeige dir, wie man es macht.“ – „Nein, ich kann das nicht.“ Ob es darum ging, ein Regenmessgerät herzustellen, unsere Temperaturmessungen graphisch darzustellen, eine unter dem Mikroskop beobachtete Zelle zu zeichnen, oder mit dem Metallbaukasten eine eigene Maschine zu konstruieren, die nicht im Prospekt steht – immer erhielt ich diese Standardantwort. Unsere eigenen Kinder waren die einzigen, die sich an solche neuen Projekte wagten; und einige andere begannen dann mitzumachen.
Um die Kinder auf neue Ideen zu bringen, begannen wir öfters einfach selber etwas zu tun (z.B. mit Buchstaben Wörter zu legen, oder Stoff abzumessen für ein Puppenkleid). Oft wurden dann einige Kinder neugierig: „Was machst du da?“ „Darf ich auch mitmachen?“

Wir stellten auch fest, dass selbst Neun- und Zehnjährige noch nicht in der Lage sind, z.B. die Anzeige eines Thermometers oder einer Waage richtig abzulesen, oder die Mengenangaben eines Kochrezeptes zu verstehen. (Von diesen selben Kindern wird aber in der Schule erwartet, dass sie schriftlich teilen, ungleichnamige Brüche zusammenzählen und Gleichungen lösen!)

Interessant war es, einen Fünftklässler zu beobachten, der zwar seine Schulaufgaben meistens recht gut löste, weil er die Rechenoperationen rein mechanisch beherrscht; der aber im Grunde kaum versteht, was er dabei tut, und deshalb bei Problemen aus dem praktischen Leben völlig verloren ist. Letztes Jahr spielte er manchmal mit dem „Profax“-Übungsgerät, und suchte sich dabei immer die allereinfachsten Aufgaben aus (Zusammenzählen von Zahlen bis 10.) Im Januar hat er mit Eifer gut zwanzig Arbeitsblätter zur Einführung des Einmaleins durchgearbeitet; und im Februar begann er mit weiterführenden Arbeitsblättern zur Multiplikation, mit Themen wie Kommutativ- und Assoziativgesetz, Teilbarkeitsregeln, u.ä. – Interessant finde ich das vor dem Hintergrund der Beobachtung von Rebeca Wild, dass Kinder normalerweise von sich aus Materialien und Tätigkeiten aussuchen, die ihrem eigentlichen Entwicklungsstand entsprechen. Offenbar hatte dieser Bub das Bedürfnis, im Rechnen nochmals ganz von vorne anzufangen, und holt jetzt etwa alle zwei Monate ein Schuljahr nach.

Eine Zeitlang war die Küche gross in Mode: es gefiel den Kindern sehr, Süssigkeiten oder Erfrischungsgetränke herzustellen (und sie lernten dabei auch, Rezepte zu lesen und Zutaten abzuwägen).

Zwei oder drei Kinder fanden Interesse am Lesen der Bibel. Wir hatten als Hilfe dazu kleine Arbeitshefte mit Fragen und Anregungen vorbereitet, die sie mit Interesse durcharbeiteten. Ein anderer Bub begann, die illustrierte Kinderbibel von vorne bis hinten durchzulesen. (Bis Ende Februar kam er etwa bis zur Mitte.)

Während den letzten Ferienwochen entdeckten die Kinder in unserer Bibliothek ein Bastelbuch, aus dem sie immer neue Vorschläge ausprobieren wollten. (Während des Schuljahres hatten sie nie aus eigenem Interesse ein Buch zum Lesen aus der Bibliothek genommen!) Auch hier sind sie sehr auf unsere Hilfe angewiesen, denn sie haben grösste Schwierigkeiten, selber eine Anleitung zu lesen und zu verstehen. Aber immerhin sind sie hier ganz bei der Sache: mehrere Tage lang haben sie jeweils fast den ganzen Morgen mit Basteln verbracht. Leider sind sie noch nicht so weit, etwas Eigenes zu gestalten. Eines Morgens z.B. bastelten sie Masken aus Karton. Alle Kinder zeichneten sklavisch die im Buch abgebildete Maske ab; kein einziges kam auf die Idee, eine eigene Maske zu entwerfen. Die Kreativität ist anscheinend jene Charaktereigenschaft, die in der Schule zuerst und am gründlichsten stirbt … und dann kaum je wieder zum Leben zu erwecken ist, wenn Gott nicht ein Wunder tut.

Dafür staunten wir auf einem Ausflug über die sportlichen Leistungen der Kinder. Wir hatten eine Schnitzeljagd veranstaltet, die zwei Stunden dauerte. Die Kinder waren danach ziemlich erschöpft. Aber auf dem Heimweg kamen wir an der Motocrossbahn vorbei (das ist hier die neuste Attraktion; es werden aber nur selten Rennen abgehalten darauf), und einige Kinder sagten: „Wir wollen ein Rennen machen!“ – „Ja, ich auch, ich auch!“ riefen alle anderen. – Tatsächlich hielten bis auf zwei Kinder alle durch, rennend auf der etwa einen Kilometer langen Rundstrecke mit vielen Hindernissen. Die Kleinsten hatten die meiste Ausdauer! (Und das auf einer Höhe von 3600 Metern über Meer.)

Bei anderen Ausflügen lernten die Kinder u.a. Kartenlesen, Pflanzen und Tiere der Gegend, usw. An einem Tag veranstalteten wir einen Sportwettkampf mit Schnellauf, Weitsprung, Hindernisrennen, Zielwurf usw. Die Kinder mussten dabei selber die Zeiten und Distanzen messen und aufschreiben. Das trug dazu bei, dass sie aus eigener Erfahrung die Masseinheiten kennenlernten, mit denen sie sonst nur theoretisch rechnen lernten.

Die Schule von Rebeca Wild unternimmt auch Ausflüge an Arbeitsplätze des täglichen Lebens wie Werkstätten, Fabriken usw. Leider konnten wir das nicht tun, da wir noch keine Berufsleute oder Unternehmen gefunden haben, die bereit wären, ihre Türen zu öffnen für eine Gruppe von Kindern.

Beim Malen der Theaterkulisse

Ein anderes Projekt, das Anklang fand, war das Theater. Mit einer Gruppe von sechs interessierten Kindern hatten wir zuerst einfach einige Theaterübungen und Improvisationen gemacht. Als ich sie fragte, ob sie gerne ein „richtiges“ Theaterstück einüben wollten, waren alle begeistert. Wir übten dann die biblische Geschichte von Esther, die wir am Schlussabend den Eltern vorführten. (An diesem Abend kamen immerhin einige Eltern, die uns noch nie zuvor besucht hatten.)

 

Theaterprobe

Noch haben wir nicht viele Rückmeldungen darüber, wie es den Kindern jetzt mit dem Neubeginn der Schule geht. Mit Ausnahme der vielsagenden Antwort eines Buben, den meine Frau nach der ersten Schulwoche fragte, was sie diese Woche in der Schule gemacht hätten: „Nichts!“

Ist die „aktive Schule“ christlich?

Da ich mit einem christlichen Hintergrund schreibe und arbeite, musste ich auch der Frage nachgehen, wie weit das Konzept der aktiven Schule „christlich“ ist. Die christliche Homeschool-Szene, soweit ich sie beobachten kann, scheint sich weitgehend von den Ideen Raymond Moores abgewandt und einem schulbuchmässigen Vorgehen nach starrem Lehrplan zugewandt zu haben. Bildungsformen wie die „aktive Schule“ scheinen dagegen vor allem in „alternativen“, „grünen“ und „New-Age“-Kreisen Anklang zu finden. In einem Internetartikel wurde die Auffassung vertreten, einem Kind zu erlauben, seinen Interessen nachzugehen, stünde einer christlichen Disziplin entgegen. Andere Evangelikale haben schon argumentiert, der in Römer 13,1-5 verlangte Gehorsam gegenüber der Regierung schliesse ein, die Kinder in eine staatliche (oder zumindest vom Staat anerkannte) Schule zu schicken. Was sagt die Bibel dazu?

– Die Regierung ist nach Römer 13,1-5 von Gott dazu eingesetzt, Übeltäter zu bestrafen und jene zu loben, die das Gute tun – aber nicht dazu, Kinder zu erziehen. Zur Kindererziehung sind ganz eindeutig die Eltern beauftragt, nicht der Staat (siehe z.B. 2.Mose 20,12, 5.Mose 6,6-7, Sprüche 1,8, 4,1-4 u.v.a, Epheser 6,1-4, Kolosser 3,20-21). Eltern, die ihre Kinder selber erziehen, erfüllen damit auf vollkommene Weise den Auftrag Gottes, tun also damit etwas Gutes und sollten deshalb von der Regierung erst recht gelobt und unterstützt werden. Dasselbe gilt für Schulen, die Kinder aus christlichen Familien im Auftrag deren Eltern nach christlichen Prinzipien ausbilden – auch (oder erst recht) wenn sie zu diesem Zweck ihre eigenen Lehrpläne und Methoden aufstellen, statt einfach die staatlichen zu übernehmen.

– Was die Kindererziehung in der Familie betrifft, so soll diese „in Disziplin und Ermahnung des Herrn“ erfolgen (Epheser 6,4). Derselbe Vers sagt aber auch: „Ihr Eltern, reizt eure Kinder nicht zum Zorn.“ Oder ähnlich in Kolosser 3,21: „Ihr Eltern, reizt eure Kinder nicht (wörtlich: zur Eifersucht), damit sie nicht mutlos werden.“ – Wenn Kinder einer Unterrichtsform ausgesetzt werden, die ihnen wesensmässig nicht entspricht, und sie dann noch dafür bestraft werden, dass sie dieser Unterrichtsform nicht folgen können, geschieht dann nicht genau das: sie werden zum Zorn und zur Eifersucht gereizt, und im Endeffekt entmutigt?

Jesus sagte: „Ich versichere euch, wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt wie dieses Kind, der ist der Grösste im Himmelreich.“ (Matthäus 18,3-4). – Bedeutet das nicht für die Pädagogik, dass Kinder nicht gezwungen werden sollten, wie Erwachsene zu denken; sondern dass im Gegenteil die Erwachsenen sich bemühen („erniedrigen“) sollen, das Denken der Kinder zu verstehen, und ihnen Gelegenheit geben sollen, die Dinge ihrem kindlichen Denken gemäss zu lernen?

Natürlich bedeutet das nicht, Kinder seien an sich gut und man solle sie nur gewähren lassen. Im geistlichen und moralischen Bereich brauchen sie eine klare Führung. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ihre Lernweise und Lerninhalte starr vorgeschrieben oder einem „erwachsenen“ Muster angeglichen werden müssten.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Gott selber an mehreren Stellen sagt, dass er von uns Menschen gesucht werden möchte:
„Sucht den Herrn, solange er sich finden lässt; ruft zu ihm, jetzt, da er nahe ist!“ (Jesaja 55,6)
„Ich habe lieb, die mich lieben; und die nach mir suchen, werden mich finden.“ (Sprüche 8,17)
„Bittet, so wird euch gegeben; sucht, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch geöffnet werden!“ (Matthäus 7,7)

Gerade die Erkenntnis Gottes kann nicht einem Menschen passiv eingetrichtert werden wie ein Schulstoff; sie muss aktiv gesucht und „entdeckt“ werden. Können wir nicht daraus schliessen, dass Gott selber eine Vorliebe hat für die „aktive Methode“?

Wir könnten auch die Lehrmethoden Jesu untersuchen. Sicher, er hat ab und zu seinen Jüngern Lehrvorträge gehalten. Öfter aber hat er ihnen nur Gedankenanstösse gegeben (z.B. in Form von Gleichnissen) und wartete dann darauf, dass sie selber ihn um nähere Erklärungen baten. Und noch öfter hat er einfach mit ihnen zusammen gelebt, ihnen durch sein praktisches Handeln ein Vorbild gegeben, oder sie zu eigenen Erfahrungen herausgefordert.

Interessant ist auch zu sehen, was in der Bibel nicht geschrieben steht, obwohl es von vielen heutigen Christen als selbstverständlich und „christlich“ angesehen wird. Z.B. steht in der Bibel nirgends, Kinder müssten zur Schule gehen. Ebensowenig steht in der Bibel, die Unterweisung von Kindern (sei es in einer Schule oder in der Familie) müsse einem Lehrplan unterworfen sein, oder Kinder müssten in einem bestimmten Alter bestimmte Inhalte lernen. Die damaligen Lehrer (z.B. die Rabbiner) stellten durchaus solche Pläne auf; aber bezeichnenderweise finden wir in der Bibel nichts davon.

Nochmals zum Thema der Disziplin und Autorität. In der traditionellen Schule beruht die Diszplin weitgehend auf der persönlichen und willkürlichen Autorität des Lehrers: Wenn der Lehrer entscheidet, dass jetzt alle auf Seite 57 im Lesebuch lesen müssen, dann müssen alle Kinder das tun – obwohl ein Kind viel mehr an der Geschichte auf Seite 142 interessiert wäre, und ein anderes viel lieber Blumen abzeichnen würde. Es gibt in dieser Situation keine rationale Begründung dafür, warum es für alle Kinder (angeblich) das Beste sei, genau in diesem Moment genau die Seite 57 zu lesen – wäre nicht die Seite 142 oder das Abzeichnen von Blumen genauso gut?
In der aktiven Schule hingegen beruht die Disziplin auf der zum voraus festgelegten Hausordnung (die sowohl für die Schüler wie auch für die Lehrer gilt), und auf den „Spielregeln“ zum Gebrauch der Spiele und Materialien. Das ist ein objektiver Massstab, der objektiv überprüft werden kann – weshalb z.B. auch die Kinder einander gegenseitig überprüfen können und deshalb in vielen Situationen die Anwesenheit eines erwachsenen Betreuers gar nicht notwendig ist.
Ich behaupte, dass das ein grundlegend christlich inspirierter Gedanke ist (auch wenn er von Nichtchristen vertreten wird). Gottes Autorität ist nicht willkürlich, sondern er hat sich selber auf ein schriftliches „Gesetz“ festgelegt. Ebenso darf auch ein christlicher Leiter (Vater, Lehrer, …) nicht willkürlich „regieren“, sondern soll am Wort Gottes geprüft werden: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29). Gerade in einem Land wie Perú, wo bis heute auf allen Ebenen die Willkür herrscht, ist es so wichtig, den Kindern beizubringen, dass Gott nicht möchte, dass wir einer Willkürherrschaft unterworfen sind; sondern dass es absolute, unumstössliche Gebote gibt, denen selbst der Staatspräsident (und auch der Vater und der Lehrer…) gehorchen muss. Und dass innerhalb des Rahmens dieser Gebote Gott uns eine grosse Freiheit gibt. Und ausserdem, dass wir verantwortlich sind, Entscheidungen zu treffen (und auch deren Folgen zu tragen…), statt immer andere Menschen über unser Leben entscheiden zu lassen (und dann über die Folgen zu klagen…)
Natürlich stellt sich dann die Frage, wer ermächtigt ist, die Gesetze aufzustellen. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns von nichtchristlichen Gruppen und Institutionen, indem wir unsere Hausordnung und unsere „Gesetze“ ganz klar auf das Wort Gottes gründen und immer klarstellen, dass die Gebote Gottes über allen von Menschen aufgestellten Regeln und Gesetzen stehen.

Ich glaube also, dass der Grundgedanke der „aktiven Schule“ (sei es als Schule oder – noch besser – als Familie) durchaus mit einem christlichen Leben vereinbar ist (jedenfalls besser als die Idee der Staatsschule). Und ich bin betrübt und beschämt darüber, dass diese Idee bisher fast ausschliesslich von Nichtchristen vertreten und verwirklicht wird (die damit übrigens ein sehr gutes Beispiel geben), während die meisten Christen, die ich kenne, mit dem Strom des staatlichen Systems mitschwimmen und Alternativen bekämpfen. Hier wäre eine Gelegenheit, Pioniergeist zu zeigen…